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PROPAGANDA/1339: EU-Funktionäre fürchten Legitimationsverlust (SB)



Wenn Politikern die Argumente ausgehen, greifen sie gerne zu der Ausrede eines Vermittlungsproblems, um die geringe Überzeugungskraft ihres Anliegens zu rationalisieren. Dies gilt auch für einen möglichen neuen Negativrekord bei der Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. "Die Sacharbeit ist für die Berichterstattung wohl nicht sexy genug" (Deutschlandradio, 13.05.2009), vermutet der Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering, und wird darin von der britischen EU-Parlamentarierin Mary Honeyball sekundiert, laut der die Vorgänge im EU-Parlament für die Medien ihres Landes nicht sexy genug seien (Deutschlandfunk, 25.05.2009). Daß Politik sexy sein müsse, meinen auch viele Journalisten, die mit dieser Forderung bei ihren Interviewpartnern kaum auf die Gegenfrage treffen, was dieses Kriterium überhaupt mit Politik zu tun habe.

Dabei könnte die EU, wenn man partout will, durchaus auf diesen Begriff gebracht werden, verwiesen ihre Repräsentanten nur darauf, daß hinter aller grauen Verwaltungsarbeit machtpolitische Interessen stehen, bei denen es um Dominanz und Herrschaft geht. Die Absichten zu enthüllen, die durch den komplexen Apparat der EU-Administration wirksam werden, scheint jedoch nicht im Interesse der Parlamentarier zu liegen. Einzugestehen, daß die Europäische Union ein von einem Übergewicht an exekutiver Macht bestimmtes, nur unzureichend demokratisch kontrolliertes und von Partikularinteressen überproportional bestimmtes Konstrukt zur effizienteren Durchsetzung von Kapitalinteressen gegenüber der eigenen Bevölkerung wie der anderer Länder ist, kann also nur Sache von Abgeordneten sein, die daran etwas ändern wollen.

Da diese nicht nur dünn gesät sind, sondern aufgrund ihrer Opposition gegen den Lissabon-Vertrag auch als notorische Europagegner diffamiert werden, eignen sie sich kaum dazu, von den PR-Agenturen der EU-Regierungen als Werbeträger in die erste Reihe der Prominenten gestellt zu werden, die derzeit die Trommel für eine große Wahlbeteiligung rühren. Angesichts dessen, daß die Stärkung demokratischer Rechte und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit nicht eben ein Kernanliegen der europäischen Integration zu sein scheint, kann es nicht verwundern, daß mit den herrschenden Politikkonzepten konform gehende EU-Abgeordnete sich der Sprache der Marketing-Experten und des Showbiz befleißigen, wenn nach den Gründen für die geringe Beliebtheit der Union unter den Bevölkerungen ihrer Mitgliedstaaten gefragt wird.

Zudem bedarf es schon einer latenten SM-Orientierung, um die EU angesichts dessen, was sie an Instrumenten der Observation und Repression für ihre Bürger bereithält, "sexy" finden zu können. Wer sich die Mühe macht, die unter dem Arbeitstitel "Stockholm-Programm" bekanntgewordene Planung zum Ausbau der inneren Sicherheit in der EU zu studieren, den kann angesichts der supranationalen Ermächtigung des Sicherheitsstaats nur gruseln. Was in diesem Rahmen ausschließlich auf der Ebene des Ministerrats und der Kommission ohne Beteiligung des EU-Parlaments unter Experten aus den Innenministerien und Sicherheitsorganen der Mitgliedstaaten verhandelt wird, hat den Zweck, nicht nur Flüchtlinge und Terroristen, sondern alle Bürger zum Objekt umfassender datentechnischer und polizeilicher Kontrolle zu machen.

Dieses ausschließlich im Bereich der Exekutive gefaßte Vorhaben ist auf so intransparente Weise zustandekommen, wie es sich für eine administrative Entität gehört, die dem angeblichen Volkssouverän zutiefst mißtraut. Schließlich ist niemand anderes als der EU-Bürger Ziel einer Überwachungs- und Zugriffsstruktur, die durch die stärkere Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizei, durch die supranational verfügte Einschränkung nationaler Grundrechtsstandards, durch die maximale Transparenz der individuellen Internetnutzung wie aller individuellen Belange, die sich datentechnisch erfassen und evaluieren lassen, ausgezeichnet ist. Was sich bereits in exekutiven Innovationen wie dem Führen einer EU-Terrorliste, die die wirtschaftliche Existenz unbescholtener Bürger, die aufgrund völlig undurchschaubarer Kriterien zu Terrorverdächtigen erklärt werden, zerstören kann, dem Europäischen Haftbefehl, mit Hilfe dessen der Bürger eines Landes nach dem Strafrecht eines anderen verurteilt werden kann, oder der einer Vorverurteilung gleichkommenden präventiven Verdächtigung von EU-Bürgern durch die europäische Polizeibehörde Europol angekündigt hat, soll mit dem Stockholm-Programm in eine neue Dimension der sicherheitsstaatlichen Eingriffs- und Vollzugsgewalt geführt werden.

Nachdem die Bürgerrechte bereits in den EU-Mitgliedstaaten stark eingeschränkt wurden, wird die Schraube der Repression auf EU-Ebene um ein weiteres angezogen. Überwachungsvorhaben wie das der Vorratsdatenspeicherung werden von oben nach unten in den Einzelstaaten implementiert, deren Parlamente sich gerne damit herausreden, daß sie vollziehen müßten, was in Brüssel beschlossen wird. Man spielt gewissermaßen über Bande und bedient sich verfahrenstechnischer Tricks, indem das organisatorische Drei-Säulen-Modell der EU oder die Auswahl der jeweiligen Beschlußformen dazu genutzt werden, die niedrigste Schwelle für neue administrative und legislative Maßnahmen in Anspruch nehmen zu können.

Hätte man die Widersprüche und Probleme, von denen der institutionelle Aufbau der EU und das Verhältnis ihrer Entscheidungsorgane zu den Mitgliedstaaten gezeichnet ist, offensiv in den Mittelpunkt der Europawahl gestellt, anstatt sich zu fragen, wie man den Bürger noch besser verführen kann, dann wäre den EU-Technokraten zumindest der Vorwurf erspart geblieben, mit intransparenten Verfahren zu Lasten ihrer Bevölkerungen zu agieren. Daß dies nicht der Fall ist, sollte Anlaß dazu sein, das Mißtrauen der Bürger zu schüren und für den Gegenentwurf eines Europas zu votieren, das nicht den Interessen großer Kapitaleigner zuarbeitet und die Welt nicht als Beute imperialistischer Politik betrachtet.

27. Mai 2009