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PROPAGANDA/1395: Cem Özdemir beklagt mangelnde Neutralität des Free Gaza-Aktivismus (SB)



Lang, lang ist's her, daß die Grünen sich für nicht mehrheitsfähige Anliegen von Menschen verwendeten, einfach weil Solidarität mit Ausgebeuteten und Unterdrückten keine Frage gesellschaftlichen Vorteilsstrebens sein kann. Die Durchsetzung emanzipatorischer Ziele von der Erfolgsträchtigkeit des Unterfangens abhängig zu machen ist eine Rezeptur für Karrieristen, die, weil sie auf der Seite der Sieger stehen wollen, nicht wirklich etwas für Verlierer übrig haben. Wer schon so weit auf diesem Weg gekommen ist, daß er wie die Partei Die Grünen bereits Koalitionär in einer Bundesregierung war, dem ist das Kalkül, sich alle Fluchtmöglichkeiten offen zu halten und sich einer Sache niemals so entschieden zu verschreiben, daß man alles dafür in die Waagschale wirft, in Fleisch und Blut übergegangen.

Befragt zum Thema des israelischen Angriffs auf die Gaza Freedom-Flottille sprach sich der Parteivorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, im Deutschlandfunk (05.06.2010) zwar für die Aufhebung der Blockade Gaza aus. Ansonsten jedoch suchte er Zuflucht bei der apologetischen Lesart, laut der die israelische Regierung in die "Falle" interessierter Kräfte insbesondere auf türkischer Seite gegangen sei. Diese wären, um die an der Organisation der Flottille beteiligte Hilfsorganisation IHH gruppiert, von sinistren politischen Motiven getrieben. Ihnen lastete Özdemir an, nicht "neutral" an die Sache herangegangen zu sein, sondern die Absicht zu verfolgen, "Israel vorzuführen". Als Mensch unbeteiligt zu bleiben und nicht Partei zu ergreifen, wenn anderen Menschen Gewalt angetan wird, wird immer dann gefordert, wenn es die eigenen Bündnisverhältnisse gebieten. Stellungnahmen grüner Politiker etwa im Fall des Jugoslawienkriegs oder der orangenen Revolution in der Ukraine fielen ganz und gar nicht "neutral" aus, sie waren, da es sich stets auszahlt, mit der Meute zu heulen, durchaus parteiisch.

Schon vor dem Interview mit Cem Özdemir hatte der Deutschlandfunk in einem redaktionellen Beitrag zwischen einer rein menschenrechtlichen und einer politischen Motivation der Aktivistinnen und Aktivisten differenziert. Letzteres wurde als unzulässig, da Israel insgesamt schadende Form des Protestes gebrandmarkt und bei den Mitgliedern der Partei die Linke wie der türkischen Wohltätigkeitsorganisation IHH verortet. Harmlosigkeit ist das Gebot der Stunde, denn zivilgesellschaftlicher Protest soll sich, wenn er nicht wie im Fall der bunten Revolutionen herrschenden Interessen dient, keinesfalls anmaßen, auf ernstzunehmende Weise ins Weltgetriebe einzugreifen.

Insbesondere der von Aktivisten an Bord der Mavi Marmara gegen die angreifenden israelischen Soldaten ausgehende Widerstand war Özdemir Anlaß, die Sache der Gaza Freedom-Flottille in Mißkredit zu ziehen. Unter Verweis auf seine eigene Beteiligung an Aktionen gegen Mittelstreckenraketen in den 1980er Jahren erklärte er, daß es auf Demonstrationen früher am wichtigsten gewesen wäre, keinen Widerstand zu leisten. "Wenn es sich hier um eine Aktion des zivilen Ungehorsams handeln sollte gegen Israel und die Blockade des Gazastreifens, dann waren das die falschen Leute und die falschen Mittel", so Özdemir in Verkennung der Tatsache, daß es sich gar nicht um "zivilen Ungehorsam" handeln kann, sich gegen die Übernahme eines Schiffs in internationalen Gewässern zur Wehr zu setzen.

Im Unterschied zu Sitzblockaden vor den Toren westdeutscher Raketenbasen der US-Armee, die von Staatsorganen der für diesen Bereich zuständigen Regierung geräumt wurden, waren die Aktivisten der Gaza Freedom-Flottille mit einem Angriff von Soldaten in internationalen Gewässern konfrontiert. Anstatt der Macht der Gewehrläufe "Gehorsam" zu leisten, konnten sie sich voll und ganz auf die Legalität ihres Widerstands berufen, zumal sie es mit Streitkräften zu tun hatten, von denen allgemein bekannt ist, daß ihre Schwelle zum Einsatz von Schußwaffen auch gegen Unbewaffnete nicht sehr hoch liegt. Sich zu wehren, um zumindest den Versuch zu unternehmen, die Übernahme des Schiffs zu verhindern, war daher nicht weniger legitim als sich darauf zu verlassen, daß die israelischen Soldaten keine gezielten Angriffe auf die Passagiere unternähmen. Allein die Tatsache, daß die Menschen an Bord der Gaza Freedom-Flottille nach Israel verschleppt wurden, läßt die Klage Özdemirs über den angeblich unzulässigen Widerstand, der auch noch dazu geführt habe, daß ein hochgerüsteter Staat in die "Falle" einer zwar großen, aber vergleichslos schwachen Schar von Aktivistinnen und Aktivisten gegangen wäre, nicht als die von ihm verlangte Neutralität, sondern als professionelle Parteinahme für die Seite des Stärkeren erkennen.

Seit die Partei Die Grünen den Überfall der NATO auf Jugoslawien unterstützt hat, sind alle Hemmschwellen gefallen. Die ehemals linksalternativ Bewegten sind Kriegspartei in Afghanistan und heißen Israels Besatzungspolitik zwar nicht explizit gut, verurteilen sie aber auch nicht eindeutig. Sie sind an der von Bundeskanzlerin Angela Merkel verfügten Staatsräson zugunsten Israels nicht weniger beteiligt als die Regierungsparteien. Ihr Eintreten für herrschende Interessen ist ohne Fehl und Tadel, geht ihnen doch auch im Feld sozialer Widersprüche jegliche Radikalität ab, die in Anbetracht der massiven Umverteilung von unten nach oben geboten wäre. Von daher ist Cem Özdemir gut geeignet, die Vorgänge um die Gaza Freedom-Flottille so zu erklären, daß kein Zuhörer auf den dummen Gedanken kommt, die Politik der Bundesregierung im Nahen und Mittleren Osten einer kritischen Untersuchung zu unterziehen.

Während das irische Schiff Rachel Corrie, benannt nach einer US-Aktivistin, die ihren Einsatz gegen die Zerstörung palästinensischer Häuser mit dem Leben bezahlte, einen weiteren Anlauf unternimmt, Israel zu veranlassen, die menschenfeindliche Kollektivbestrafung der Bevölkerung Gazas durch die völkerrechtswidrige Blockade des Gebiets zu beenden, räsonieren deutsche Politiker über die Verwerflichkeit eines zivilgesellschaftlichen Engagements, das ihnen zu radikal ist, weil es wirklich etwas bewegen könnte. Das Beispiel könnte Schule machen und die eigene Bevölkerung veranlassen, bewährte Traditionen des zivilen Protests, Ungehorsams und Widerstands aufleben zu lassen. An Anlässen dazu mangelt es nicht. Allein die ihnen mit allen Mitteln eingebleute Logik totaler Ökonomisierung, laut der sich auszahlen muß, wenn man investiert, hindert die Menschen daran, den ersten Schritt zu tun. Die Position der Schwäche zu nutzen, um ein Streitpotential zu mobilisieren, das sich nicht durch geringe Zugständnisse der herrschenden Ordnung zwecks Erhalt derselben beschwichtigen läßt, sondern seine Stärke aus der Ungebrochenheit des ursprünglichen Anliegens zieht, muß in Zeiten absoluter Anpassungsbereitschaft und Erfolgsorientierung schon als Geheimrezeptur bezeichnet werden.

5. Juni 2010