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PROPAGANDA/1387: Bösartige Märchenstunde über die Neugründung Haitis (SB)



Nach dem schweren Erdbeben vom 12. Januar, bei dem in Haiti mindestens 250.000 Menschen starben, fast zwei Millionen ihr Obdach verloren und 320.000 Gebäude zerstört wurden, machte das Wort die Runde, das Land müsse bei Null anfangen. Andererseits berge eine Katastrophe dieses Ausmaßes die Chance, einen gesellschaftlichen Neubeginn herbeizuführen und Haiti von Grund auf anders wiederaufzubauen. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, Bill Clinton als UNO-Sondergesandter für Haiti, US-Außenministerin Hillary Clinton und der haitianische Präsident René Préval beschworen die "Stunde Null" samt dem neuen Haiti, das daraus hervorgehen könne und müsse. Von den Medien begeistert aufgegriffen, verwandelte dieses hoffnungsgetragene Konstrukt das verheerende Desaster über Nacht in den euphorisch vorgetragenen Aufruf, nun gelte es, die Ärmel hochzukrempeln, zuzupacken und aufzubauen, um den Phoenix aus der Asche hervorzuzaubern.

Die Kampagne appellierte erfolgreich an den mit ihr korrespondierenden menschlichen Alltagsverstand, der angesichts jedweder Problemlage, die ihm über den Kopf zu wachsen droht, seine Zuflucht in dem bloßen Versprechen eines möglichen Neubeginns sucht und allen Ernstes meint, daß von morgen an alles besser werde. Wie gern vergißt man dabei, wie oft man mit eben diesem Vorsatz bereits gescheitert ist, und meidet die Konfrontation mit dem Verhängnis, weil diese gleichbedeutend mit dem furchterregenden Schritt wäre, sich mit dem Übermächtigen anzulegen.

Sofern man selber kein Haitianer ist, hört sich die Rezeptur des Neuanfangs außerordentlich vielversprechend an, entbindet man sich doch mit ihrer Hilfe von der Teilnahme am Feldzug gegen das haitianische Elend und lastet die Verantwortung auf die dort lebende Bevölkerung um, die schließlich ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse. Die Regierung in Port-au-Prince solle auf dem Fahrersitz Platz nehmen und den Wiederaufbauprozeß steuern, bediente sich Ban Ki Moon eines kurzschlüssigen Bildes, das offenbar gerade wegen seiner Beschränktheit weithin kolportiert wurde. Welches Fahrzeug der haitianische Staatschef manövrieren soll, blieb tunlichst ausgeblendet, drohte man doch andernfalls über die Frage zu stolpern, welche einheimischen Kräfte und ausländischen Mächte von den gesellschaftlichen Verhältnissen in diesem karibischen Armenhaus profitieren und sie folglich zu verewigen trachten.

Geht man der verführerischen Vorstellung, das Erdbeben habe für eine Tabula rasa gesorgt, auf den Grund, nimmt das finstere Szenario der Affirmation einer Naturkatastrophe Kontur an, die solcher Ideologie zufolge den Charakter einer Säuberung hat. Man muß nicht einmal bibelfest sein, um sich für die Idee zu erwärmen, eine höhere Gewalt habe die Haitianer für was auch immer gestraft und das Böse an diesem Ort gleichsam vom Antlitz der Erde getilgt. In säkularer Version derselben Entsorgungsphantasie kontrastiert man die übervölkerten, verwinkelten und von allen Begleiterscheinungen bitterster Not geprägten Elendsquartiere von Port-au-Prince vor dem Beben mit der Fiktion einer von Schutt und Trümmern gesäuberten leeren Fläche, auf der man vor dem geistigen Auge breite Straßen, schmucke Häuser, warengefüllte Ladengeschäfte, kulturelle Einrichtungen, eine blitzblanke Infrastruktur und viele weitere selbstverständliche Lebensumstände eines saturierten Bürgertums entstehen läßt.

Nicht umsonst gehörte die rasche Deportation Tausender obdachloser Hauptstadtbewohner in entfernte Regionen des Landes zu den wenigen energischen Amtshandlungen der desolaten Krisenreaktion seitens der haitianischen Regierung. Als setze man dem Elend ein Ende, indem man die Armen abschiebt und ihre erneute Zusammenballung verhindert, betrieb man die soziale Säuberung der in Trümmern liegenden Metropole und gab vor, mit der Verteilung der Hungernden und medizinisch Unversorgten über die Fläche des Landes eines der gravierendsten Probleme erfolgreich in Angriff genommen zu haben. So nahm man die Steilvorlage der Naturkatastrophe auf, sorgte durch unterlassene Soforthilfe dafür, daß die Hungerleider dezimiert wurden, und trug dafür Sorge, dem drohenden Aufbegehren der Alleingelassenen jetzt und künftig den Boden zu entziehen, indem man sie massenhaft aus Port-au-Prince verdrängte.

Im Windschatten der US-amerikanischen Invasion diskutierte man die Sicherheitslage, womit keineswegs die Sicherheit der verdurstenden, verhungernden oder an den erlittenen Verletzungen sterbenden Haitianer, sondern vielmehr deren als "Plünderung", "Raub" oder "Aufruhr" verteufelter Versuch zu überleben gemeint war. Bedroht fühlten sich auch die Helfer, wenn sie mit ihren viel zu wenigen Säcken Reis von der Menschenmenge überrannt wurden und das Weite suchten oder anstelle fehlender Lebensmittel, Medikamente und anderer dringend benötigter Güter auf Disziplin der vergeblich Schlangestehenden pochten.

Nach wie vor leben in Port-au-Prince mehr als eine Million Menschen in rund 800 Zeltlagern, die im Gefolge der Katastrophe in und um die Hauptstadt mehr oder weniger spontan entstanden sind. Einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung (11.04.10) zufolge gehen Vertreter von Hilfsorganisationen davon aus, daß mit der kommenden Regenzeit 200.000 Flüchtlinge von Überschwemmungen und Erdrutschen bedroht sind. Da die in die Hundertausende gehenden Zelte dem Wetter kaum mehr als höchstens sechs Monate standhalten dürften, stellt sich neben der sofortigen Evakuierung der akut gefährdeten Bereiche binnen kurzer Zeit das drängende Problem, für diese Menschen eine angemessene Unterkunft zu schaffen. Da das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geleistet wird, muß man davon ausgehen, daß das Provisorium in einen Dauerzustand übergeht. Von einem Wiederaufbau, heißt es seitens der deutschen Welthungerhilfe, könne bislang keine Rede sein, da nach wie vor Nothilfe koordiniert werde.

Wie unzureichend letzteres geschieht, zeigt die chaotische Umsiedlung von Obdachlosen in letzter Minute zu Beginn der Regenzeit. Internationale Hilfswerke werfen der Regierung Trödelei vor, da sie zwei Monate benötigt habe, um Ausweichplätze zu benennen. Im größten Lager der Hauptstadt auf dem früheren Golfplatz von Pétionville müssen 7.500 der derzeit rund 50.000 Obdachlosen an einen sicheren Ort gebracht werden, wozu den Hilfsorganisationen nur wenige Tage Zeit blieben.

Laut den Vereinten Nationen sind inzwischen etwa 90 Prozent der durch das Beben obdachlos gewordenen Menschen mit Zelten oder anderen Unterkünften ausgestattet. Daß diese Angaben zuverlässig sind, darf aus mehreren Gründen bezweifelt werden. Wie die Erfahrung der zurückliegenden drei Monate lehrt, war in vielen Fällen die tatsächliche Zahl der Bedürftigen gar nicht bekannt, so daß man willkürliche Schätzwerte zugrundelegte, die mitunter je nach Quelle erheblich voneinander abwichen. Auch täuscht der Eindruck, daß es sich bei den verteilten Zelten und den daraus gebildeten Zeltstädten um eine provisorische, aber befristet annehmbare Unterkunft handelt. Viele Menschen leben in Notbehausungen, die aus Plastikplanen und anderen Behelfsmitteln zusammengefügt worden sind und dem Regen kaum standhalten. Zudem sind Wasserversorgung, sanitäre Verhältnisse und Zugang zu Lebensmitteln je nach Lagerverwaltung in etlichen dokumentierten Fällen menschenunwürdig und bisweilen sogar als Ausbeutungssysteme zugunsten der Grundbesitzer organisiert.

Vor gut zwei Wochen versprach Haitis Präsident René Préval auf der Geberkonferenz von New York, die zu einem Wettstreit einander überbietender und erfahrungsgemäß in erheblichen Teilen fiktiver Zusagen in Höhe von knapp zehn Milliarden US-Dollar ausartete, eine "Neugründung Haitis". In Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft, so Prévals Vision, sollen Ineffizienz und Korruption überwunden werden, damit sich der Karibikstaat bis zum Jahr 2030 in den Rang eines aufstrebenden Schwellenlands erhebt. Extremer könnte der Mythos eines wundersamen Neubeginns nach der Naturkatastrophe die elenden Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit in Haiti kaum von ihren Ursachen und mithin jeder Aussicht auf eine spürbare Besserung entkoppeln.

14. April 2010