Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1404: Dominik Brunner ... schließt Zivilcourage Wehrhaftigkeit aus? (SB)



Von Helden ist in diesen Tagen häufig die Rede, und es gibt allen Anlaß, die Glorifizierung hochbezahlter Sportler und den damit genährten Nationalmythos in Frage zu stellen. Der Fall des am 12. September 2009 auf einem Münchner S-Bahnhof zu Tode getretenen Dominik Brunner ist anders gelagert. Daß er zum "Held von Solln" wurde, ist seinem Einsatz für den Schutz offensichtlich unterlegener Jugendlicher vor Schlägern geschuldet, den er nicht überlebte. Wie immer man die anschließende Würdigung seiner Person, die vielfältige Formen annahm und zweifellos politisch instrumentalisiert wurde, auch bewerten mag, sein Eintreten für Schwächere in einer konkreten Bedrohungssituation war frei von dem Kalkül, sich diese Lorbeeren zu verdienen. Das Kalkül lag auf der Seite derjenigen, die sich wegduckten, als die Konfrontation an der Münchner S-Bahn-Haltestelle Donnersbergerbrücke begann, sich im Zug fortsetzte und auf der S-Bahn-Station Solln ihr tragisches Ende nahm. Wer erst darüber nachdenkt, ob er sich in Gefahr bringen soll, wird dies desto weniger riskieren, je länger er abwartet.

Die am Beispiel dieses Falles, der nun vor dem Münchner Landgericht verhandelt wird, entzündete Debatte um das Thema Zivilcourage enthebt engagierte Bürger nicht des Problems, im Ernstfall ganz auf sich gestellt zu sein. Wer sich nicht hinter dem anderen verstecken will, weil die Verantwortung für die bedrohte Person von einer Unmittelbarkeit ist, als handle es sich bei ihr um einen nahen Angehörigen, der wagt sich auch in eine Auseinandersetzung, von der er nicht weiß, ob er sie siegreich überstehen wird. Der Mut, von dem die Rede ist, erfüllt das Ideal des Zivilen in seinem besten, demokratischen und humanistischen Sinne, weil er sich nicht von ad hoc gegebener Überlegenheit abhängig macht. Von Zivilcourage kann nur gesprochen werden, wenn die Chance, dabei hinsichtlich des eigenen Ansehens, der beruflichen Karriere oder gar der körperlichen Gesundheit zu Schaden zu kommen, nicht auszuschließen ist. Das Zivile betrifft hier nicht nur den Ausschluß des Militärischen, also des staatlich organisierten Gewaltmittels, sondern die Autonomie sozialen Handelns, das überall dort erforderlich ist, wo administrative Regulation nicht hinreicht.

Dies muß keinen Mangel oder Notstand bezeichnen, sondern sollte als Freiraum der Selbstorganisation auf kleinstem Nenner wertgeschätzt werden. Wo Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Bekanntwerden der Tat von Solln den verstärkten Einsatz von Videoüberwachung verlangte, da scheint das Extrem eines Sicherheitsstaates auf, dessen bereits fortgeschrittene Entwicklung viel zu wenig durch den Anspruch des Bürgers auf selbstständiges Handeln gekontert wird. Damit ist nicht die Aufstellung von Bürgermilizen oder eine neue Blockwartkultur gemeint, sondern die schlichte allgemeinmenschliche Solidarität, ohne die es keine zivilisatorische Entwicklung gegeben hätte. Ebensowenig gemeint ist die Freiheitsidee eines Liberalismus, dem die Freiheit des Kapitals und die Sicherheit des Privateigentums so heilig ist, daß seine Parteigänger nicht daran teilhabende Menschen sehenden Auges verelenden und vorsorglich unterdrücken lassen. Es ist kein Zufall, daß das neoliberale Primat der Eigenverantwortung unter Eigentumsvorbehalt gestellt wird und keinesfalls als soziale Verantwortung für den anderen mißverstanden werden sollte.

Dominik Brunner war als Mensch bekannt, der sich in vielerlei Belangen für seine Mitmenschen einsetzte und der nicht das Problem hatte, sich darauf etwas einzubilden. Zudem bemühte er sich, wie sein Interesse für den Boxsport belegt, dem er für einige Zeit aktiv nachging, um einen Umgang mit dem Problem der Gewalt, der die körperliche Erfahrung nicht ausschließt. Nachdem dieses Detail seiner Biografie und die Aussage des Fahrers der S-Bahn, Brunner habe auf dem Bahnsteig als erster zugeschlagen, bekannt wurden, trat ein Freund den daraufhin anwachsenden Mutmaßungen mit der Erklärung entgegen, daß Brunner "nie aggressiv, cholerisch oder gewaltbereit gewesen" sei. Er habe stets vermitteln wollen und das Training im Boxclub Straubing aufgegeben, als dort immer mehr junge Männer eingetreten seien, die nur lernen wollten, wie man sich prügelt.

Claudia Keller wirft im Berliner Tagesspiegel, der aus aktuellem Anlaß über Brunners boxerische Erfahrung berichtet, angesichts dessen, daß er häufiger Zuschauer bei Kickboxkämpfen gewesen sei, die Frage auf: "Macht es den Helden zu einem, der mit schuld ist an seinem Tod, weil er solchen Kämpfen hier zugeschaut hat?" [1] Ihren Recherchen nach scheinen die Angehörigen und Freunde des Verstorbenen es nicht allzugern zu sehen, wenn nach diesem Teil seines Lebens gefragt wird: "Kickboxen hat keinen guten Ruf, klingt nach Milieu und brachialer Gewalt. Wer Dominik Brunner damit in Zusammenhang bringt, verleumdet ihn, sagen seine Freunde und seine Nachlassverwalter". Wenn die beiden des Mordes an Brunner angeklagten Jugendlichen nun erklären, daß ihr Opfer zuerst zugeschlagen habe, steht ihre Aussage gegen die Behauptung der Staatsanwaltschaft, daß Brunner sich mit einem Faustschlag ins Gesicht eines der beiden Angreifer lediglich verteidigt habe.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine boxerische Ausbildung, auch wenn sie sich noch im Anfangsstadium befand, wie ein Boxtrainer bezeugt, bei dem Brunner einige Probestunden genommen habe, als Entlastung für die Angeklagten. Der Verlauf der Auseinandersetzung, in der Brunner sehr schnell zu Boden ging, um schließlich von den beiden alkoholisierten Jugendlichen mit Schlägen und Tritten so schwer verletzt zu werden, daß er bald darauf starb, spricht jedoch nicht dafür, daß das Opfer einen Vorteil aus seiner Boxerfahrung ziehen konnte. Plausibel erscheint jedoch, daß er sich aufgrund der Selbstsicherheit, die er aus dieser Ausbildung zog, überhaupt auf eine körperliche Konfrontation mit den zwei 17- und 18-jährigen Hauptangeklagten eingelassen hat.

Mehr als das läßt sich über den Einfluß des Boxsports auf den Verlauf der tödlich verlaufenden Auseinandersetzung nicht sagen, und das scheint viel Raum für Spekulationen zu eröffnen. Anstatt dem offen zu Tage liegenden Sachverhalt, die eindeutige und andauernde Aggression der anfangs drei, später zwei Jugendlichen, vorrangige Gültigkeit zu verleihen, wird der Eindruck erweckt, aufgrund Brunners Interesse am Boxsport könne die Auseinandersetzung ganz anders verlaufen sein als bisher angenommen. Bei mehreren Gerichtsurteilen wurde Boxern und Kampfsportlern zur Last gelegt, daß ihre Hände Waffen seien und sie diese daher niemals stärker, als es der Aggressor getan hat, zuschlagen dürften. Auf eine Aktion müsse stets eine entsprechende Reaktion erfolgen, ansonsten mache sich der ausgebildete Verteidiger eines unverhältnismäßigen Gewalteinsatzes schuldig.

Das mag sich in der Theorie gut anhören, impliziert jedoch das Risiko, bei einer Attacke ausgeschaltet zu werden, bevor eine Reaktion überhaupt erfolgen kann. Schon formallogisch macht diese Definition von der Verhältnismäßigkeit eingesetzter Mittel keinen Sinn, müßte ein tödlicher Angriff doch immer zu Lasten des Angegriffenen gehen. Im Fall Brunners wäre der Versuch, einen Angreifer auszuschalten, um dem andern überhaupt gewachsen zu sein, allemal vernünftig gewesen, wie der fatale Ausgang der Konfrontation zeigt.

Auf die beim Thema Zivilcourage gestellte Frage, wie man sich in einer konkreten Gewaltsituation zu verhalten habe, kann es in Anbetracht der vielen Möglichkeiten, die den Verlauf einer körperlichen Konfrontation bestimmen, keine bündige Antwort geben. Sich nicht einzumischen, wenn ein eindeutiger Angriff auf offensichtlich Schwächere erfolgt, repräsentiert die Normalität einer Gesellschaft, in der das Übertrumpfen des anderen zur Maxime erfolgreicher Durchsetzung verabsolutiert wird. Potentielle Opfer zu schützen, indem man sich auf ihre Seite stellt, auch wenn man nicht die Mittel dazu hat, zeugt von großem Mut, ist aber aus naheliegenden Gründen eher die Ausnahme. Wer sich mit dem Problem körperlicher Gewalt auseinandersetzt, um auf solche Situationen vorbereitet zu sein, sollte dafür nicht auch noch in Mißkredit geraten oder gar verurteilt werden.

Das Schicksal Dominik Brunners zeugt davon, daß körperliche Wehrhaftigkeit selbst in einer von Sicherheitsstrukturen durchdrungenen Gesellschaft nicht überflüssig geworden ist. Wer Zivilcourage als bürgerliche Tugend propagiert, kann sich nicht damit begnügen, den Menschen einen Anruf bei der Polizei zu empfehlen und sie ansonsten abwarten zu lassen, bis diese eintrifft. Das staatliche Gewaltmonopol bietet in einer akuten Bedrohungslage nur selten Schutz, und nicht alle Angreifer lassen von ihren Opfern ab, nachdem die Polizei gerufen wurde, wissen sie doch, daß bis zu deren Eintreffen genügend Zeit bleibt, ihre Absicht zu Ende zu bringen. Brunner zum Vorbild für Zivilcourage zu erheben, weil sein Engagement nicht erfolgreich war, hieße den Anspruch auf wirksame Selbstverteidigung im öffentlichen Raum zu negieren. Wäre er so effizient gewesen, daß dies zu Lasten der beiden Angreifer gegangen wäre, dann hätte er nicht minder verdient, zum Helden erklärt zu werden. Woher der schlechte Ruf, der Kampfsportarten zugeschrieben wird, auch immer stammen mag, mit der Lebenswirklichkeit von Menschen, die sich ihnen aus Interesse an körperlicher Ertüchtigung und wirksamer Selbstverteidigung widmen, kann er nichts zu tun haben.

Fußnote:

[1] http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/der-held-muss-held-bleiben/1881038.html;jsessionid=539256C4E78FCB22F8FBA8FB28E085B6

13. Juli 2010