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PROPAGANDA/1418: Aufstände in arabischer Welt auch gegen westliche Regierungen gerichtet (SB)



Nein, zu welch tiefschürfender Erkenntnis sogenannte Politmagazine mitunter gelangen: "EU misst Despoten mit zweierlei Maß", titelt Spiegel Online am Dienstag (1.2.2011) seinen Bericht, in dem das Verhältnis der EU zum ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak mit dem der EU zum weißrussischen Amtskollegen Alexander Lukaschenko kontrastiert wird. Während Ägypten von der EU 150 Millionen Euro jährlich erhalte, hätten die Außenminister am Dienstag Sanktionen gegen Weißrußlands Präsidenten und 150 weitere Repräsentanten des osteuropäischen Landes beschlossen, so die vermeintlich kritische Anmerkung.

Das ist allerdings ein Widerspruch, der nicht nur im Umgang der EU mit diesen beiden Staatsmännern deutlich wird, sondern sich grundsätzlich an der Hegemonialpolitik der Europäischen Union festmachen läßt. Zum größten Wirtschaftsraum der Welt wollte sie in ihrer vor mehr als zehn Jahren beschlossenen Lissabon-Strategie aufsteigen - daß dabei andere Staaten auf der Strecke bleiben würden, interessierte niemanden.

Der Trend setzte bereits in den neunziger Jahren auf dem Balkan ein. Inzwischen wird sich die vorfiletierte Region im Süden Europas Stück für Stück einverleibt. Sudan, der flächengrößte Staat Afrikas, wird zerschlagen, die Sanktionen gegen Kuba beibehalten und Indien als asiatisches Gegengewicht zu China in Stellung gebracht. Hegemonialpolitik vom Feinsten, da werden gern die nützlichen Despoten mit Waffen versorgt, damit sie das Volk in Schach halten - und gegenüber allen der Expansion im Weg stehenden Despoten wird das Kriegsbeil ausgegraben. Je nachdem, wie es in die eigenen Pläne paßt. Ethik und Moral? Sie sind Futter für's Volk, aber doch nichts, wovon sich Herrschende ernährten!

Widersprüche zuhauf. Wenn dem Spiegel bisher nicht aufgefallen sein sollte, daß die EU-Vertreter mit gespaltener Zunge sprechen und Despoten unterschiedlich behandeln, dann aus dem Grund, weil das Magazin auf das Wohlwollen der EU-Mächtigen angewiesen ist und es sich nicht mit ihnen verscherzen will. Kritik bitte nur in Maßen. Also kolportiert das Magazin zum Ausklang seines vermeintlich kritischen Berichts, was ihm ein "hochrangiger EU-Diplomat" ins Mikro diktiert hat: "Wenn wir die Menschenrechte zum Maßstab aller Dinge machen würden (...), dann müssten wir unsere diplomatischen Beziehungen mit der halben Welt einstellen."

Seit wann sind die Menschenrechte nicht das Maß aller Dinge? Darauf geht der Spiegel gar nicht erst ein. Als vierte Gewalt "des" Staates erfüllt er eine ordnungsstabilisierende Funktion im weitgehend gleichgeschalteten Mediengeschäft. Da darf man schon mal den Finger in die Wunde des stetig schwärenden Widerspruchs der EU-Hegemonialpolitik legen, aber bitte nicht zu tief und nicht zu lange. Man könnte sich ja schmutzig machen.

Die EU befindet sich zweifellos in dem Dilemma, daß sie in Nordafrika Despoten hofiert hat, um erstens ein vorgelagertes Bollwerk zur Abwehr von Armuts- und Hungerflüchtlingen aufzubauen und zweitens jederzeit auf ein dienstbares Heer an Billigarbeitskräften zugreifen zu können. Privilegierte Partnerschaft nennt sich die korrupte Kooperation der EU mit Despoten aus der arabischen Welt.

Nun bekommen die Menschen in diesen Ländern deutlicher denn je zu spüren, daß Armut und Hunger, die sie bislang überwiegend den schwarzafrikanischen Staaten im Süden zugeordnet hatten, in breiter Front auch bei ihnen Einzug halten. Die Proteste in Algerien, Tunesien, Ägypten, Jordanien, Jemen und weiteren Staaten gehen vor allem auf die allgemeine Verschlechterung der Lebensverhältnisse, insbesondere jedoch auf die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln zurück. Nun wissen die EU-Oberen nicht, woher der Wind weht und in welche Richtung sie ihr blau-gelbes Fähnchen drehen sollen, damit sie es sich nicht mit den künftigen Machthabern verscherzen.

Vielleicht ist es egal, wie sich das Fähnchen dreht. Beispielsweise dürften viele der Waffen, mit denen die Aufständischen in Ägypten erschossen wurden, zu denen gehören, die Deutschland geliefert hat - nur ein Aspekt der Kollaboration der Herrschenden. Möglicherweise wird das von den Angehörigen und Freunden, die jetzt auf die Barrikaden gehen, nicht vergessen. Die aktuellen Aufstände entlarven keineswegs nur ihre eigenen Staatsführer als Despoten, wie es Spiegel Online und andere Medien vorgaukeln, sondern ebenso die Strippenzieher in Berlin, Brüssel, Paris, London und Washington. Wir befinden uns in einer historischen Phase, in der den Herrschenden der arabischen und der westlichen Welt die Maske vom Gesicht gerissen wird. Vielleicht nur für einen Moment, aber der könnte genügen, um auch hierzulande den Widerstandsgeist gegen die in alle Lebensbereiche getriebene Verfügungsgewalt zu wecken.

1. Februar 2011