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HERRSCHAFT/1918: Ein Mittel zum Zweck ... (SB)


Körper des Souveräns, der über Stadt, Land und Bevölkerung herrscht und aus den Menschen besteht, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben - Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Frontispiz des Leviathan - Grafik von Abraham Bosse mit Textsegmenten des Autors Thomas Hobbes
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

"Wie unter einem Brennglas" werden in der Pandemie soziale Probleme und gesellschaftliche Bruchlinien sichtbar, lautete eine häufig verwendete Metapher in der Berichterstattung über die weltweite Verbreitung des Erregers SARS-CoV-2 und die von ihm ausgelöste Infektionskrankheit Covid-19. Was unter den Einschränkungen des Lockdown und des Social Distancing an gesellschaftlichen Verwerfungen entstand, war auch zuvor in lichter Helligkeit präsent gewesen. Zum Normalzustand kapitalistischer Klassengesellschaften gehört die relative Unsichtbarkeit struktureller Probleme, werden die gesellschaftlichen Diskurse doch gerade nicht von denjenigen initiiert und dominiert, die am meisten von Ausbeutung und Unterdrückung betroffen sind.

Ab Januar 2020 rückte die Pandemie fast allen Menschen auf eine Weise auf den Leib, die sie mit bis dahin ungekannten Formen der Bewegungs- und Konsumeinschränkung konfrontierte. Die Folgen plötzlicher Isolation und des Schließens vertrauter Ausweichmöglichkeiten, bei vielen verschärft durch den Ausfall gewohnter Einkünfte, zeitigten eine Häufung sozialen Stresses, manifester häuslicher Gewalt, sozialer Verelendung und suizidaler Neigungen.

Die sich daran entzündende Kritik hält bis heute an und wird durch die Ergebnisse empirischer Untersuchungen nach zwei Jahren staatlicher Pandemiebekämpfung bekräftigt. Zweifellos hätte in der Rückschau vieles besser gemacht werden können, so eine wirksamere Abschottung alters- und krankheitsbedingter Risikogruppen anstelle generalisierter Freiheitsbeschränkungen als auch die Einbeziehung sozialer ExpertInnen und AktivistInnen in die Bearbeitung pandemiebedingter Notlagen, anstatt alle Entscheidungen an der epidemiologischen Expertise auszurichten. Trotz des Vorliegens pandemischer Notfallpläne waren keine Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen worden, wie auch die Unterbrechung der Verkehrswege, auf denen das Virus um die Welt reiste, viel zu spät erfolgte. So waren die politischen VerantwortungsträgerInnen mit einem weltweit rasant verlaufenden Infektionsgeschehen konfrontiert, das überhaupt nach Wochen ansteigender Infektionszahlen ernst genommen wurde und über dessen konkrete Auswirkungen auf die psychophysische Verfassung der Bevölkerungen nur wenig bekannt war.

Insofern trat das vielzitierte Brennglaus auch als Vexierspiegel in Erscheinung, in dem sich vertraute Gewissheiten brachen und die Komplexität des Verhältnisses von biologischer Bedrohung und gesellschaftlicher Reaktion manche wissenschaftliche Erkenntnis in Frage stellte. Allgemeine Ratlosigkeit, kombiniert mit nationalen Vorbehalten, führten in der EU zu ganz unterschiedlichen Strategien der Seuchenbekämpfung. An die Stelle der vielbeschworenen Solidarität der Mitgliedstaaten trat eine Form der gegenseitigen Abschottung und Behinderung, die die schlimmsten Erwartungen vieler EU-KritikerInnen übertraf. Zudem führte der Gegensatz zwischen der strikten Pandemiebekämpfung in Ostasien und der zögerlichen Durchsetzung allgemeiner Quarantäne in Westeuropa und den USA zu erregten Debatten über das notwendige Ausmaß staatlicher Intervention respektive des Entzugs verfassungsrechtlicher Freiheitsgarantien. Obschon sich in der Flucht perspektivischer Überlegungen, die aufgrund des anwachsenden sozialökologischen Notstands angestellt werden, seit langem dringender Handlungsbedarf abzeichnet, blieben Überlegungen zur grundsätzlichen Veränderung herrschender Vergesellschaftungsformen weitgehend aus.

Eine Diskussion, die nicht zwischen den Polen liberaler und autoritärer Staatlichkeit oszillierte, um das jeweils andere Gesellschaftsmodell zu negieren, hätte die Chance gehabt, der häufig angemahnten, aber praktisch kaum eingelösten Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse mit einem starken Impuls auf die Sprünge zu helfen. Gleiches gilt für die Überwindung sozialer Ungleichheit, rassistischer Diffamierung und patriarchaler Dominanz. Wenn überhaupt, fanden eher politische Rückzugsgefechte und opportunistische Anpassungsmanöver statt, wie am desolaten Zustand der Restlinken zu erkennen. Wie stets in Zeiten verschärfter Krisendynamik profitierte vor allem die völkische Rechte von der Unzufriedenheit vieler Menschen mit dem staatlichen Krisenmanagement.

Was sich weltweit mit großem Beharrungsvermögen durchgesetzt und in zwei Jahren Krisenmanagement qualifiziert hat, ist die monolithische Existenz kapitalistischer Verwertungslogik und die auf ihren Erhalt zugerichtete administrative Verfügungsgewalt. Daran ändert auch der schrittweise Übergang in einen grünen Kapitalismus nichts, setzt er doch nicht anders als die fossile Produktionsweise auf den Primat eines ökonomischen Wachstums, das durch die anwachsende weltweite Verschuldung immer mehr als unabdinglicher Sachzwang erscheint.

An Hinweisen auf schlimmere Katastrophen mangelt es mithin nicht. Allein die daraus zu ziehenden Lehren bleiben auf der Strecke herrschender Beharrungskräfte, die aufzuhalten und in ihrer destruktiven Tendenz umzukehren strukturelle Eingriffe von einer Tiefe verlangt, die zu den herrschenden Funktions- und Eigentumshierarchien inkongruent sind. Wer in den Zentralen staatlicher Souveränität Entscheidungen trifft, hat wenig Gründe, die eigenen Privilegien in Frage zu stellen, und um so mehr Interesse, die von Lohnabhängigkeit und Mangel betroffenen Klassen zwischen sich und den Ansturm katastrophaler Entwicklungen zu bringen. Wo Menschen unmittelbarer Lebensgefahr ausgesetzt sind, besetzt der Stress blanken Überlebens allen Platz, auf dem herrschende Eigentums- und Machtverhältnisse in Frage gestellt, wenn nicht angegriffen werden könnten.

Die im Mittelmeer Ertrinkenden und an der polnischen EU-Grenze Erfrierenden sind in dieser Sache so weit wie möglich gegangen, was die Widerlegung ihres Ansinnens, ein Leben ohne Not und Verfolgung zu führen, geradezu mit staatspolitischer Notwendigkeit erfüllt. Je kontraproduktiver sich das weltweite Grenzregime in Sicht auf die Behebung sozialer Not und die Überwindung biologischer Gefahren erweist, desto vehementer wird es durch den Bau neuer Mauern, die Einführung weit vor den physischen Grenzbefestigungen greifender Kontrollmechanismen und die rassistische Brandmarkung flüchtender Menschen als illegal, kriminell und infektiös verteidigt. Damit geschützt wird nicht nur die von unterschiedlichen Lohnniveaus, Standortbedingungen und Währungsdifferenzen befeuerte Dynamik geopolitischer Ökonomie, durchgesetzt wird vor allem die vermeintliche Unaufhebbarkeit individueller wie kollektiver Identifizierung mit Nation, Regierung und Territorium.

Die bis zum Staatenkrieg eskalierende Konkurrenz imperialistischer Akteure und deren Zugriff auf zu bloßen Ressourcenlieferanten degradierte Bevölkerungen und Regionen erscheinen als historische Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung so unverzichtbar wie eh und je. Werden "Welt" und "Menschheit" in den Fensterreden politischer RepräsentantInnen adressiert, dann stets als Folie nationaler Ermächtigung und Einebnung realer Klassenantagonismen, nicht anders als in den Predigten religiöser FührerInnen, deren größte Angst in einer physischen Begegnung mit dem von ihnen glorifizierten Numinosum bestände.


Die Bevölkerung als Lehen des Staates

Seuchenschutz im Gehäuse staatlicher Ordnung kann denn auch als durch und durch politisches Projekt verstanden werden, das anhand seines biologischen Anlasses zu naturalisieren Mittel zum Zweck seiner Durchsetzung ist. Unterschlagen wird bei der verbreiteten Kritik, diese oder jene Maßnahme erschüttere das "Vertrauen" in die Beweggründe des Staates, die Gesundheit der Bevölkerung zu sichern, dass die Ratio des ideellen Gesamtkapitalisten nicht das Wohlergehen seiner Subjekte, sondern die Sicherung seines Bestandes und die Funktionsfähigkeit der dazu erforderlichen Institutionen und Unternehmen zum Gegenstand hat. Der Staat des Kapitals betreibt die soziale wie generationelle Reproduktion seiner Bevölkerung nicht um ihrer selbst willen, sondern aufgrund der Notwendigkeit einer Produktion, über deren Mittel das Gros der Menschen nicht verfügt.

Sie gestalten ihren Lebenserhalt außerhalb der Zeit, in der sie mangels anderer Möglichkeiten, die physischen Bedingungen des Lebens wie etwa mit dem Anbau von Lebensmitteln unmittelbar zu erwirtschaften, indem sie die ihnen gebliebene Ware Arbeitskraft verkaufen. Da die Zwecke der KäuferInnen dieser Ware nicht die eigenen sind, ist die dafür in Anspruch genommene Zeit nur mittelbar über den Erhalt des Lohns dem eigenen Lebenserhalt zuzuführen. Die Reproduktion der Lohnarbeitenden ist mithin Bedingung und nicht Zweck der Gesellschaft, was insbesondere in der Pandemie immer wieder verwechselt wird, wenn die Erfüllung der Aufgabe des staatlichen Gesundheitsschutzes als moralische Pflicht angemahnt wird.

Dem instrumentellen Verhältnis des Staates zur Bevölkerung widersprechen Maßnahmen wie die Alimentierung durch die Seuchenbekämpfung in Not geratener Betriebe oder Haushalte oder die Finanzierung eines Sozialstaates, der für Lohnarbeit noch nicht oder nicht mehr verwertbare Menschen unterstützt, keineswegs. Der dadurch bewirkte soziale Frieden ist keinem altruistischen Anliegen geschuldet, sondern Voraussetzung des Funktionierens einer Wirtschaft, die über die von ihr in Anspruch genommenen Arbeitskräfte auf berechenbare Weise verfügen will. Die Widersprüche der kapitalistischen Klassengesellschaft so weitgehend still zu legen, dass die Erwirtschaftung des nationalen Gesamtproduktes ungestört von Arbeitskämpfen und bürgerkriegsartigen Konflikten vonstatten gehen kann, gilt nicht umsonst als wichtige Standortbedingung. Wo die Zuständigkeit sozialstaatlicher Fürsorge den Horizont linker Politik bildet, ist die Akzeptanz klassengesellschaftlicher Brüche praktisch eingepreist, wie die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Kollaboration mit kapitalistischen und imperialistischen Zielsetzungen belegt.

Wäre es anders, dann wären die sozialen Verwerfungen der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung an erster Stelle abzuschaffen. Anstatt dessen wird das soziale Elend in Ländern, deren Arbeitsleistung und Ressourcenextraktion maßgeblich zum Wohlstand reicherer Staaten wie der Bundesrepublik beitragen, für das Prosperieren der in den Grenzen von Staat und Nation lebenden Bevölkerung billigend in Kauf genommen. Die ernstzunehmende Absicht, globale Probleme wie Pandemie und Klimakrise zu überwinden, bedürfte der Überwindung des Problems, in Wettbewerb und Konkurrenz zueinander zu stehen, was das Scheitern des jeweils anderen als Bestätigung der Gültigkeit eigener Subjektkonstitution und Staatsform ausbuchstabiert. Die Bewältigung der Pandemie trotz vielbeschworener Solidarität nicht durch die Aufhebung des Patentschutzes voranzubringen, den die Impfstoffe produzierenden Pharmaunternehmen für den eigenen Verdienst reklamieren, obwohl in deren Entwicklung gesellschaftliche Leistungen aller Art geflossen sind, ist ein Ergebnis dieser Widerspruchslage und wird zu Recht als "Impfnationalismus" kritisiert, der alle humanitären Feigenblätter welken lässt.

Den Staat als solitären Akteur seiner Bevölkerung gegenüberzustellen stößt wiederum an die Grenze des Interesses vieler Menschen daran, die von ihm gewährten Lebensgarantien höher zu gewichten als die dafür in Kauf genommene Entfremdung von der eigenen Souveränität. Nicht umsonst steht das von Thomas Hobbes ins Bild des Leviathan gefasste Staatswesen bis heute für die Lösung des Problems des "Krieges aller gegen alle", der ausbreche, wenn der Natur des Menschen freier Lauf gelassen würde. Der von dem englischen Philosophen Mitte des 17. Jahrhunderts vorgeschlagene Gesellschaftsvertrag, in dem die Einzelnen alle Macht an den Staat abtreten und sie gegen eine durch positives Recht regulierte Autonomie eintauschen, die den Frieden bei Erhalt individuellen Eigentums und anderer bürgerlicher Privilegien sichert, gilt allgemein als Beginn moderner Staatlichkeit und Einhegung der als natürlich ausgewiesenen Dominanz des Stärkeren.

Was dem marktradikalen Sozialdarwinismus als Legitimationsfigur einer Staatsgewalt dient, die das Privateigentum vor dem Widerstand der zum Verkauf des lohnarbeitenden Körpers genötigten ArbeiterInnen schützt, fußt auf einem Naturbegriff, der Gewalt affirmiert, um sich ihrer zu bemächtigen, anstatt sie aus der Welt zu schaffen. Dass der Mensch dem Menschen nicht mehr ein Wolf sei, so der zivilisatorische Fortschritt des Hobbesschen Gesellschaftsvertrages, scheint in Anbetracht des wieder anwachsenden Hungers in der Welt, der über die ohnehin gegebene Fremdbestimmung kapitalistischer Lohnarbeit hinaus millionenfach versklavten Menschen und der aus imperialistischer Staatenkonkurrenz resultierenden Kriege wenig glaubwürdig. Wo sogenannte Raubtiere vor allem für den eigenen Lebenserhalt jagen, ohne dabei dessen Grundlagen zu vernichten, zeichnet sich die Produktion humanen Lebens dadurch aus, dass die dabei entfesselte Gewalt die Praxis, sehenden Auges die Grenzen sozialökologischer Tragfähigkeit zu überschreiten, auch noch zum unausgesprochenen Beweis der angeblichen Alternativlosigkeit des herrschenden Gesellschaftsmodells erhoben wird. Dessen materielle Widerlegung in Form von Katastrophen der Dürre, des Hungers, des Wassermangels wie der Überflutungen, der Waldbrände und des Artenschwunds lässt nicht auf sich warten. Warten tun allein die Menschen mit einer quasireligiösen Schicksalsgläubigkeit, die in der Konjunktur neuer religiöser Bewegungen, milleniaristischer Kulte und irrationaler Hoffnungen die vermeintlich erfolgte Aufklärung und Säkularisierung westlicher Gesellschaften Lügen straft.

Wo Menschen behaupten, sich über die angebliche Bewusstlosigkeit der Tiere hinaus entwickelt zu haben, und die Unterwerfung des anderen durch Tauschwertabstraktion und Staatsgewalt als zivilisatorischen Fortschritt feiern, wird der Natur, von der sie sich begrifflich getrennt haben und an der sie nicht zuletzt durch diese Operation zutiefst teilhaben, die Legitimation kolonialistischer und patriarchaler Gewalt, kapitalistischer Ausbeutung und des industriell entfesselten fossilen Brandes auferlegt. Die der Nutzbarmachung des Feuers, sei es für Kriegführung oder Maschinenkraft, inhärente Zerstörungsgewalt wird als Beispiel für menschliche Intelligenz affirmiert, obgleich allein die Entwicklung von Atombomben zu ihrer Widerlegung taugt.

Schon von daher ist zu bezweifeln, dass das in den Hobbesschen Staatsorganismus eingehegte Individuum aus natürlicher Unmündigkeit zum verantwortlichen Handeln in der Gemeinschaft aller Staatssubjekte befreit wurde. Ebenso gut ließe sich resümieren, dass der per Vertrag und Rechtspositivismus absolvierte Schritt in individuelle Partikularität den Verlust einer Form von Gemeinschaftlichkeit bewirkte, deren Reproduktion zumindest nicht zerstörerischer und gewalttätiger vollzogen wurde, als dies bei hochgradig integrierten wie zugleich stark atomisierten Industriegesellschaften der Fall ist. Ohne das Konstrukt der Natur idealisieren zu wollen ist doch erwähnenswert, dass indigene Lebensformen sich als so verträglich für die von ihnen in Anspruch genommenen Bioorganismen und Landschaften erwiesen haben, dass deren Herabwürdigung als "primitiv" und "wild" eben jene eurozentrische weiße Arroganz spiegelt, deren SachwalterInnen bis heute versuchen, den eigenen Beitrag zur globalen Krisenentwicklung klein zu reden.


Seuchenbekämpfung zwischen Ausgrenzung und Einschließung

Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird - dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen. [1]

Als die Menschen vor etwa 12.000 Jahren in der neolithischen Agrarrevolution mit dem Anbau von Feldfrüchten und der Domestizierung sogenannter Nutztiere - lediglich Hunde leben sehr viel länger mit Menschen zusammen - begonnen haben, vollzogen sie nicht nur den Sprung zu sozialen Organisationsformen, die mit Vorratshaltung, Arbeitsteilung und Ortsständigkeit planvolles gesellschaftliches Handeln, institutionalisierte Hierarchien und wachsende Bevölkerungzahlen hervorbrachten. Sie schufen auch die Voraussetzungen dafür, dass die seit jeher vorhandenen Infektionskrankheiten eine Massenbasis erhielten. Was zuvor bei kleinen Gruppen von Menschen, die weit von einaner entfernt lebten und wenig Austausch miteinander hatten, auf kaum überwindbare Barrieren stieß, fand in den sesshaften Agrargesellschaften und den sich daraus entwickelnden Städten und Reichen Ausbreitungsmöglichkeiten, die die Entstehung und Verbreitung neuer ansteckender Krankheiten begünstigten.

Heute ist die intensive Tierhaltung und der Austausch von Erregern mit Wildtieren und Menschen eine wesentliche Einfallspforte für epidemische Krisen. Der seit Ausbruch der Corona-Pandemie vor zwei Jahren intensiv diskutierte Zusammenhang von Zoonosen und der Entwicklung für Menschen gefährlicher Viren ist eine Folge gesellschaftlicher Naturverhältnisse, deren Eigendynamik kaum noch einholbar erscheint. Mit der agrarischen Expansion in die verbliebenen Regenwälder und Naturreservate, dem globalen Handel mit Tierprodukten und lebendigen Nutztieren wie dem Nahrungsmittelmangel, der Menschen dazu treibt, auch bislang nicht gejagte Tiere zu verzehren, haben sich weitere Möglichkeiten der Durchlässigkeit der Artenschranke durch Krankheitserreger aufgetan. Erschwerend hinzu kommt, dass vor allem der massenhafte Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung diese bewährten Medikamente beim Menschen wirkungslos zu drohen macht, so dass bislang gut behandelbare bakterielle Infektionen zum Tode führen können. Antibiotikaresistente Erreger standen 2019 weltweit mit fast 5 Millionen Todesfällen im Zusammenhang, davon zählen 1,27 Millionen Menschen als direkt an sogenannter AMR (Antibiotical resistance) verstorben.

Erwähnenswert im Zusammenhang mit der Rolle staatlicher Interventionen zur Eindämmung von Pandemien ist dies auch deshalb, weil der politische Einfluss der Tierindustrie bislang verhindert hat, Eingriffe in die Tierproduktion zur Prävention weiterer pandemischer Entwicklungen vorzunehmen, obschon dies auch aus ökologischen Gründen geboten ist. Um so mehr konzentriert sich die staatliche Krankheitsabwehr auf den Verkehr zwischen Menschen, ja der moderne Staat richtet sich regelrecht an der von Seuchen ausgehenden Bedrohung seiner Gesellschaften auf. So enthalten einige Versionen des berühmten Frontispiz, auf dem der Leviathan als aus der Masse der Bevölkerung formierter Herrscher ins Bild gesetzt wird, Abbildungen von Seuchenärzten mit ihren unheimlichen Schnabelmasken. Die Schweizer Historikerin Francesca Falk hat dieses in der hochauflösenden Illustration des Staatskörpers nicht sofort zu entdeckende Detail zum Anlass genommen, auf die Bedeutsamkeit der Pestpolitik für die Formierung des modernen Staates hinzuweisen.

Wie Michel Foucault, der den Begriff der Biopolitik respektive Biomacht als Signatur staatlicher Bevölkerungspolitik und Lebensregulation maßgeblich geprägt hat, kennzeichnet Falk die seit dem 14. Jahrhundert ergriffenen Quarantänemaßnahmen als sozialstrategische Innovation, mit der der Handelsverkehr und andere gesellschaftlich erforderliche Leistungen auch in der Epidemie aufrecht erhalten werden konnten. Den im Falle von Leprakranken vollständigen gesellschaftlichen Ausschluss durch die Einweisung in eigens zu diesem Zweck eingerichtete Leprakolonien oder Lazarette deutete Foucault als Mittel einer auf Beobachtung, Kontrolle und Ausschließung abstellenden Disziplinarmacht des Staates. Demgegenüber stellten die differenzierteren Maßnahmen, zu denen bei Ausbruch der Pest gegriffen wurde, wie die Einführung sogenannter Pestbriefe als Ausweisdokumente zur Aufrechterhaltung relativer Bewegungsfreiheit oder ein in den Städten fein reguliertes System individuell ermöglichter oder verbotener Zutritte, eine Regierungstechnik dar, die auf Individualisierung und Normalisierung des Problems baute.

Anstatt strikt zwischen Gesunden und Kranken zu unterscheiden zielte das Maßnahmenarsenal dieser Seuchenpolitik auf das Verhalten des Einzelnen ab, worin sich bereits die feingranulare Sozialkontrolle digitalisierter Surveillance-Techniken ankündigte. Das von Foucault am Beispiel der Pestbekämpfung als Prinzip der Gouvernementalität charakterisierte Paradigma des Regierens sollte ein Niveau gesamtgesellschaftlicher Produktivität erhalten, das analog zu anwachsender staatlicher Handlungsfähigkeit eine regelrechte Steigerungslogik ins Werk setzte. Ausgehend davon, dass die Zahl und der Gesundheitszustand einer Bevölkerung zentral für die Handlungsfähigkeit eines Staates sind, galt es, die Bedingungen des Lebens selbst zu regulieren, anstatt Schadensfälle lediglich zu beseitigen.

Wiewohl Foucault den Beginn biopolitischer Administration als Ausdruck staatlicher Regulation vitaler Bedürfnisse und sozialer Reproduktion auf das 18. Jahrhundert datierte und damit ein für die Corona-Pandemie deutungsmächtiges Konzept einführte, erinnert Francesca Falk daran, dass William Petty, ein Assistent von Thomas Hobbes, bereits im 17. Jahrhundert Bevölkerungspolitik mit statistischen Mitteln betrieb. Als Arzt der britische Armee nahm er an der Kolonisierung Irlands teil und führte dort anhand eines Pestausbruchs vergleichende Studien zu den Kosten von Ausbrüchen der Seuche in London und Irland durch. Zudem betrieb er Bevölkerungspolitik nach Maßgabe eines humanen Zuchtprogramms, schlug er doch die Verheiratung englischer Frauen mit irischen Männern vor, was seiner Meinung nach den gesellschaftlichen Zustand auf der grünen Insel verbessert hätte.

Zur Optimierung der irischen Work Force sollte die Zahl der Feiertage, Klöster und Kneipen reduziert werden, zudem sollte die Auswanderung nach England forciert werden. "Mit seiner Vision der Säuberung Irlands von den Iren als notwendige Vorbedingung einer Produktivitätssteigerung kann er als 'Vordenker' für Selektion gesehen werden. Er begreift die Bevölkerung als Ressource (...)" [2], resümiert die Migrations- und Genderforscherin Falk die eugenische Logik dieses zu den herausragenden Sozialingenieuren der Krone zählenden Gründungsmitglieds der Royal Society.


Text 'Kleidung wieder den Tod in Rom anno 1656' - Grafik: I. Columbina, ad vivum delineavit. Paulus Fuerst Excudt., Public domain, via Wikimedia Commons

Pestarzt mit Schnabelmaske
Grafik: I. Columbina, ad vivum delineavit. Paulus Fürst Excudt.,
Public domain, via Wikimedia Commons


Sozialeugenische Horizonte kapitalistischer Bevölkerungspolitik

Ganz wie bei Petty war auch für Thomas Malthus die Größe einer Bevölkerung der zentrale Vektor zur Bestimmung der Produktivität einer Gesellschaft. Mit generationeller Reproduktion Politik zu machen wirkte sich bei ihm 150 Jahre später allerdings auf gegenteilige Weise aus. Laut Malthus minderte eine hohe Geburtenrate der armen Bevölkerung die Verfügbarkeit lebensnotwendiger Ressourcen und wurde damit zum Problem derjenigen, die von der Eigentumsordnung des Manchester-Kapitalismus am meisten profitierten. So wandte sich der Nationalökonom, dessen Name heute als Synonym sozialeugenischer Bevölkerungspolitik gilt, gegen jede Form sozialer Gleichstellung, da dies die Fruchtbarkeit der Armen und damit den Druck auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln erhöhe. Der im Zusammenhang mit der Klimakrise häufig fallende Begriff der "Überbevölkerung" ist denn auch unschwer als demographischer Biologismus zu dechiffrieren, der im weit überproportionalen Sterben ökonomisch benachteiligter und meist nichtweißer Menschen sein pandemisches Echo findet.

Als sich der Fleischbaron Clemens Tönnies im August 2019 gegen die Erhöhung von Steuern zur Bekämpfung des Klimawandels mit dem Argument wandte, "die Afrikaner" würden, wenn man ihnen jährlich 20 Kraftwerke finanzierte, "aufhören, Bäume zu fällen", und "wenn's dunkel ist, Kinder zu produzieren", war die Aufregung über diesen rassistischen Ausfall groß. Doch über die Verächtlichkeit weißer Suprematie hinaus hatte er damit eine Klassenposition eingenommen, die auch die als "überflüssig" stigmatisierten Millionen in den westlichen Metropolengesellschaften als lebensbedrohlich empfinden müssen.

Schon im Fall von Tönnies, der während der Pandemie Schlagzeilen mit Covid-Ausbrüchen in seinen Schlachtfabriken machte, die insbesondere schlecht entlohnte und unter beengten Bedingungen lebende WerkvertragsarbeiterInnen trafen, musste daran erinnert werden, dass die meisten der auf dem Kontinent Afrika lebenden Menschen nur einen Bruchteil der hierzulande erzeugten Treibhausgasemissionen freisetzen. Das Bruttoinlandsprodukt in zentralafrikanischen Staaten ist pro Kopf der Bevölkerung 30- bis 40-mal geringer als in den Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas, was einen dementsprechend geringeren Grundumsatz in Verbrauch und Entsorgung zur Folge hat. Wenn überhaupt eine planmäßige Bevölkerungsreduktion zu erfolgen hätte, dann vor allem bei denjenigen Menschen, die ein Vielfaches an zerstörerischem Konsum wie der globale Durchschnitt auf ihre Person vereinigen.

Die Legitimationsachsen neokolonialistischer und sozialeugenischer Maßnahmen sind tief verankert im Primat nationaler Wertproduktion. Das gilt auch für das patriarchale Anliegen, weibliche Gebärfähigkeit zum Maßstab erfolgreicher Bevölkerungspolitik zu erheben. Mit der Frage des Lebens und Sterbens Kontrolle über die politische Ökonomie eines Landes zu erlangen rührt an die Grundfesten administrativer Verfügungsgewalt, das zeigte sich in der Pandemie anlässlich des überproportionalen Sterbens in Alten- und Pflegeheimen wie unter sozial benachteiligten Menschen. Kosten-Nutzen-Abwägungen stehen auch bei Diskussionen um mögliche Triage-Entscheidungen Pate. Scheinbar können sich nur wohlhabende Gesellschaften leisten, Alter und Vorerkrankung nicht als Entscheidungskriterium bei der Verwaltung eines Mangels an lebensrettenden medizinischen Maßnahmen zu akzeptieren. Der soziale Index weltweiter Covid-Opfer negiert ethische Bedenken ganz praktisch - in zahlreichen Ländern wie etwa Indien oder Brasilien, aber auch in den USA starben viele Menschen an den Folgen unzureichender Gesundheitsversorgung und anderer sozialökonomischer Probleme, ohne dass jemals über Triage geredet wurde.

"Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen", kommentierte der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble den nationalen Lockdown im April 2020. Zwar sei die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen unantastbar, dies schließe aber nicht aus, "dass wir sterben müssen". Was als triviale Selbstverständlichkeit keines Wortes bedürfte, diente dem CDU-Politiker dazu, die im gleichen Atemzug beanspruchte Unteilbarkeit der Menschenwürde dem biologischen Wechselfall von Leben und Tod zu unterwerfen und so ihrer normativen Sonderstellung zu entheben. Wenn ein Mensch, der sich selbst zur Hochrisikogruppe der Älteren und Vorbelasteten zählt, in aller Öffentlichkeit verkündet, bereit zu sein, zugunsten einer Aufhebung der Quarantäne quasi freiwillig aus dem Leben zu scheiden, weil sein natürliches Lebensende doch näher als das jüngerer Menschen liege, dann ebnet er Formen sozial bestimmter Euthanasie den Weg, deren Einforderung in Zeiten des Mangels stets im Bereich naheliegender Optionen liegt.

In der Pandemie bildete sich diese eugenische Konsequenz etwa in der Festlegung einer Altersgrenze für die Aufnahme in Intensivstationen in einigen spanischen Krankenhäuser oder dem unbehandelten Sterbenlassen in schwedischen Altenheimen ab. Wenn die Notwendigkeit, den kapitalistischen Geschäftsbetrieb, der alles ist, was den Staat im Kern ausmacht, wieder hochzufahren, individuellen Lebenswünschen gegenüber absolut gesetzt wird, dann zeitigt das Folgen wie etwa die besonders hohen Todeszahlen in US-Bundesstaaten, in denen die Wiedereröffnung des Geschäftsbetriebes auch gegen die Warnungen von InfektionsmedizinerInnen vor den absehbar tödlichen Folgen vollzogen wurde.

Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die anfangs in UK vorgeschlagene Strategie, anhand des Konzepts der Herdenimmunität weit mehr Tote in Kauf zu nehmen als im Fall einer strikten Unterbrechung der Infektionsketten. Mit der Idee, möglichst schnell "über den Berg" zu sein und ein frühzeitiges "flattening of the curve" zu erreichen, indem die Pandemie sich praktisch unreguliert in die Bevölkerung frisst, hatte die britische Regierung eine Rosskur ins Auge gefasst, deren englisches Äquivalent als kill-or-cure remedy noch deutlicher zu verstehen gibt, dass Späne fliegen müssen, wenn gehobelt wird. Wo marktradikale Ideologeme wie "kreative Zerstörung" und "Disruption" als Patentrezepte für unternehmerischen Erfolg gelten, kann es nicht erstaunen, dass das Provozieren eines massiven Bruches laufender Verwertungsprozesse zur Entfesselung neuer Wachstumskräfte auch im seuchenmedizinischen Übertrag auf die "Herde" der Bevölkerung Zustimmung findet.

Die in beiden Fällen akzeptierten Verluste schlagen vor allem bei sozial unterprivilegierten Gruppen zu Buche, daher spiegelt dieses der Veterinärmedizin entlehnte und auf epidemische Infektionskrankheiten angewandte Konzept [3] das Denken eines utilitaristischen Liberalismus, dessen Klassenprimat stets zu Lasten nicht entscheidungsbefugter Menschen geht. Zu behaupten, hier gehe das Leben des Einzelnen im gesellschaftlichen Kollektiv zur Herstellung des größeren Nutzens auf, blendet die Benachteiligung sozial benachteiligter Menschen aus, die schlimmstenfalls zwischen Hunger und Ansteckung entscheiden müssen.

Schäuble bediente schon drei Monate nach den ersten Covid-Fällen in der Bundesrepublik einen Opfermythos, der immer dann beschworen wird, wenn Staat und Nation angeblich in Gefahr sind. Mit medizinischen Qualitätsbewertungen die Vielfalt und Subjektivität des Lebens datentechnisch dingfest zu machen ist das Wesensmerkmal einer biopolitischen Ökonomisierung, die schon vor der Coronapandemie in der neoliberalen Bezichtigungslogik selbstverschuldeter Erkrankung und der Ausdünnung des Gesundheitswesens zum Erzielen höherer Profitabilität in Erscheinung trat. Mit der Erstellung eines statistisch ermittelten Lebenswertes - Quality-adjusted life year (QALY) - lassen sich die Verluste und Gewinne eines Subjektes der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft datentechnisch zusammenfassen, was von der inneren Logik her nichts anderes ist als der in permanenter Evaluation ermittelte Social Score der BürgerInnen der Volksrepublik China. Einmal durchgesetzt, differenziert sich der eugenische Zugang zur betriebswirtschaftlichen Logik staatlichen Handelns immer weiter aus, um auf der steil abfallenden Bahn krisenbefeuerter Sachzwangdynamik letztlich alle Praktiken und Formen individuellen Daseins auf den gesellschaftlichen Durchschnitt hin abgleichen zu können.


Von der Schädlingsbekämpfung zur Vernichtungspolitik

Die Utopie der Säuberung, das Phantasma der Reinheit und die Angst vor der Vergiftung des Gesellschaftskörpers begleiten alle politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts zuweilen nur wie ein Schatten, manchmal als taktische Option, nicht selten aber erschienen sie als ihr innerster Kern. Das Phantasma der Reinheit selbst ist keine Ideologie, sondern eine idée fixe, die im Rückblick sich vielleicht angemessener als Basis-Code der politischen Sprache beschreiben läßt, der sich im symbolischen System einer Gesellschaft ausbreiten kann, von wo aus er auf dem Bildschirm des politisch Imaginären vornehmlich biologistische Bilder erzeugt. Dieser Basis-Code ist ein kleines Stück Sprache , eine kurze Signifikantenkette, ein wenig Semantik, ein paar einfache Regeln für metaphorische Verbindungen und zwei, drei Anwendungsinstruktionen, mehr nicht. Er läßt ein Gesellschaftssystem autoritär werden und treibt es nicht selten in einen Angriffskrieg oder gar zum Genozid an der eigenen Bevölkerung. [4]

Als Corona nach Europa kam, mutierte die Rede von den Segnungen einer Globalisierung, die die Welt enger zusammenwachsen lässt und der Wirtschaft zahlreiche Kostenvorteile beschert, in kürzester Zeit zur Rhetorik einer Feindkennung von unverhohlen rassistischer Art. Für die Bild-Zeitung war es ein "China-Virus", der Spiegel wartete mit einer in gelber Schrift gedruckten Schlagzeile "Corona-Virus: Made in China" auf, illustriert mit dem Bild eines asiatisch wirkenden Mannes mit Atemmaske und Seuchenschutzkleidung, die durch die Mohammed-Karikaturen unrühmlich bekanntgewordene dänische Tageszeitung Jyllands-Posten ersetzt die gelben Sterne auf der roten Fahne Chinas durch Piktogramme von Viren. Auch US-Präsident Donald Trump sprach stets vom "China-Virus" und bewarb sein Projekt, die Südgrenze des Landes mit einer Mauer gegen MigrantInnen aufzurüsten, mit der Behauptung, es handle sich um ein Einfallstor gefährlicher Seuchen. Zahlreiche chinesischstämmige US-AmerikanerInnen mussten Anfeindungen bis hin zu körperlichen Angriffen erleiden, weil die Korrelation zwischen Krankheitserregern und ethnisch-religiösen Minderheiten bei vielen Menschen im Wortsinne virulent zu sein scheint.

So wurden bei der mittelalterlichen Pestprävention und -bekämpfung häufig Menschen zu Sündenböcken gemacht, deren nomadische Lebensweise, jüdische Herkunft oder materielle Armut sie als VerbreiterInnen ansteckender Krankheiten verdächtig machte. 500 Jahre immer wieder aufkommender Epidemien haben stereotype Bezichtigungsmuster hervorgebracht, mit denen "fremdländische " Menschen aller Art als Quell des Übels ausgemacht wurden. Antisemitische Stereotypen wie "Giftmischer" oder "Brunnenvergifter" wurden insbesondere auf das Judentum Osteuropas angewendet und führten dort zu Pogromen gegen die jüdische Minderheit, die bezichtigt wurde, mit diesen Mitteln Krankheiten verbreitet zu haben. Dieser Verdacht konnte auf asiatisch oder orientalisch wirkende Menschen ausgedehnt werden oder, je nachdem, wo diese Bezichtigung erhoben wurde, auch als slawisch identifizierte Menschen betreffen.

Gemeinsam ist allen rassistisch wirkenden Klischees infektionsmedizinischer Art, dass das krankmachende Agens von außen in die Gesellschaft oder den Körper eindringt. Die Bakteriologie des 19. Jahrhunderts war von einem Freund-Feind-Denken durchwirkt, das sich als Analogie für die nationalistische, völkische als auch kolonialistische Feindbildproduktion geradezu aufdrängte. Auch weil sich das Wissen um die komplexen Wechselverhältnisse infektiöser Erkrankungen erst später verbreitete, eignete sich das seuchenpolitische Innen-Außen-Verhältnis bestens dazu, bestimmte Menschen und Gruppen als Infektionsträger zu exponieren.

Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Bakteriologie etablierte Gewißheit, daß potentiell pathogene Mikroorganismen Feinde seien, die man nicht anders als ausrotten könne, hatte durchaus praktische Konsequenzen. Seit 1907 bauten die Gesundheitsbehörden des Deutschen Reiches entlang der Grenze zu Polen einen eigentlichen Hygienewall, das heißt eine Kette von vorerst zehn Desinfektionsanstalten, wo die aus ihrer Heimat emigrierenden polnischen und galizischen Juden "entlaust" wurden. Der britische Historiker Paul Weindling hat gezeigt, daß diese Anstalten einerseits als Schutz gegen "asiatische Seuchen" gedacht waren, und andererseits dazu dienten, in Zusammenarbeit mit den Hafenärzten in Hamburg und Bremerhaven sicherzustellen, daß die Übersiedler nach Amerika keine "asiatischen" Krankheiten in die Neue Welt einschleppten. [5]

Im semantischen Kontext infektionsmedizinischer Desinfektions- und Hygienemaßnahmen produzierten NS-Wissenschaftler Analogieschlüsse, die den eliminatorischen Antisemitismus legitimierten. Schon zuvor standen sozial ausgegrenzte Gruppen im Zentrum eugenischer Maßnahmen zur medizinaladministrativen Reinigung des "Volkskörpers" von "entarteten Ballastexistenzen". Die NS-Euthanasiepolitik schließlich ging zur systematischen Ermordung von PsychatriepatientInnen und anderen Behinderten über. Deren Vernichtung erfolgte ab 1940 in wie Duschen ausgestatteten Gaskammern, wobei die Nutzung von Kohlenmonoxid bereits zuvor in der Pestbekämpfung bei der Tötung von Ratten Anwendung gefunden hatte.

Das als Pestizid deklarierte Blausäuregas Zyklon entstand im Kontext der deutschen Kriegsführung mit Giftgasen und wurde in der sogenannten Schädlingsbekämpfung der Land- und Forstwirtschaft einem zivilen Zweck zugeführt. Von der Stigmatisierung jüdischer Menschen als TrägerInnen von Krankheitserregern und ihrer Identifikation mit deren pathogenem Potential, was sie selbst in "Feinde", "Schädlinge" und "Parasiten" verwandelte, bis hin zu ihrer physischen Vernichtung in den "Bad- und Inhalationsräumen" oder "Desinfektionsduschen" der NS-Vernichtungslager durch Ärzte der SS, die über ein professionelles Selbstverständnis als Hygieniker verfügten und das Gift als Mittel zur Ungezieferbeseitigung orderten, war es nur noch ein kleiner Schritt.


Über einem Gesicht, das durch eine Türöffnung blickt, der zweisprachige Hinweis 'Fleckfieber - Betreten und Verlassen ist strengstens verboten' - Foto: Bundesarchiv, Bild 101I-134-0782-35 / Knobloch, Ludwig / CC-BY-SA 3.0, [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Verbotsschild am Warschauer Ghetto 1941
Foto: Bundesarchiv, Bild 101I-134-0782-35 / Knobloch, Ludwig / CC-BY-SA 3.0, [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Der Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden hat die antisemitische Rhetorik des NS-Regimes derart mit Metaphern der Seuchenbekämpfung aufgeladen, dass unverständlich ist, wieso bei der Aufklärung über und Bekämpfung von Antisemitismus nicht viel stärker auf die medizinaladministrativen Anteile am spezifisch gegen Jüdinnen und Juden gerichteten Rassenhass hingewiesen wird. So wurde die Abschottung des jüdischen Wohnviertels in Warschau als Ghetto im November 1940 als Isolations- und Quarantänemaßnahme der Seuchenbekämpfung dargestellt, wie die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann in ihrem Buch "Der entseelte Tod" ausführlich schildert [6].

Es waren deutsche Wissenschaftler und Mediziner, die in der 1941 veröffentlichten Schrift "Kampf den Seuchen! Deutscher Ärzteeinsatz im Osten" im Abschnitt über die Bekämpfung der "Geißel Fleckfieber" die Ummauerung des vermeintlichen Seuchengebietes mit epidemiologischer Terminologie als dringend erforderliche Maßnahme begründeten. Der Jüdinnen und Juden meinende ärztliche Ruf nach "Ausschaltung als Ansteckungsquelle" und "Seuchenträger" zur Beseitigung des "wesentlichen Gefahrenmomentes" bereitete die finale Vernichtung der jüdischen Bevölkerung des von Deutschland eroberten Polens mit der unerbittlichen Exterminationslogik seuchenpolitischer "Schädlingsbekämpfung" vor.

Wurden Schwarze, als orientialisch oder asiatisch identifizierte Menschen in kolonialistischen Eroberungskriegen hingemetzelt, hatte der Aggressor kaum Legitimationsnot. Die vom Fremden und Unbekannten ausgehende Bedrohung konnte um so besser in eine Aufforderung zur Vernichtung übersetzt werden, als das gefährliche Andere in Form unsichtbarer Krankheitsursachen nach Personifizierung und Materialisierung verlangte. Die Semantik von der Reinheit des "Volkskörpers", der von allen möglichen "Parasiten", "Schädlingen " und "Schmarotzern" zu befreien war, feiert heute im migrantInnen- und ausländerfeindlichen Hass der radikalen Rechten Urständ. Wenn schwarze Menschen etwa in Sportstadien mit Affenlauten und Primatenmimik beleidigt werden, dann gemahnt das an jenen rassistischen Biologismus, mit dem das NS-Regime Jüdinnen und Juden zu Nichtmenschen erklärte.

So wird auch die medizinische Kontrolle von MigrantInnen und Flüchtenden nach der Maßgabe der Infektionsabwehr vollzogen und legitimiert damit Formen der Isolation und Quarantäne, die die davon betroffenen Menschen spätestens dann als moderne "Aussätzige" brandmarkt, wenn sie in entsprechenden Einrichtungen untergebracht werden. Ganz unabhängig von der konkreten medizinischen Notwendigkeit, die, wie im Fall der Corona-Pandemie, eine Anwendung derartiger Mittel zur Eindämmung einer gefährlichen Infektionskrankheit erforderlich macht, wird die soziale Stigmatisierung vermeintlich oder wirklich infizierter Menschen auch staatlicherseits immer wieder als Mittel zu deren Diffamierung und Entrechtlichung verwendet. Ein Beispiel dafür ist der von den USA nach dem 11. September 2001 erklärte Globale Krieg gegen den Terrorismus. Die dabei gegen Menschen, denen zuvor keinerlei schuldhaftes Vergehen nachgewiesen werden musste, ergriffenen Maßnahmen der Inhaftierung, Folter wie die Tötung angeblicher Kombattanten per ferngesteuerter Drohne bedienten sich häufig einer Freund-Feind-Kennung, die das Attribut des fremden, äußeren Eindringlings bis hin zum Bild des virulenten Schädlings steigerten.

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen - hier soll keinesfalls eine direkte Verbindung zwischen der Vernichtungspolitik des NS-Staates und den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung heutiger Regierungen gezogen werden, ganz im Gegenteil. Wenn der medizinische Chefberater des US-Präsidenten, Anthony Fauci, in sozialen Netzwerken mit dem KZ-Arzt Josef Mengele gleichgesetzt wird oder deutsche QuerdenkerInnen sich als NS-Verfolgte inszenieren, um nur zwei Beispiele für die Gleichsetzung des NS-Regimes mit heutigen Regierungen anzuführen, dann bleibt jede Verhältnismäßigkeit auf der Strecke nichtvorhandener Bereitschaft, staatliche Pandemiebekämpfung im Kontext der exekutiven Vollzugsgewalt des jeweiligen Regierungshandelns und der dafür geltend gemachten Begründungen aus sich selbst heraus zu beurteilen und zu kritisieren.

Wenn linke Staatskritik auf die sozial ungleiche Behandlung der Opfer von Infektionskrankheiten zu sprechen kommt und Signaturen rassistischer Stigmatisierung und kolonialistischer Gewalt erkennbar werden, bedarf es der Logik des immer Schlimmeren nicht. Wo Menschen selbst in reichen Staaten am Mangel an medizinischer Versorgung leiden und vorzeitig versterben, ist vor allem Widerstand gegen die Privatisierung und Kommodifizierung menschlichen Allgemeingutes geboten. Dabei ist die Instrumentalisierung medizinischer Diagnosen durch autokratische und diktatorische Staaten nicht zu verwechseln mit dem hippokratischen Ethos des Helfens und Heilens, dennoch haben sich immer wieder VertreterInnen medizinischer Berufe dafür hergegeben, DissidentInnen zu psychiatrisieren, Minderheiten infektionsmedizinisch zu stigmatisieren oder, wie nach den Anschlägen des 11. September 2001, die Durchführung der Folter ärztlich zu beaufsichtigen.

So wie die Rekrutierung medizinischer Wissenschaften für bevölkerungspolitische Zwecke eugenische Konsequenzen wie die Sterilisation ökonomisch nicht verwertbarer Minderheiten hatte oder die medizinische Forschung in Kolonialgebieten wenig Rücksicht auf die schmerzhaften bis tödlichen Folgen ihrer Arbeit für die Betroffenen nahm, so wurden mit medizinaladministrativen Mitteln neue Formen der Sozialkontrolle durchgesetzt, die insbesondere SexarbeiterInnen, LGBTIQ-Personen, Behinderte und sozial Randständige entwürdigenden Prozeduren aussetzten. Kein geringerer als Robert Koch, der als Lichtgestalt deutscher Medizingeschichte in dem nach ihm benannten Institut fortlebt, schlug bei seinen Forschungsreisen in afrikanische Kolonialgebiete vor, "Konzentrationslager zur Isolierung von Erkrankten einzurichten. Um Ausbrüche frühzeitig beherrschbar zu machen, sollten ganze Dörfer in Lagern isoliert werden, auch gegen ihren Willen. Da die Krankheit ohne Behandlung tödlich verlaufe, so Kochs Überlegungen, würden nach einer bestimmten Zeit nur die Gesunden übrig bleiben und könnten dann zurückkehren. Die Ausbreitung wäre gestoppt, die afrikanische Arbeitskraft für die Kolonialherren geschützt." [7]

Nicht umsonst hat die moderne Polizei als ausführendes Organ des staatlichen Gewaltmonopols ihre Wurzeln im System der frühneuzeitlichen "Gesundheitspolizey", die im Rahmen der Seuchenbekämpfung entstand. Der Begriff der "Polizei" wurde in der Frühmoderne - dem englischen "policy" vergleichbar - für diverse die Bevölkerung auf staatliche Zwecke zurichtende Maßnahmen wie Sozialfürsorge, Erziehung, Städtebau oder die Überwachung von Hygienemaßnahmen eingesetzt. Hinzu kamen exekutive Aufgaben wie die Durchsetzung der - angeblich dem Wohle der Gesamtheit des kapitalistischen Staates gewidmete - Enteignung und Vertreibung von Menschen zum Zwecke ihrer Proletarisierung, was Marx "ursprüngliche Akkumulation" nannte, und die Zerschlagung jeder Form aufbegehrender Selbstorganisation von ArbeiterInnen.

Dieses Anfangsstadium des Kapitalismus hat kein Ende gefunden, bis heute entzieht die staatlich organisierte oder legitimierte Landnahme für städtebauliche, agrarische oder andere Ressourcen ausbeutende Zwecke Millionen Menschen ihre Subsistenzgrundlage. Die Intensivierung extraktivistischer Strategien ist nicht nur mitverantwortlich für die Entstehung und Verbreitung neuer Infektionskrankheiten, die dadurch bedingte Verknappung an frei verfügbarem Boden verurteilt auch immer mehr Menschen zu Armut und Hunger. So zieht die Polizei als Vollzugsorgan der herrschenden Eigentumsordnung immer wieder den Hass von Menschen auf sich, die am Rande der Gesellschaft leben oder als People of Colour dauerhafter Diskriminierung ausgesetzt sind. Nicht alle als "Anti-Corona-Proteste" überschriebenen Riots müssen von BürgerInnen ausgehen, die keine Einsicht in die Gefährlichkeit des Virus haben. Quarantänemaßnahmen können insbesondere in weniger wohlhabenden Ländern auch zum Anlass dafür genommen werden, auf die eigene desolate Situation hinzuweisen oder sich schlicht Luft zu machen, wenn die Kombination aus Bewegungseinschränkung, Arbeitslosigkeit, Kälte und Hunger zu bedrückend wird.


Die "gespaltene Gesellschaft" vereint in Wettbewerb und Verwertungszwang

Natürlich war die Gesellschaft vor der Pandemie gespalten, nur haben die sozialstrategischen Mechanismen der Beschwichtigung und Befriedung besser funktioniert. Indem sogenannte QuerdenkerInnen die Durchsetzung der Seuchenbekämpfung als Missachtung ihrer Grundrechte beklagen und mit der Parole "Wir sind das Volk" die organisierte radikale Rechte geradezu einladen dazu, ihr Anliegen zu vereinnahmen, verkennen sie den grundsätzlich auf Erlaubnis und Verbot basierenden Charakter des Verfassungsstaates. Ansonsten müssten ihnen Grundrechte nicht erst zugebilligt werden. Indem Meinungs- und Weltanschauungsfreiheit, Freiheit der Kunst und Berufswahl, Menschenwürde und Antidiskriminierung der Souveränität des Staates übertragen wurden, sind dessen bürgerliche Subjekte ganz im Sinne von Thomas Hobbes darauf festgelegt, nach seinen Maßgaben zu leben respektive für deren Verweigerung dem Arsenal seiner strafenden Gewalt ausgesetzt zu werden.

Die formale Gleichheit der per Vertragsrecht und Personenstand zugestandenen Autonomie wird durch die Ungleichheit der Eigentumsordnung derart konterkariert, dass die Freiheit, die eigene Lebenskraft und -zeit auf dem Arbeitsmarkt meistbietend anzubieten, unschwer als Bedingung kapitalistischer Vergesellschaftung zu erkennen ist. Die Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung als "Diktatur" zu kritisieren bedeutet, sich mit diesem Staatsverhältnis und Freiheitsbegriff grundsätzlich einverstanden zu zeigen. Wo zuvor kein Widerwort gegen die Fremdbestimmung der Arbeitsgesellschaft laut wurde, werden die Freiheitseinschränkungen der Pandemiebekämpfung als unangekündigter Einbruch in den laufenden Geschäftsbetrieb abgewehrt. Dabei wird der gleichen Ratio gefolgt, mit der sich die Konkurrenzsubjekte der herrschenden Rechtsordnung und den durch sie begünstigten Interessen der KapitaleignerInnen unterwerfen.

Die vermeintlich neue Erkenntnis, dass der Staat jedem seiner Insassen auf schmerzhafte Weise auf den Leib rücken kann, fußt auf dem Vergessen dessen, dass die notgedrungene Akzeptanz des Lohndiktats und der ungleichen Verteilung der Produktionsmittel inklusive elementarer Lebensgüter wie denen des Bodens niemals Freiheit im universalen Sinne, sondern die Freiheit, sich möglichst gewinnbringend zu verwerten, meint. Diesen Widerspruch zwischen persönlicher Autonomie und herrschender Eigentumsordnung nicht zum sozialen Widerstand gegen letztere zu entwickeln kann denn auch in sogenannte Verschwörungsmythen münden.

Die im Kapitalverhältnis verborgenen Ursachen real erlebter Einschränkungen als finstere Ränkespiele und sinistre Kollaborationen zu deuten, die stets hinter den manifesten Strukturen von Staat und Kapital verortet werden, was wiederum als systematische Irreführung und absichtsvolle Manipulation der Menschen verstanden wird, bietet sich auf Basis ohnehin vorhandener Ressentiments an. Es ist ein Grundzug der Verkennung offenliegender Herrschaftsverhältnisse, die relevanten Geschehnisse hinter der Erscheinungsebene zu verorten. Als ob es tatsächlich eines "tiefen Staates" zur Formulierung wirksamer Staatskritik bedürfte, werden unmittelbar erlebte Ausbeutung und Unterdrückung ihrer materialistischen Kritik enthoben. In der Weltanschauung der QAanon-AnhängerInnen wird analog zu der dem dystopischen Sci-Fi-Drama "Matrix" entlehnten Metapher der Red Pill und Blue Pill gegriffen. Wer zur roten Pille greift, wird mit der Wahrheit konfrontiert, wer die blaue Pille nimmt, bleibt in träumerischer Illusion verhaftet, so die schon in Platons Höhlengleichnis anzutreffende Auftrennung von realer und imaginierter Welt.

Wenn die konkrete Erfahrung mit Partikularinteressen befördernden Tendenzen massenmedialer Indoktrination und politischer Willkür Mutmaßungen über die Motive und Strategien der jeweiligen AkteurInnen freisetzt, gibt es Möglichkeiten dagegen anzugehen, die nicht in die Sackgasse eines in sich geschlossenen, zirkulär organisierten Argumentationsgebäude führen. Wo Zeichen durch ihre Deutung entstehen und auf selbst gelegten Spuren gesucht wird, was zu finden durch die Frage nach der Wahrheit vorgegeben ist, hypertrophieren die Signaturen kapitalistischer Herrschaft zu Feindbildern von numinoser Monstrosität. Deren Eigenschaft, in der Totalität des anderen vom eigenen Interesse am Bestand herrschender Verhältnisse absehen zu können, führt an möglicherweise unbequemen und grundstürzenden Erkenntnissen zielsicher vorbei.

Unter pandemischem Vorzeichen und mit der anwachsenden Angst um die eigene Existenzsicherung schwindet zugleich die Bereitschaft, das kolonialistische und rassistische Verhältnis zum Globalen Süden als besonders zerstörerische Form einer Feindseligkeit zu erkennen, deren AdressatInnen mit ihrem Leben für die privilegierte Versorgung und den Komfort weitreichender Bestandsgarantien in den westlichen Metropolengesellschaften bürgen. Das Angebot, sich für die eigene Integration in diese sozialhierarchische Weltordnung mit einer überdurchschnittlichen Lebenssicherheit bezahlen zu lassen, steht in krassem Widerspruch zu dem Interesse, die sich aus der Verwirklichung einer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Welt ergebenden Verluste an Konsum und Komfort, an Privileg und Stabilität hinzunehmen.

Die Angst davor, der als naturgegeben verkannten Überlebensnot vom Staat ungeschützt ausgesetzt zu sein, geht sogar so weit, dass die Schuld für die soziale Misere bei sich selbst gesucht, das Scheitern im Beruf auf unzureichende Leistung bei der Arbeit, körperliche Probleme auf die Vernachlässigung der eigenen Physis und soziale Isolation auf psychische Dispositionen zurückgeführt wird. Die neoliberal dynamisierte Atomisierung der Gesellschaft bringt Subjektivitäten der Vereinzelung und Bezichtung hervor, denen der kollektive Angriff auf die herrschenden Bedingungen wirksam ausgetrieben wurde.


Im Rückgriff auf Vertrautes und Bekanntes Rettung suchen

Wird die Geschäftsordnung der Wettbewerbsgesellschaft durch einen pandemischen Ausnahmezustand unterbrochen, der die freizügige Realisierung des eigenen Tauschwertes behindert, dann kann die duldsame Akzeptanz staatlicher Ordnung in einen Protest umschlagen, dem die verlorenen vertrauten Verhältnisse desto teurer sind, je weiter ihre Schattenseiten ins Vergessen rücken. Dass es mehr Gründe für die Verschärfung repressiver Gewalt gibt als die offiziell angegebenen ist nicht falsch und trägt zur Glaubwürdigkeit sogenannter Verschwörungsmythen bei. Verkannt wird, dass durch krisenhafte Entwicklungen erschütterte Gesellschaften stets zum Ausbau ihrer exekutiven Strukturen neigen, um anwachsende Zentrifugalkräfte im Zaum zu halten. Es bedarf keiner eigens dazu produzierten Vorwände, wenn die Verluste kapitalistischer Wertproduktion so sehr an die Oberfläche drängen, dass Regierungen eher darum besorgt sein müssen, den Eindruck ungebrochener Kontrollgewalt zu erzeugen, um nicht als schwach und handlungsunfähig zu gelten.

Zur Formierung einer entschiedenen Gegenposition trägt das Motiv der vermeintlichen Unersättlichkeit der Megareichen kaum bei. Eine gerechtere Verteilung vorhandenen Reichtums löste die Probleme einer verbrauchs- und verschleißintensiven Produktionsweise, wie der Niedergang der realsozialistischen Staatenwelt zeigt, ebenso wenig, als sie die Menschen ihrer vermeintlich naturgegebenen Überlebenskonkurrenz enthöbe. Die Lösung sozialer Widersprüche auf Verteilungsgerechtigkeit zu reduzieren heißt, Teilen - und damit Herrschen - zur kategorischen Bedingung menschlichen Lebens zu erklären, anstatt die Frage solidarischer und kollektiver Zusammenarbeit vor dem Hintergrund des größeren Problems des Schwindens natürlicher Lebensgrundlagen aufzuwerfen.

Die anwachsenden Geldmengen einzelner UnternehmerInnen und Konzerne entsprechen dem Krisenmanagement einer Geldpolitik, die über die Akkumulation fiktiver Werte versucht, dem immanenten Missverhältnis der Mehrwertproduktion zu entkommen. Schon vor der Finanzkrise 2008 wurde immer mehr Geld freigesetzt, um die technologisch wie kapitalistisch bedingte Abschaffung Mehrwert produzierender Arbeit zu kompensieren, was bei den davon Profitierenden tatsächlich die Idee einer unendlich anwachsenden Reichtumsentwicklung freisetzte. Nun, da das Schlaraffenland unendlicher, vermeintlich aus dem Nichts generierter Kapitalakkumulation zusehends an die ehernen Grenzen der fallenden Profitrate wie gesellschaftlicher Naturverhältnisse stößt, nimmt analog zu den Frühzeiten des Neoliberalismus, als noch die vermeintlich goldene Zeit des Rheinischen Kapitalismus beschworen wurde, die Sehnsucht nach dem Status Quo Ante reaktionäre Züge an. Wird am Anwachsen sozialer und ökologischer Probleme sehenden Auges vorbeigeschaut, um den Ertrag kapitalistischer und kolonialistischer Beutezüge nicht zu gefährden und ihn weiterhin von den Klagen der dabei unter die Räder Geratenen ungestört verzehren zu können, dann kann sich die Idee, bei der "Plandemie" handle es sich um ein absichtsvolles Täuschungsmanöver zwecks Errichtung einer Weltdiktatur, zur feststofflichen Kontur eines real wirkenden Geschehens verdichten.

Dass den Damen und Herren in Davos - oder wo sonst über den Vollzug notwendigen Krisenmanagements entschieden wird -, die vorhandenen Probleme allemal ausreichen, um die Durchsetzung ihrer Interessen legitimieren zu können, scheint zu trivial zu sein. Ohne persönlichen Motiven des Raubes und der Gier den Vorrang zu geben, lassen sich die zu überwindenden Verhältnisse nicht personalisieren und in ein Schuldverhältnis setzen, das den eigenen Anteil an der Misere der Welt wie des sozialen Bezugssystems minderte. So wie sozialer Widerstand bei der eigenen Position beginnt und ernstzunehmende AktivistInnen in sehr einsame Situationen führen kann, so entlässt der Wunsch überflüssig gemachter Menschen, dennoch auf Teilhaberschaft zu pochen, ohne den Opportunismus dieses Anliegens zu überprüfen, die Betroffenen ins Nirgendwo einer Bedeutungslosigeit, der zu entkommen jeder Aktionismus wert ist.

Nicht im befreiten Sinne eines Endes der Illusion enttäuscht, sondern um den Verlust des guten Glaubens an die Ordnung der Dinge klagend wird versucht, sich die Verhältnisse auf populistische Weise zurechtzubiegen. Da die vermeintliche Stärke der Reaktion in der ewigen Wiederkehr des Vertrauten und Bekannten, in der Statik einer flachen, geschichtslosen Erde liegt, während eine revolutionäre Position das Anwachsen unüberwindbar erscheinender Probleme nicht überspringen kann, liegt die Konjunktur rechtslastiger Lösungen in krisenerschütterten Zeiten auf der Hand. Um das Steuer des Hobbesschen Staatssouveräns in die Hand zu bekommen scheinen die VerfechterInnen des formal demokratischen, die Machtfrage autoritär beantwortenden Nationalstaates die besten Karten zu haben.


'Anticorona Aktion' angelehnt an das Logo der Antifaschistischen Aktion - Grafik: Tetzemann, CC0, Public Domain via Wikimedia Commons

Antiviraler Antifaschismus
Grafik: Tetzemann, CC0, Public Domain, via Wikimedia Commons


... und die Linke?

So entsteht aus dem Protest gegen den pandemischen Maßnahmestaat keine Fundamentalopposition, statt dessen drängt alles darauf, das angeblich Bessere denjenigen aufzuoktroyieren, die noch Fragen stellen, auf die es keine schnellen Antworten gibt. Der rechtsoffene Charakter vieler Proteste gegen die Pandemie-Maßnahmen geht nicht nur aus den häufig fehlenden Unvereinbarkeitsbeschlüssen hervor, anhand derer zu Beginn einer Demonstration die dabei vertretene politische Position gegen Versuche ihrer Okkupation durch ideologisch konträre Kräfte geschützt wird. Er ist vor allem im Insistieren auf die Durchsetzung eines Begriffes von Freiheit und Demokratie gegründet, in dem liberale und nationale Ziele reklamiert werden, die von einer weltweiten Bewegung zur Bewältigung lebensbedrohlicher Entwicklung nichts wissen wollen.

Der um Maßnahmen wie Abstand halten, Masken tragen, Impfen usw. entfachte Glaubenskrieg muss keineswegs auf eine kleine Minderheit von Verweigerern begrenzt bleiben, wie das Beispiel der US-Gesellschaft zeigt, wo sich die guten Chancen auf eine Wiederwahl Donald Trumps auch aus der vehementen Gegnerschaft zur staatlichen Pandemiebekämpfung speisen. Wenn in Formeln wie "The next variant: Communism" der Virus mit linker Ideologie gleichgesetzt wird oder der österreichische FPÖ-Politiker und ehemalige Innenminister Herbert Kickl über "Impfkommunismus" klagt, dann tritt ein liberaler Freiheitsbegriff hervor, dessen unterstellte Staatskritik lediglich die Verwirklichung einer sozial gerechten Gesellschaft betrifft, während repressive Klassenherrschaft absolut in Ordnung geht.

Freiheitlich Liberale, Libertäre und Neokonservative wollen den Staat nicht abschaffen, sondern zur starken Festung gegen alle Angriffe auf die private Eigentumsordnung ausbauen. Wie die Neue Rechte kritisieren sie die staatliche Pandemiebekämpfung in aller Welt als Ausdruck einer Sozialfürsorge, die sie als kontraproduktiv verwerfen. Das gilt auch für die Vergabe von Impfstoffen an Länder des Globalen Südens und die Aufhebung des Patentschutzes für "nationale Champions" der Pharmaindustrie. Wenn die Lizenzeinnahmen der Firma BioNTech alleine für 0,5 Prozent des 2021 um 2,7 Prozent gestiegenen Bruttoinlandsprodukts der BRD verantwortlich zeichnen, dann kann es nicht erstaunen, dass Bundeskanzlerin Merkel sich stets gegen eine Aufhebung der Produktlizenzen zwecks globaler Pandemiebekämpfung ausgesprochen hat. Auf paradoxe Weise sind sich ImpfgegnerInnen in der Sache mit ihren KontrahentInnen einig - beide wollen aus unterschiedlichen Gründen verhindern, dass es zu einer weltweiten Impfkampagne kommt, ohne die davon Betroffenen auch nur zu fragen.

Ich bin in der Apartheid aufgewachsen. Ich weiß was es heißt, eine Bürgerin zweiter oder gar dritter Klasse zu sein. Und das geschieht in der Pandemie. Schwarze und braune Menschen in Lateinamerika, in Asien und Afrika sollen warten. Uns wurde gesagt, dass das Wissen nicht mit uns geteilt werden soll. Wir sollten uns an klinischen Studien beteiligen. Wir sollten zu wissenschaftlichen Erkenntnissen beitragen, aber wir sollten anstehen, praktisch ganz am Schluss der Schlange, bevor wie das Vakzin bekommen, wie während der Apartheid, wo wir auf jede Art staatlicher Leistung warten mussten, seien es Erziehung oder Gesundheit. (...) Die Welt oder diejenigen, die an der Macht sind, haben entschieden, dass der Eigentumsschutz geistiger Leistungen und die Interessen der Shareholder und Pharmaunternehmen wichtiger sind als Menschenleben.

Fatima Hassan, Gründerin und Direktorin der Health Justice Initiative in Südafrika, im Interview mit National Public Radio [8] Gehen linke AktivistInnen für die Impfpflicht auf die Straße und setzen damit auch randständige Gruppen, MigrantInnen und andere AußenseiterInnen, für deren gesellschaftliche Gleichstellung sie sich einst eingesetzt haben, staatlicher Vollzugsgewalt aus, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, was die neu entdeckte Staatsaffirmation für Kapitalismus- und Herrschaftskritik bedeutet. Möglicherweise resultiert die Idee einer inklusiven Gesellschaft unter kapitalistischem Vorzeichen eben darin, dass Randgruppen per Sozialer Arbeit und Quartiersmanagement wie anderen Agenturen sozialer Verwaltung in ihrer Befriedung erst recht allein gelassen und ignoriert werden.

Allein die vollständige Impfung der deutschen Bevölkerung per Impfpflicht gutzuheißen, anstatt für die Milliarden einzutreten, die Covid weltweit ohne jede medizinische Immunisierung gegenübertreten müssen, zeigt, das der linke Blick keineswegs über den nationalen Tellerrand hinausgehen muss. Viele Gründe wie die immer schlimmeren sozialen Verwerfungen, die von der Pandemie unbeeindruckt fortgesetzte Privatisierung des Gesundheitswesens und seine Verwandlung in eine Gesundheitswirtschaft, der Rückbau von Krankenhäusern bei gleichzeitiger Bemessung der Pandemieintensität anhand der Hospitalisierungsrate, die auch als Index medizinischer Unterversorgung bezeichnet werden könnte, die besondere Gefährdung niedrig entlohnter ArbeiterInnen in Dienstleistungsjobs und von Menschen in Armutsvierteln durch den Virus böten Anlass für eine genuin linke Protestagenda. Wird diese im Kontext der Pandemie sichtbar, ist sie allerdings nicht davor geschützt, dennoch als "Anti-Corona-Protest" kommuniziert zu werden.

Wo die Neue Rechte, AnhängerInnen des QUanon-Kultes, einige EsoterikerInnen und AnthroposophInnen die Existenz einer gefährlichen Pandemie schlicht leugnen, waren die polizeilichen Reaktionen auf die Missachtung der Abstandsregeln und Maskenpflicht auf den jeweiligen Demonstrationen lange Zeit zurückhaltend. Doch auch das kann kein Grund sein, den Vollzug staatlicher Maßnahmen einzufordern. Schlimmstenfalls lässt die Befürwortung der polizeilichen Durchsetzung des Pandemie bedingten Ausnahmezustandes von linker Seite her erkennen, dass ein bequemer Ausweg in die Sicherheit bürgerlicher Existenz gesucht und gefunden wurde.

Sich in dieser Situation gegen den Staat und die radikale Rechte zugleich zu stellen hieße, das geringe Ausmaß verbliebener linker Handlungsfähigkeit zum Thema zu machen. In der vermeintlichen Polarisierung zwischen Staat und einem Großteil der Kulturindustrie auf der einen, Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen auf der anderen Seite geht die verbliebene radikale Linke sang- und klanglos unter. Das Terrain der sozialen Revolution zum Ausgangspunkt neuer Überlegungen zu machen erforderte eine auf die Höhe des aktuellen Krisenmanagements gebrachte Staatskritik, für die die während der Pandemie erreichten Fortschritte an technologischer Sozialkontrolle wie der herrschaftsaffine Charakter des grünen Kapitalismus zu bestimmen wären.


Die Innovationslogik der Krisenregulation

Es kann nicht überraschen, dass BürgerrechtlerInnen verwirrt sind. Ihre gesamte politische Vorstellung basiert auf dem liberalen Glaubensprinzip, dass wir ein atomisiertes Leben leben können und sollten, dass menschliche Gesellschaften nichts anderes als Ansammlungen privater Individuen sind. Aber "Privacy" (Privatsphäre) ist ein partikulärer Anspruch innerhalb eines spezifischen Kontextes. Privacy hat keine substantielle Essenz. Es ist ein Zugeständnis, das der konsolidierte administrative Staat "der Öffentlichkeit" macht, eine fließende Grenze mit Demarkationslinien, die vom Staat gesetzt und verändert werden. Privacy ist ein Werkzeug der Regulation, nicht des Widerstandes, und der Schlüssel dazu ist Information. Aber das Virus hat etwas enthüllt, dass medizinischer Polizei inhärent ist, seit Leben als Information und der Körper als Informationstechnologie neu definiert wurden: die Tatsache, dass der Körper zugleich der Ort der Krankheit und der Information ist, hat die Möglichkeit eröffnet, dass er durch eben jene Information überwacht und reguliert wird. Das ermöglicht jeder Institution, die den Zugang zu dieser Information rechtmäßig beanspruchen kann - Arbeitgeber, Kreditkartengesellschaften, Versicherungsfirmen und der Staat -, die biochemischen Prozesse des Körpers und das Verhalten des Subjektes permanent zu kontrollieren. Das Problem liegt nicht in der Tatsache der Überwachung oder der Verletzung der Privatsphäre, sondern in der Formierung des befriedeten Subjektes. Es geht, in anderen Worten, nicht um Surveillance, sondern um die Art und Weise, auf die Polizeigewalt Formen der Subjektivität und Unterwerfung produziert.[9]

Die mit der informationstechnischen Zurichtung der Arbeit und des Lebens erreichte Qualifizierung der Herrschaft von Staat und Kapital schritt schon vor der Pandemie mit großer Geschwindigkeit voran. Getrieben von einer Krisendynamik, die die Funktionserfüllung gesellschaftlicher Abläufe in Frage stellt, und der Notwendigkeit, die Kapitalproduktivität durch Effizienzsteigerungen zu erhöhen, wurde die anwachsende Verarbeitungsgeschwindigkeit der elektronischen Hardware für eine immer hochauflösendere Steuerung kapitalistischer Tauschwertprozesse und sozialer Kontrolle eingesetzt. Die Lockdown-Maßnahmen der Seuchenbekämpfung haben das Tempo der gesamtgesellschaftlichen Innovation noch einmal erhöht.

Das Home Office als neuer Arbeitsplatz, die Konditionierung der Gesundheitsvorsorge per Gamification in Form von Schrittzählern und virtuellen Workout-Umgebungen, die Sicherstellung der Versorgung durch netzbasierten Konsum, die Durchsetzung des bargeldlosen, jede Konsumentscheidung und jeden Geldtransfer potentiell deanonymisierenden Zahlungsverkehrs wie die Immunisierung der Bevölkerung mit Hilfe von Corona-Apps und elektronischen Immunitätspässen sind Einstiegspforten in Vergesellschaftungstechniken, die die Vereinzelung und Vergleichbarkeit der Marktsubjekte in nie gekannte Dimensionen administrativer Interventionsmacht treiben.

Was nun mit Siebenmeilenstiefeln alle dagegen gerichteten Bedenken vom Tisch fegt, ist das Ergebnis einer technologischen Innovationslogik, die seit jeher für die Qualifizierung herrschaftlicher Gewalt nutzbar gemacht wurde. Was mit Argumenten kurzer Wege, bequemer Zugriffe und anwachsender Effizienz schmackhaft gemacht wird, beinhaltet schon auf den ersten Blick Ein- und Ausschließungsprozesse, die Menschen, die nicht über die notwendigen Mittel, staatsbürgerliche Legitimation oder politische Anpassungsbereitschaft verfügen, in ihrer sozialen Existenz bedroht.

Das gilt insbesondere für den medizinaladministrativen Kontext physischer Transparenz. Gesundheit verwandelt sich vom bloßen Anspruch auf körperliches Wohlbefinden in ein gesellschaftliches Lehen, dessen Bringschuld an Wohlverhalten, Verzicht auf als toxisch eingestuften Genuss, Beteiligung an per Krankenversicherung verordneten Präventivprogrammen oder Praktiken des Organtransfers bis hin zur Evaluation der Lebensqualität insbesondere im hohen Alter vor dem Hintergrund zunehmender Ressourcenverknappung von zwingender Gewalt ist. Der Anspruch auf individuelle Verantwortungsübernahme könnte auch zur Evaluierung des individuellen CO2-Fußabdrucks führen, ohne dass die durch die gesellschaftliche Produktionsweise des Industriekapitalismus angerichteten Schäden nach der Formel "Gewinne sozialisieren, Verluste privatisieren" in gleichem Maße berücksichtigt würden.

Die Quantifizierung des Arbeitskörpers und die Selbstdisziplinierung des Quantified Self gehen Hand in Hand beim Zugriff auf verbliebene Residuen widerständiger Subjektivität. Dagegen einen idealisierten Naturbegriff aufzurufen, wie unter QuerdenkerInnen und ImpfgegnerInnen gang und gäbe, setzt auf einen Widerspruch, der angesichts der verheerenden Auswirkungen menschlicher Produktivkraftentwicklung auf biologische Systeme verständlich ist. Vergessen wird jedoch, dass Menschen längst Artefakte der eigenen Produktionsweise sind, also ein vermeintlicher Naturzustand ohne die Ergebnisse des fossilen Brandes nicht zu realisieren ist. Eine leibliche Souveränität, die unbedingt von der Kontamination eines Impfstoffes freizuhalten wäre, setzte die Aufhebung aller Momente und Impulse fremdbestimmter Kräfte, Wirkungen und Funktionen voraus. Das Problem der selbstgeschaffenen Mensch-Natur-Dichotomie auf diese Weise zu lösen ist einem Idealismus geschuldet, der die Kette, von der das menschliche Tier sich zu befreien versucht, immer länger zieht.

Linke Technologiekritik den VerfechterInnen von Verschwörungserzählungen wie der des "Großen Reset" oder "Großen Austauschs" oder der vermeintlichen Machenschaften der Gates und Soros zu überlassen erweist sich als strategischer Fehler von schwerwiegender Konsequenz. So wenig die radikale Linke den populistischen Ausfällen einer liberal gewendeten Traditionslinken entgegenzusetzen hat, die angebliche Widersprüche zwischen Kapitalismuskritik und Klassenbewusstsein auf der einen Seite und dem Widerstand gegen Patriarchat, Rassismus und ökologische Zerstörung auf der anderen Seite als Einstieg in eine neue Bürgerlichkeit nutzt, so wenig kann sie einer Neuen Rechten Paroli bieten, die das begründete Misstrauen gegen den kapitalistischen Staat für eine autoritäre Revolte zur Verwirklichung ihrer Machtambitionen zu usurpieren versucht.


'Selbermachen' mit AktivistInnen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Aufruf zum Kongress "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" 2017 in Berlin
Foto: © 2017 by Schattenblick


Selbermachen?

Was festen Boden im Treibsand pandemischer Verwirrung schaffen könnte, ist der Versuch, Möglichkeiten des Selbermachens und kollektiver Ermächtigung gegen die Verfügungsgewalt staatlicher Seuchenbekämpfung zu stärken, die ihrerseits mehr an der Aufrechterhaltung der Arbeitsgesellschaft als am diskriminierungsfreien Schutz aller Menschen orientiert ist. Deutlich wird dies unter anderem an den zum Teil völlig unterschiedlich verlaufenden Pandemieentwicklungen in verschiedenen Nationalstaaten. Die sich dort jeweils abbildenden Wellen an Infektionszahlen entspringen weniger den Zyklen viraler Mutation, als dass sie Ergebnis der jeweils durchgesetzten Maßnahmen respektive ihrer Unterlassung sind.

Darüber nachzudenken, wie künftigen Pandemien entgegenzutreten ist, ohne den weiteren Ausbau staatlicher Verfügungsgewalt und einer Normalisierung des Notstandes, die den Unterschied zwischen Ausnahme und Regelbetrieb des Regierungshandelns vollends einebnet, zu riskieren, ist auch angesichts der vorzeitigen Hoffnung, die Pandemie sei bald beendet, erforderlich. So gibt der Epidemiologe Aris Katzourakis zu bedenken [10], dass die endemische Phase einer Seuche lediglich meint, dass die Raten der Ansteckungen und Erkrankungen ein stabiles Niveau ohne größere Ausschläge nach oben und unten erreichen. An endemisch gewordenen Infektionskrankheiten wie Malaria oder Tuberkulose versterben jedes Jahr Hunderttausende Menschen, so der an der Oxford-University lehrende Epidemiologe, der die politische Verwertung des Begriffes "Endemie" als unbedacht kritisiert. Endemisch bedeute nicht einmal, dass nicht hin und wieder Spitzenwerte an Infektionen auftreten können, wie beim Ausbruch der Masern in den USA 2019.

Sandro Mezzadra und Francesco Raparelli schlagen ein tragfähiges Leben mit dem Virus vor, das Freiheitsräume erhält, für die Netzwerke der Kooperation im Umfeld von Schulen und Krankenhäusern gebildet wie Formen der Sorgearbeit an den Arbeitsplätzen entwickelt werden, insbesondere dort, wo die soziale Reproduktion der Gesellschaft sichergestellt wird. [11] Ein solches Feld der Selbstorganisierung von unten wäre ein Anfang in Hinsicht darauf, dass ohnehin über neue Formen der Kollektivität und des Arbeitens nachgedacht werden muss, wenn kapitalistischer Vergesellschaftung jemals eine lebensfreundlichere und liebenswürdigere Form des Zusammenlebens der Menschen wie aller Bioorganismen abgerungen werden soll.

In den USA, die die offizielle Zahl an Covid-Toten weltweit anführen, obwohl inoffizielle Schätzungen der im Zusammenhang mit Covid Verstorbenen in Indien sehr viel höher liegen, hat sich im Zuge der antirassistischen Aufstände im Sommer 2020 die Initiative Movement for Black Lives (M4BL) gebildet. Unter dem Titel "Healthcare not Warfare" betreibt sie die Demilitarisierung des epidemiologischen Ausnahmezustands und erhebt dazu Forderungen wie die Aufhebung der dem US-Präsidenten unterstehenden Seuchenbekämpfung zugunsten von unabhängigen Kriterien in der Hand von Basisinitiativen und Einzelpersonen. Die Beendigung von Notstandsdekreten, die in der gesteigerten Militarisierung der Seuchenbekämpfung, polizeilichen Kontrolle von Gemeinden und dem Machtmissbrauch bei marginalisierten Gruppen und Klassen von Menschen resultieren, als auch die Umlenkung der staatlichen Gelder für Polizei- und Militärinstitutionen an zivile Gruppen, die medizinische, emotionale und andere Formen der Unterstützung von der Pandemie Betroffener leisten, sind weitere Forderungen von M4BL. Nicht zuletzt das Verbot von Freiheitsstrafen bei Missachtung von Notstandsauflagen wie aller armutsbedingten Rechtsverstöße inklusive des Drogenhandels und der Sexarbeit oder geringfügiger Diebstähle zur Linderung des Mangels an Lebensmitteln trügen zur Linderung sozialer Ungleichheit bei, wenn auch nicht zu ihrer Aufhebung. [12]

Damit entspricht M4BL dem ideologischen Schwenk der Black Panther Party 1971, als die Möglichkeit eines bewaffneten Aufstandes für zusehends irreal erachtet wurde. Die neue Ausrichtung wurde unter den programmatischen Titel "Survival Pending Revolution" gestellt, was eine Veränderung der Reihenfolge des sozialen Kampfes zugunsten der Überlebenssicherung vor dem Hintergrund des nicht aufgegebenen Ziels der Revolution meinte. Für die BPP hieß dies, die bereits entwickelten Formen kommunaler Selbstorganisation, die sich als wirksames Mittel ihrer Verbreitung unter der afroamerikanischen US-Bevölkerung erwiesen hatte, in Form medizinischer Hilfsprogramme, Bildungseinrichtungen und Essensküchen für Kinder und Jugendliche weiter auszubauen. Die letztlich erfolgreichen Versuche der US-Regierung, die BPP zu zerschlagen, wurden dadurch allerdings nicht verhindert.

Insbesondere die Forderung von M4BL, bei einer Notstandserklärung die weitere Errichtung aller petrochemischen, toxischen und die Umwelt verschmutzenden Industrien zu beenden, verweist auf den engen Zusammenhang zwischen dem Rückbau staatlicher Seuchenbekämpfung zugunsten der Stärkung kommunaler und individueller Selbstverantwortung und dem ohnehin erforderlichen Wandel zu einer nicht mehr fossilistisch und kapitalistisch organisierten Gesellschaft. Werden solche Aufrufe kombiniert mit dem Kampf um eine grenzüberschreitende, den nationalen Wettbewerbsstaat und imperialistische Konkurrenz überwindenden Zusammenarbeit zwischen Menschen, Gruppen und Organisationen in aller Welt, dann bedarf es keiner besonderen Abgrenzungsbemühungen zu nationalchauvinistischen und rechtspopulistischen Bewegungen.

Fußnoten:
[1] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des
Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977, S. 253

[2] Francesca Falk: Hobbes' Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken
https://hcommons.org/deposits/item/hc:29717/

[3] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-67362031924-3/fulltext

[4] Philipp Sarasin: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Frankfurt am Main 2004, S. 158 f.

[5] a.a.O, S. 151

[6] Anna Bergmann: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Berlin 2004

[7] https://www.spiegel.de/geschichte/robert-koch-der-beruehmte -forscher-und-die-menschenexperimente-in-afrika-a-769a5772-5d02 -4367-8de0-928320063b0a

[8] As new COVID-19 variant spreads, human rights lawyer points to 'vaccine apartheid'
https://www.npr.org/2021/11/28/1059649438 /as-new-covid-19-variant-spreads-human-rights-lawyer-points-to -vaccine-apartheid?t=1644079539460

[9] Brendan McQuade/Mark Neocleous: Beware: Medical Police
https://www.radicalphilosophy.com/article/beware-medical-police

[10] https://www.nature.com/articles/d41586-022-00155-x

[11] Alberto Toscano: The State of the Pandemic
https://brill.com/view/journals/hima/28/4/article-p3_1.xml?language=en

[12] a.a.O.


7. Februar 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


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