Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1915: Der verderbliche Marsch ... (SB)



Der Primat des Ausnahmeverfahrens verändert von Grund auf die Rechtsordnung, durch die der Staat die Gesellschaft instituiert und die Außengrenzen Letzterer beständig neu definiert. Wenn die Terrorismusbekämpfung geltendes Recht suspendiert und eine neue Rechtsordnung hervorbringt, so produziert sie materiell und formell dabei auch den zu bekämpfenden Feind. Die Anpassung der Rechtsordnung zielt nicht, wie im Belagerungszustand, auf eine systemexterne Bedrohung, sondern auf einen vom System selbst hervorgebrachten Sachverhalt. Die Zweck-Mittel-Relation kehrt sich um. Der designierte Feind in Gestalt der Terrororganisation präsentiert sich als Instrument zum Umbau der Rechtsordnung und des politischen Systems. Die Staatsgewalt selbst formt die Politik nach ihrem Bild.
Jean-Claude Paye - Das Ende des Rechtsstaats [1]

Die Gelegenheit zu umfassender Reflexion, Diskussion und Selbstkritik hätte nicht besser sein können - kurz vor dem 20. Jahrestag der auf die Signatur "9/11" eingedampften und um so tiefer ins kollektive Gedächtnis gebrannten Anschläge in den USA endet der als Gegenschlag erklärte und legitimierte Krieg in Afghanistan mit einer Niederlage der Invasoren. Wie von der US-Regierung in den Verhandlungen mit den Taliban eingeleitet wurde der Abzug der Besatzungstruppen nur wenige Tage vor dem 11. September 2021 vollzogen, wodurch die als historische Zäsur bezeichneten Anschläge vor 20 Jahren mit einem weiteren Einschnitt in der Chronologie der von den USA und den NATO-Staaten geführten Kriege markiert wurden, der eigentlich zu umfassender Schadensanalyse Anlass gegeben hätte. So wirft der für alle Beteiligten in Westeuropa und Nordamerika längste Feldzug ihrer modernen Geschichte Fragen an die Art und Weise ihrer Kriegsführung auf, deren Antworten so prekär zu sein scheinen, dass eine umfassende Untersuchung der Niederlage in der öffentlichen Sphäre lediglich als klaffende Leerstelle in Erscheinung tritt. Darüber hinaus wäre die Frage nach der rechtlichen und politischen Verfasstheit bürgerlicher demokratischer Staaten zu stellen, deren Werteorientierung nach 9/11 mehr als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg relativiert und auf den Stand eines unerklärten, wiewohl auf Dauer gestellten Ausnahmezustands gebracht worden war.

Anstatt dem selbst erklärten Anspruch auf politische Diskursfähigkeit und demokratische Widerspruchsbearbeitung zu genügen, wurde dieser Gedenktag im Zeichen einer emphatischen Rückbesinnung begangen, die 20 Jahre des von den USA ausgerufenen Globalen Krieges gegen den Terror in Bekundungen persönlicher Betroffenheit untergehen ließen. Zeitzeugenberichte illuminierten die Ereignisse jenes Tages in schaurig-erschreckenden Farben, können doch viele Menschen heute noch sagen, wie dieses außerordentliche Geschehen auf sie gewirkt hat. Die mediale Erinnerungspolitik hat die für ganze Bevölkerungen höchst grausamen und blutigen Folgen der Anschläge nicht nur aus dem professionellen Selbstzweck, jeden Anlass zur kollektiven Erregung in Aufmerksamkeitsquantitäten umschlagen zu lassen, ignoriert, die Agenturen gesellschaftlicher Vermittlung ergriffen wie vor 20 Jahren die Gelegenheit, die Welt einmal mehr aus der Sicht eurozentrischer Definitionsmacht und neokolonialistischer Suprematie zu erklären, um alle Bedenken zu zerstreuen, die die dadurch bedingten Gewaltverhältnisse tangieren könnten.

Die in den USA an diesem Tag gestorbenen Menschen ins Verhältnis zur vielfachen Zahl der im Nahen und Mittleren Osten beim Angriff westlicher Bomber, Panzer und Drohnen gestorbenen Menschen und zerstörten Gesellschaft zu setzen schien sich ebenso zu verbieten wie die kurz nach 9/11 getroffenen Entscheidungen in ihren bis heute andauernden Auswirkungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Reinszenierung des Dramas um die in das World Trade Center rasenden Flugzeuge besetzte den Platz möglichen Nachdenkens über die Gründe und Folgen der Anschläge nicht anders als die von 9/11 geprägte Ikonografie einschlägiger Unterhaltungsfilme. Als könnten Bilder irgendetwas erklären, fällt ihre Wirkung auf die Zementierung eines an Gut und Böse orientierten Terrorparadigmas zurück, das jeden rationalen Umgang mit gesellschaftlicher Wirklichkeit als Parteinahme für den Feind denunziert.

In den USA, wo viele Menschen Angehörige und FreundInnen bei den Anschlägen verloren haben und die Annahme, zwar Kriege in aller Welt führen zu können, selbst davon aber niemals direkt betroffen zu sein, auf drastische Weise widerlegt worden war, hat die persönliche Betroffenheit im Gedenken eine ganz andere Bedeutung als in der Bundesrepublik. Hier bestand zu den Anschlägen von New York und Washington, zumindest räumlich betrachtet, keine geringere Distanz als zu den sozialen und kriegerischen Katastrophen im Globalen Süden. Während letztere als bloße Fußnoten des Zeitgeschehens kaum bemerkt vorüberziehen, rüttelten die Anschläge auf drei Gebäude, die die ökonomische und militärische Stärke der sogenannten Supermacht repräsentierten, am Mythos einer Sicherheit, die in den westlichen Metropolengesellschaften wie selbstverständlich als Garantie persönlicher Unverletzlichkeit in Anspruch genommen wird.

Wie zuletzt in Afghanistan werden zuerst diejenigen Menschen aus der Gefahrenzone gebracht, die sich als Mitglieder der vermeintlichen Wertegemeinschaft EU und USA ausweisen können. Wann immer die mehrheitlich weißen Angehörigen westlicher Kulturen in Ländern des Globalen Südens in Lebensgefahr geraten könnten, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, sie zu retten. Analog zu dem Vorrecht, fast in alle Länder auf der Welt reisen zu können, während die meisten dort lebenden Menschen große Schwierigkeiten haben, in die Wohlstandszonen Westeuropas und Nordamerikas zu gelangen, bürgt die Zugehörigkeit zur westlichen Staatenwelt in ungleich höherem Maße für Sicherheit als bei allen anderen Menschen. Wird dieser Primat willkürlich negiert, kann die Antwort so fürchterlich ausfallen wie etwa bei den Erschießungen sowjetischer, jugoslawischer, italienischer oder griechischer PartisanInnen durch die deutsche Wehrmacht, die den Tod eines eigenen Soldaten hundertfach rächte.

Die Exklusivität westlicher Bewegungsfreiheit ist nicht etwa ein bloßes Überbleibsel der Kolonialzeit, als weiße "Entdecker" mit einem großen Tross versklavter Hilfskräfte angeblich unbewohnte, tatsächlich aber seit Jahrhunderten besiedelte Territorien für ihre Plantagenökonomien okkupierten und der bis heute nicht abgeschlossenen "ursprünglichen Akkumulation" des Kapitalismus durch die Erschließung verwertbarer Rohstoffe und Menschenleben neuen Brennstoff verschafften. Der freie Zugang zu allen Märkten und Nationalökonomien der Welt ist Programm jener Globalisierung, die vor 20 Jahren mit einer Reaktion aus den Tiefen der eigenen Kriegsökonomie konfrontiert wurde, die allen Anlass zum Forcieren innovativer Formen der Herrschaftssicherung bot.


Erdkugel in Gebiß - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

Unstillbarer Hunger ...
Foto: © 2009 by Schattenblick


Im Feuer der Modernisierungskonkurrenz

So nahmen die mehrheitlich saudischen Urheber der Anschläge, wie von ihrem Anführer Osama bin Laden 1998 explizit erklärt [2], die kolonialistische Unterwerfung des Nahen und Mittleren Ostens zum Anlass, um den USA den Krieg zu erklären. Der politische, in Ägypten in Form der Muslimbruderschaft entstandene und von Al Kaida aufgegriffene politische Islam kam als Reaktion auf die Besetzung und Neuformierung der arabischen Welt durch die westlichen Kolonialmächte zustande und kann daher als Modernisierungsprojekt der Kolonisierten bezeichnet werden, zumal wichtige Impulse zu seiner Gründung von Personen ausgingen, die an westlichen Universitäten studiert und die kulturellen wie politischen Interessen der Kolonisatoren aus eigener Anschauung kennengelernt hatten. Als Produkt des europäischen Kolonialismus und Lehen US-amerikanischer Ölwirtschaft wie religiöses Zentrum des Islam bündelten sich in Saudi-Arabien Widersprüche, die in der Suizidmission der vielen Berichten nach sehr religiösen Attentäter ihre gewalttätige Entsprechung fanden. Dass es sich bei diesen um junge Männer handelte, die mit der westlichen Lebensweise vertraut waren und sie zugleich bekämpften, entspricht der synthetischen Logik eines Reformislam, der die Produktionsweise der Globalisierung in der fundamentalistischen Auslegung der Buchreligion adaptiert, um die eigene Potenz expansiven Hegemonialstrebens zu steigern.

Von daher ist auch der den Antiterrordiskurs bestimmende Gegensatz von westlicher Zivilisation und islamischer Rückständigkeit als Zerrbild eigener Irrationalität und Werteinkonsistenz zu dekonstruieren. Während die Unterschiede im technologischen und industriellen Entwicklungsstand als neokolonialistisches Abhängigkeitsverhältnis hervortreten, handelt es sich bei der monotheistischen Fundierung christlich-weißer und islamisch-arabischer Herrschaftslogik um einander ideologisch verwandte Systeme, die sich traditionell strikt gegen animistische und polytheistische, mit vermeintlich rückständigen Kulturen assoziierte Religionen abgrenzen. Beide Glaubensdogmen sind zutiefst patriarchal bestimmt, und es ist kein Zufall, dass das Geschäft mit der millionenfachen Versklavung afrikanischer Menschen auch von arabischen Geschäftsleuten betrieben wurde. Der zivilisatorische Anspruch beider Systeme hat imperiale Eroberungszüge legitimiert, die auf der Seite christlich-westlicher Staaten vor allem deshalb erfolgreicher verliefen, weil die kapitalistische Erschließung fossilistischer Energien und ihre kriegsökonomische Verwendung den historischen Konkurrenten den Rang ablief.

Indem 9/11 als Angriff auf "unsere" Werte und Lebensweise interpretiert wurde, haben sich die Regierungen der NATO-Staaten auf ein legitimatorisches Paradigma berufen, das bereits im Ausgangspunkt der damit vorgenommenen Freund-Feind-Bestimmung dem eigenen Werteuniversalismus zuwiderhandelte. Galt Terrorismus bis dahin noch als Verbrechen, so wurden die Anschläge auf New York und Washington von vornherein als Kriegshandlungen eingestuft, ohne beweiskräftig belegen zu können, von wem diese Aggression ausging. Mit den Angriffen auf Afghanistan und Irak wurde verheerende Kriegsgewalt auf schon damals dünner Legitimationsbasis entfesselt, die sich aus heutiger Sicht vollends in Luft aufgelöst hat. Im Falle des Iraks, der seit dem zweiten Golfkrieg 1991 regelmäßig bombardiert und dessen Bevölkerung durch ein von den NATO-Staaten erwirktes und bis zur schlussendlichen Eroberung 2003 aufrechterhaltenes UN-Embargo systematisch ausgehungert wurde, war ohnehin klar, dass die US-Regierung dort eine nationale Interessenpolitik betrieb, die die dauerhafte Schwächung arabischer Staaten und des Irans vorsah. Regionale Konflikte, die ihre Wurzeln in den Staatenbildungsprozessen des europäischen Kolonialismus hatten, wurden mit bündnispolitischen und kriegerischen Mitteln fortgeschrieben, um die eigene Position in der ressourcenreichen Region dauerhaft abzusichern.

Dabei zeigte die US-Regierung keinerlei Berührungsängste, wenn es darum ging, lokale Milizen wie die afghanischen Mujaheddin oder später Al Kaida für ihre Zwecke einzuspannen. Die Methode, sich einheimischer Fußtruppen zu bedienen, auch wenn deren Ideologie angeblich nicht mit der eigenen vereinbar war und ihre politischen Ziele langfristig den eigenen Interessen gefährlich werden könnten, ist ein zentrales Merkmal des europäischen Kolonialismus wie des US-amerikanischen Imperialismus. Ihre Ergebnisse können in Afghanistan, wo es gelang, der Sowjetunion eine schwere Niederlage beizubringen und die säkulare Regierung in Kabul zu stürzen, ebenso besichtigt werden wie am Beispiel des Bündnisses mit sunnitischen Kräften im Irak, aus denen später der Islamische Staat hervorging, oder im syrischen Bürgerkrieg, wo islamistische Akteure als Gegner der Regierung Assad unterstützt werden.

Pragmatisches Krisenmanagement zeichnet auch den Umgang mit den Taliban aus, die trotz ihrer frauenfeindlichen Gesinnung als kleineres Übel durchaus die Anerkennung westlicher Regierung finden können. Das angebliche Eintreten für Frauenrechte wird schon durch den Hunger, unter dem ein Drittel der afghanischen Bevölkerung leidet, ad absurdum geführt und findet im antifeministischen Rollback evangelikaler Christen in den USA seine talibaneske Entsprechung. Nicht zu vergessen dazu ist die sexuelle Misshandlung US-amerikanischer Soldatinnen, die auf eine tiefsitzende Kultur maskuliner Misogynie hinweist. Fast jede vierte Frau in den US-Streitkräften muss physische sexuelle Übergriffe erleben, mehr als die Hälfte berichtet von Formen sexistischer Diskriminierung, und wer sich wehrt, läuft Gefahr, dadurch Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Laut einer Studie des US-Verteidigungsministeriums sind mehr als ein Drittel der Betroffenen, die es wagen, derartige Übergriffe zu melden, revanchistischen Schikanen ausgesetzt. 31 Prozent aller Suizidversuche US-amerikanischer SoldatInnen werden von Frauen unternommen, obwohl diese nur 15 Prozent des Personalbestands der US-Streitkräfte stellen [3].

Was vor 20 Jahren als von fanatischen Muslimen bewirkter Zivilisationsbruch ausgegeben wurde, ist seitdem tausendfach in Form grausamster Kriegshandlungen und der willkürlichen sozialen Verelendung ganzer Bevölkerungen in seiner Grausamkeit potenziert worden. An die 400.000 ZivilistInnen und 300.000 Kämpfer aus den Reihen derjenigen Staaten, die durch die im Gefolge von 9/11 im Nahen und Mittleren Osten entfachten Kriege betroffen wurden, sind bei Kriegshandlungen gestorben [4]. Dabei handelt es sich um eine sehr konservative Zählung, denn die Hunderttausende, die anderen kriegsbedingten Gründen wie Nahrungsmittelmangel, Vertreibung und vermeidbaren Erkrankungen erlegen sind, wurden bei dieser Aufstellung nicht berücksichtigt.

38 Millionen Menschen mussten in diesen Kriegen die Flucht ergreifen [5], weil sie entweder direkt durch Waffengewalt vertrieben wurden, der Gefahr, die Kriegshandlungen nicht zu überleben, auswichen oder aus Gründen ökonomischer Not neue Überlebensmöglichkeiten suchen mussten. Wer an die Tür von NATO-Staaten klopfte, wird bis heute mit der hochentwickelten Effizienz EU-administrativer Flüchtlingsabwehr zurückgewiesen, wenn die Flüchtenden überhaupt so weit kommen und nicht zuvor im Mittelmeer ertrinken oder im polnisch-belarussischen Grenzgebiet erfrieren.

Alle Kriege, die seit 2001 im Großraum zwischen Afghanistan und Nordafrika geführt wurden und werden, sind zumindest mittelbar auf Maßnahmen und Interventionen von NATO-Staaten wie den USA und ihren Verbündeten zurückzuführen. Auch die gute Zusammenarbeit mit der Türkei, die selbst als regionaler Akteur Kriege führt und zugleich der NATO angehört, bei der europäischen Flüchtlingsabwehr wie der Bekämpfung kurdischer Autonomiebestrebungen zeigt, dass keine Gesinnungsdifferenz größer sein kann als die gemeinsame Schnittmenge hegemonialer und herrschaftlicher Interessenpolitik.


Transparent 6 Millionen Tote im Kongo 1996-2009 - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

Rohstoffkriege unter der Wahrnehmungsschwelle
Foto: © 2009 by Schattenblick


Die Normalität der Weltkrise

Die kapitalistische Weltdemokratie verlangt also von einer größtenteils unverwertbar gewordenen Welt, dass der Verwertungs- und Verwüstungsprozess dort ungestört weiterlaufen kann, wo er auch nur im Miniaturmaßstab noch möglich ist. Die Unbrauchbaren sollen sich in ihr Schicksal fügen und "standortpolitisch" zu Billigstbedingungen um die Aufmerksamkeit der "Investoren" betteln; "frei" und ungehindert soll der Zugang zu den Inseln der Profitabilität in den Ozeanen des Elends sein; die guten Dinge der ansonsten unbrauchbaren Welt sollen zu Elendspreisen ohne Ende in den kapitalistischen Reproduktionskreislauf eingespeist werden oder verrotten. Auf dem Weg zum Strand sind gefälligst die Jammergestalten wegzuräumen, damit ihr Anblick das Auge der Weltdemokraten nicht beleidigt und die ausgestreckten Hände das Entspannungsvergnügen des hart arbeitenden Marktwirtschaftsmenschen nicht belästigen. Wer in einem Hungergebiet einen Delikatessenladen für die restlichen Zahlungsfähigen eröffnet, soll unbeeinträchtigt vom "Neid" der Unbrauchbaren seinen für die Region doch allemal segensreichen Geschäften nachgehen können; und im Prinzip sollte selbst ein Warlord vom Nachbarpotentaten nicht umgebracht werden, bevor er seine Benz-Karosse bezahlt hat. Mit einem Wort: Das Interesse geht dahin, den Kapitalismus samt seiner "Marktwirtschaft-und-Demokratie" auch dort als die einzig "gültige" Reproduktionsform zu erhalten, wo das Kapital kein allgemeines gesellschaftliches Verhältnis mehr sein kann. [6]

Die weit vor 2001 etablierte Kontinuität westlicher Kolonialinteressen und Kriegspolitik lässt daran zweifeln, ob es sich bei 9/11 tatsächlich um eine Zäsur im Entwurf westlicher Regierungspolitik gehandelt hat, nach der nichts mehr gewesen sei wie zuvor. Wenn überhaupt, dann kann das Ende der Sowjetunion 1989 und die dadurch bewirkte Öffnung neuer Expansionsräume für die kapitalistische Staatenwelt als solche bezeichnet werden. Die Hoffnung, dass die Implosion der realsozialistischen Staatenwelt und die dadurch obsolet gewordenen Stellvertreterkriege der Blockkonfrontation eine neue Ära des globalen Friedens, ja gar ein Ende der Geschichte bewirkt hätten, erwies sich schnell als trügerisch, weil diese Rechnung ohne die Einbeziehung der immanenten Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Weltsystems aufgemacht wurde.

Die darin fungierenden Gewaltverhältnisse haben sich mit der Globalisierung der warenproduzierenden Verwertungsordnung eher zugespitzt denn abgeschwächt, wie die sozialen Krisen in den Metropolengesellschaften, das horrende Elend im Globalen Süden und die zerstörerische Dynamik gesellschaftlicher Naturverhältnisse belegen. Das nicht etwa aufgrund des scheinbar niemals zufriedenzustellenden Aneignungsinteresses des vielzitierten einen Prozents der KapitaleignerInnen, sondern der immanenten, durch keine noch so expansive Finanzpolitik aufzuhebenden Verwertungschwäche eines Kapitalismus, der immer weniger Gebrauchswerte hervorbringt, weil immer mehr Menschen durch seine Produktivitätssteigerung überflüssig gemacht werden.

Die nicht erst seit 9/11 stetig zunehmende Militarisierung aller sozialen Verhältnisse ist mit der Logik einer die Mängel der konventionellen Güterproduktion kompensierenden Rüstungsindustrie schon deshalb nicht zu erklären, weil es sich dabei um eine Form des Staatskonsums handelt, der nicht anders als die Kommodifizierung aller noch nicht verwertbar gemachten Sachwerte und Dienstleistungen auf den Treibsand stetig schwindender Mehrwertproduktion gebaut ist. Die bereits für die Wertproduktion verbrauchten Expansionsräume territorialer und ressourcentechnischer Aneignung sollen durch technisch-wissenschaftliche Rationalisierung und die Inwertsetzung immaterieller Güter kompensiert werden, was die reale Güterproduktion auf immer schmalere Füße stellt. Demgegenüber neue Kriege zu führen ist Bestandteil einer Unwertproduktion, die zwar neuen Bedarf hervorbringt, aber die wegbrechende Basis mehrwertproduzierender Lohnarbeit nicht ersetzen kann. Gleiches gilt für die technologische Rationalisierung der Produktion und die monopolistische Konzentration unternehmerischer Investition - überall steht der Kapitalismus vor den Scherben eines Verbrauches und einer Zerstörung, die sich in der Immanenz seiner Produktivkraftentwicklung nicht umkehren lässt.

Sich demgegenüber auf die verbliebenen Formen ökonomischer Subsistenz zu besinnen und neue Formen gesellschaftlicher Produktion nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern auch zwecks Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln ist das Anliegen von Menschen, für die Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt wird, sondern Afghanistan zum Austragungsort der Sicherung deutscher Privilegien gemacht wurde. Das elende Schauspiel der Rettung von Menschen aus einem Land, in das die Bundesrepublik Schutz suchende Flüchtende noch wenige Wochen zuvor abgeschoben hatte, ist dem dramaturgischen Blendeffekt einer Inszenierung der Wahrung von Menschenrechten geschuldet, die als Vorwand zur kriegerischen Aggression allemal mehr Beachtung finden denn als tatsächlich einlösbarer, von Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht unabhängiger Rechtsanspruch. Seiner legitimatorischen Nutzbarkeit entkleidet und auf die reale Gewaltanwendung humanitärer Interventionskriege bezogen erweisen sich Menschenrechte als Rest dessen, was bleibt, wenn alle verwertbare Verwendungsfähigkeit des Menschen erschöpft ist. Wer heute in Afghanistan in einer Erdhöhle haust, schutzlos der Kälte und dem Hunger preisgegeben, kein Geld für Medikamente oder andere Möglichkeiten besitzt, den Schmerz akuter Krankheiten zu lindern, weiß mehr darüber als alle Rechtsgelehrten und Staatsverwalter, denen die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte vor allem als Zurückweisung ihrer Inanspruchnahme einleuchtet.

Die Verteidigung der Freiheit, die Ressourcen des Planeten nach Belieben plündern und den kapitalistischen Konkurrenzbetrieb zwischen den Nationalstaaten eskalieren zu lassen, hat mit 9/11 eine neue Qualität administrativer Verfügungsgewalt und kriegsökonomischer Innovation hervorgebracht. Dabei trat nichts hervor, was nicht in den Praktiken imperialistischer Staatenkonkurrenz im ausgehenden 20. Jahrhundert angelegt war. Das vermeintlich Neue der Situation ist der Wiederkehr des Altbekannten geschuldet, das vergessen zu machen Auftrag und Resultat herrschender Wirklichkeitsproduktion ist. Ihr ist die Ausweitung menschlicher Leistungsgrenzen und maschineller Taktraten zum Selbstzweck eines Wachstums geworden, das subjektive Lebensqualität negiert, weil es keinen Nutzen für die herrschende Verwertungsordnung hat und in seiner unverkäuflichen wie inkommensurablen Eigenschaft zudem die potentielle Gefahr unberechenbarer Widerständigkeit birgt.

Wer sich vom Versprechen schrankenlosen Konsums abwendet und die unumkehrbare Zerstörung des Lebens in den Deponien und Einöden der Verbrauchsmaximierung nicht akzeptieren kann, muss auch nicht der kollektiven Amnesie, die der Verfügbarkeit des Menschen durch fremde Interessen Tür und Tor öffnet, erliegen. Diese Auseinandersetzung ist älter als die Formierung des Imperialismus der Nachkriegszeit oder der Beginn der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dementsprechend wird 9/11 bei aller katalysatorischen Wirkung, die das Ereignis auf die Qualifizierung gesellschaftlicher Widerspruchslagen und die Unterdrückung antagonistischer Entwicklungen zweifellos hatte, in seiner legitimatorischen Kraft überschätzt. Es bedurfte der Anschläge weder als Vorwand noch Ermächtigungsanlass schon deshalb nicht, weil der alle Rechtsförmigkeit aufhebende Ausnahmezustand seit der Konstitution moderner Demokratien stets integraler Bestandteil staatlicher Handlungsfähigkeit war.

Zudem war der Krieg gegen den Terrorismus schon vor 9/11 erklärte Politik der US-Regierung, die sich dieser Legitimation bereits 1979 mit der Auflistung sogenannter "state sponsors of terrorism" bedient und sie als Mittel kriegerischer Interventionen verwendet hat. Gleiches gilt für die Doktrin des sogenannten "nation building", die als positive Entsprechung zur Stigmatisierung ganzer Länder als "failed states" neue Anlässe zur Entfachung kriegerischer Aggressionen in die Welt setzte. Sie wurde nicht erst in Afghanistan erfunden, sondern steht in der Tradition des europäischen Kolonialismus, dem es oblag, ganze Länder im Namen seiner zivilisatorischen Mission zu unterwerfen und zum Preis von Millionen Toten in die eigene Wirtschaftssphäre zu integrieren. Unter dem Titel einer Öffnung dieser Länder für den freien Markt wurden ungleiche Handels- und Tauschverhältnisse etabliert, die den Ressourcennachschub des Globalen Nordens bis heute absichern. So hat das nach 9/11 ausgerufene Projekt des "global war on terrorism" einen Innovationssprung angeschoben, der auf mehreren Ebenen unterschiedlich sortierter Gewaltverhältnisse die seit längerem in Frage gestellte Vormachtstellung der NATO-Staaten im allgemeinen und der USA im besonderen abstützen und ausbauen sollte.


Polizisten hinter Schildern - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

An der Heimatfront Kriege durchsetzen ...
Foto: © 2009 by Schattenblick


Innovation militärischer Vernichtung und sozialer Kontrolle

Nicht nur im Anforderungsprofil, sondern auch in der grundsätzlichen Logik entsprechen sich die ökonomische und militärische Entwicklung im Zuge der dritten industriellen Revolution: Die menschliche Arbeitskraft wird auch als Vernichtungskraft überflüssig; auch der militärische Schreibtischtäter braucht fast keine "Hände" mehr. Mit immer weniger menschlicher Energie wird immer mehr produziert und gleichzeitig immer mehr vernichtet. Das Verhältnis von Sachkapital und lebendiger Arbeit ist sowohl auf dem Sektor der Produktivkräfte als auch auf dem Sektor der Destruktivkräfte endgültig umgekippt. Der "organischen Zusammensetzung des Kapitals" (Marx) entspricht die "organische Zusammensetzung" des Vernichtungsapparats. In der Produktion wie beim Militär wird der technologische Mitteleinsatz entscheidend. [7]

Die Kriege nach 9/11 waren, wie alle Kriege, auch ein Testgelände für rüstungstechnische Innovationen und dienten der Zurschaustellung militärischer Macht. Die größte konventionelle Bombe der US-Streitkräfte, der sogenannte Daisy Cutter (Gänseblümchenschnitter), wurde in Afghanistan wie im Irak eingesetzt. Die von hochfliegenden Transportflugzeugen beförderte 6,8 Tonnen schwere BLU-82 funktioniert nach dem Prinzip einer Vakuumbombe, die auch in Gräben und Höhlen Deckung nehmende Menschen durch den in der Folge der Explosion entstehenden Unterdruck tötet, indem sie ihre Lungen kollabieren lässt und das Blut aus allen Körperöffnungen zieht. Sie enthält eine auf die Entfaltung einer Brand- und Druckwirkung, die der von taktischen Atomwaffen nahekommt, ausgelegte wässrige Mischung aus Ammoniumnitrat und Aluminiumpuder, deren Explosion alles im Umkreis von 200 Metern in Flammen setzt und Erschütterungen bewirkt, die noch in mehreren Kilometern Entfernung wie ein Erdbeben wahrgenommen werden. Bei ihrem Einsatz im Irak soll die BLU-82 in einem Fall den Tod von 4500 Soldaten bewirkt haben.

Zu Kriegsbeginn in Afghanistan wurden US-Piloten, die aus Mangel an ausgewiesenen Zielen mit ihrer Bombenlast auf die Flugzeugträger zurückkehrten, angewiesen, sich ihre Ziele selbst zu suchen, was den Schrecken zerbombter Dörfer und zerstörter Wohnhäuser intensivierte. Die Angriffe mit Streubomben, die auf großflächige Personenwirkung abgestellt sind und deren Blindgänger eine anschließende Verminung der Zielgebiete bewirken, ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten, zudem setzte man eine Art fliegender Kanonenboote ein, die die Stellungen der Taliban mit großkalibrigen Maschinenwaffen unter Dauerfeuer nahmen und dabei alles in Mitleidenschaft zogen, was sich an zivilen Einrichtungen in der Nähe befand. Im Irak wurde mit der Strategie des "shock and awe" auf die Wirkmächtigkeit schierer Feuerkraft gesetzt, was bei aller psychologischen und kriegstaktischen Begründung nichts anderes bedeutete, als mit vernichtender Gewalt unterschiedslos alle Menschen zu treffen, die sich im Zielgebiet der Bomberflotten befanden.

Zwar wurden bewaffnete Drohnen auch in Kriegen vor 9/11 eingesetzt, ihre häufige Präsenz insbesondere in Afghanistan und im Grenzgebiet Pakistans hat jedoch gerade diesen Schauplatz zu einem exemplarischen Fall für die Anwendung dieser Waffentechnik gemacht. Von den Regierungen der NATO-Staaten mit dem Vorteil beworben, zugleich kostengünstig, militärisch effizient und für die eigenen SoldatInnen verlustarm zu sein, sind Antiterror- und Drohnenkrieg fast zu einem Synonym geworden. Ferngesteuert von irgendeinem Ort Menschen aus der Luft töten zu können, ohne sie direkt anschauen oder ihre Schreie hören zu müssen, wird die Verwendung dieser Waffe von der Vorstellung vermeintlich mit chirurgischer Präzision vollzogener Angriffe auf den Gegner bestimmt. Dass dies nicht zutrifft, ist durch die vielen tödlichen Drohnenangriffe auf unbeteiligte ZivilistInnen längst erwiesen, doch die auch politisch wertvolle Möglichkeit, Krieg fast allein aus der Luft führen und dabei einzelne Personen in unwegsamem Gelände gezielt ausschalten zu können, scheint zu verführerisch zu sein, als dass irgendeine NATO-Armee auf diese Möglichkeit in Zukunft verzichten will.

Während über Drohnenpiloten schon häufiger berichtet wurde, wobei der Vergleich ihrer Form von Kriegsführung mit Videospielen nicht ausbleiben darf, ist über die Seite der Betroffenen weit weniger bekannt. Deren Befragung, in der Studie "Living Under Drones" der Stanford University dokumentiert, lässt erkennen, dass das ständige Summen mit dem bloßen Auge unentdeckbarer Drohnen bei den davon betroffenen Menschen großen Stress durch permanente Todesbedrohung auslöst. Was Militärs und Geheimdienstler aufgrund der hochmobilen Kombination aus Überwachungs- und Hinrichtungstechnik begeistert, bedeutet für Menschen, die sehr wohl wissen, dass es keine Gewähr für die behauptete Zielsicherheit gibt, so dass sogenannte Kollateralschäden stets in Kauf genommen werden, wenn nicht von vornherein eingeplant sind, nichts als Traumatisierung und Terror.

Aufgrund der leichten Verlegbarkeit verfügen heute die meisten in aller Welt präsenten US-Militärbasen über bewaffnete Drohnen. So kann jeder und jede zu jeder Zeit und an jedem Org zum Ziel eines tödlichen Angriffes werden. Der asymmetrische Krieg, der das Verhältnis hochgerüsteter HighTech-Streitkräfte und einer leichtbewaffneten Guerilla, die aber auch zu überraschenden Anschlägen in der Lage sein kann, auf den militärstrategischen Begriff bringt, wird mit dieser in absehbarer Konsequenz AI-geführter Angriffe auch autonom agierenden Waffentechnik potentiell auf alle Gesellschaften und Menschen ausgeweitet. Da wollen führende PolitikerInnen der Bundesrepublik nicht abseits stehen, auch sie verlangen die Anschaffung bewaffneter Drohnen, natürlich immer nur zum Schutz der eigenen SoldatInnen, wie meist hinzugefügt wird.

Vor allem aber waren Afghanistan und Irak Labors der militärischen Aufstandsbekämpfung, der sogenannten Counterinsurgency, deren Ursprünge in der militärischen Durchsetzung britischer und französischer Kolonialherrschaft liegen. Erstmals erprobt in der von US-Truppen fast vollständig zerstörten irakischen Stadt Fallujah wurde die Maßnahme, den nach den Kampfhandlungen zurückkehrenden EinwohnerInnen elektronisch lesbaren Pässe auszuhändigen, die mit den biometrischen Merkmalen ihrer HalterInnen versehen sind. Dadurch hatten die Patrouillen der US-Armee die Möglichkeit, die Identität einer Person zweifelsfrei festzustellen und als Terroristen verdächtigte Männer zu verhaften. In Bagdad gingen die Besatzer dazu über, sogenannte Gated Communities einzurichten, womit in den USA durch Sicherheitsdienste hermetisch abgeschirmte Stadtteile oder Ortschaften bezeichnet werden, die sich in Privateigentum befinden und zu denen nur Zugang hat, wer über eine besondere Erlaubnis verfügt. Dieses Konzept einer sozialen Apartheid nach außen wurde in der irakischen Hauptstadt auf den Kopf gestellt.

Dabei wurden ganze Stadtteile durch ein System von Straßensperren, Kontrollpunkten, Mauern und natürlichen Hindernissen vom Rest Bagdads abgetrennt, um dort aktive oder lebende Kräfte des Widerstands so zu isolieren, dass sie wirksam zu bekämpfen sind. Nach dem Abschotten eines solchen Territoriums wurde ein Zensus abgehalten, um genau zu bestimmen, wer in dem Gebiet lebt. Alle dabei erfassten Personen erhielten Pässe mit biometrischen Identifikationsmerkmalen und wurden datentechnisch erfasst, so dass jeder Checkpoint und jede Patrouille sofort feststellen konnte, ob die kontrollierte Person legal in dem Stadtteil lebt, in dem sie sich aufhält. Anschließend wurde das Gebiet zusammen mit irakischen Soldaten Haus für Haus durchkämmt, um es von "terroristischen Elementen zu säubern", wie es im gängigen Jargon der US-Militärsprecher hieß. Wer sich nicht ausweisen konnte, musste damit rechnen, verhaftet und bei nicht zufriedenstellendem Identitätsnachweis in Folterhaft gesteckt zu werden.

Was im Vietnamkrieg mit der Umsiedlung für unzuverlässig erachteter Dorfbevölkerungen in Wehrdörfer und die Einrichtung von Free Fire Zones in unkontrollierten Gebieten, wo jeder Mensch nach Belieben erschossen werden konnte, versucht wurde, haben die US-Streitkräfte im Irak mit Hilfe moderner Überwachungstechnik und Datenerfassung perfektioniert. Da die Abschottung ganzer Stadtviertel nur erfolgreich sein kann, wenn die Möglichkeiten der sich dort aufhaltenden Menschen, sie zu verlassen, stark eingeschränkt werden, handelt es sich im Grunde genommen um die Einrichtung urbaner Lager. Intensive Verkehrskontrollen und rigide Zugangsbeschränkungen, die umfassende Observation des Gebiets durch Drohnen und mit Überwachungskameras, das Abhören der Telekommunikation, die ständige Präsenz bewaffneter Soldaten, alles im Rahmen von Notstandsvollmachten, die es erlauben, mit der Bevölkerung nach Belieben umzuspringen, verwandelten die Gated Communities Bagdads in Labors moderner Sozialkontrolle, die ahnen lassen, wie mit urbanen Bevölkerungen umgesprungen werden kann, die ihre elende Situation durch nicht konventionell befriedbare Proteste und Aufstände verändern wollen. Da mehr als die Hälfte aller Menschen heute in Städten, Metropolregionen und urbanen Agglomerationen lebt, kommt der Kriegsführung in den Städten wachsende Bedeutung für die Verteilungskämpfe der Zukunft zu.

Theoretisch geht es bei Counterinsurgency auch darum, die Bevölkerung eines widerständigen Gebietes zu spalten in UnterstützerInnen und GegnerInnen des Besatzungsregimes. Zu diesem Zweck wurden AnthropologInnen damit beauftragt, ein "human terrain system " zu entwickeln, das die Befriedung eroberter Gebiete durch die Beachtung lokaler Gepflogenheiten verbessern sollte. Wie US-amerikanische Afghanistanveteranen berichten, ist es jedoch nicht einmal gelungen, die auf Stammes-, Dorf- und Familienebene dominante hochkomplexe Sozialstruktur so zu verstehen, dass eine solche Befriedungsstrategie Erfolg haben könnte.

Die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher ExpertInnen in die Kriegsführung nach 9/11 fand auch bei der Entwicklung angeblich effizienter Verhörmethoden statt, so bei der Verwendung von PsychologInnen und MedizinerInnen bei der Folterung als Terroristen verdächtigter Gefangener. Die bei der physischen Gewaltanwendung missachteten Grundsätze internationalen Rechts wurden niemals wirklich aufgearbeitet, das gleiche gilt für die bis heute anhaltende Freiheitsberaubung von Personen, die ohne jegliche Rechtsgrundlage durch die Selbstermächtigung der US-Regierung unter Terrorverdacht gestellt wurden.


Fahnen vor Rauchsäule - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

Farben des Widerstandes ...
Foto: © 2009 by Schattenblick


Kriege gegen autonomes Leben und Organisieren

Indes, der Zusammenhang zwischen Krieg und Ökonomie hat sich schon in der Epoche der großen Kriege des 20sten Jahrhunderts wesentlich intensiver in die humanen und sozialen "Ressourcen" verlagert. "Menschenbewirtschaftung" (Goldscheid), ein Begriffsvorläufer von "Human-" und "Sozialkapital" war schon zur Zeit des 1. Weltkriegs in den Blick gerückt. Zu Beginn der aktuellen Epoche gelten die "Intanglibles", die "immateriellen" wertbildenden Faktoren als die zentralen Ressourcen von Produktivität: persönliche Qualifikationen, Flexibilität, Lernfähigkeit, Einstellungen, Mentalitäten, die subjektive Bereitschaft sich vorbehaltlos einzuspeisen in den Verwertungsprozess. Sich, das heißt die eigene Leistungsbereitschaft, die Bereitschaft, sich zur Verfügung zu stellen, sich zu unterwerfen, sich als Ressource zu begreifen und einzubringen. Die postmoderne Ökonomie nennt dies "Subjektivierung" von Arbeit unter Einschluss von Lebensweise und Lebensformen etc. Es ist ein neuer Griff nach der "Ressource Mensch" und der "Ressource Gesellschaft". Dies bedeutet aber zunächst: alte Gewohnheiten, alte Lebenszusammenhänge und Lebensweisen, soziale Garantien, Selbstverständnisse, persönliche Zusammenhänge wirken als Blockierungen. Sie müssen durchbrochen und zertrümmert werden, um den Griff in diese Ressource zu ermöglichen. Ihnen gilt auch der Krieg. [8]

Zu den wesentlichen "Errungenschaften" des Terrorkrieges gehört die Ausweitung der Befugnisse von Geheimdiensten, die maßgeblich daran beteiligt waren, dass zahlreiche Menschen als sogenannte ungesetzliche Kombattanten ihrer Rechte als Kriegsgefangene enthoben wurden, um nach Belieben eingesperrt, gefoltert und auch umgebracht zu werden. Die umfassende Erweiterung exekutiver Vollmachten nicht nur in den USA, sondern allen NATO-Staaten wurde nur teilweise wieder zurückgenommen und hat administrative Praktiken zur Regel erhoben, die zuvor bestenfalls für den offiziell erklärten Ausnahmezustand vorgesehen waren. Das hat auch auf die reguläre Anwendung von Überwachungspraktiken abgefärbt, die hierzulande zwar noch nicht den Stand der Volksrepublik China erreicht haben, aber mit zivilgesellschaftlichen Freiheitsbegriffen, wie sie noch in den 1980er und 1990er Jahren gang und gäbe waren, längst nicht mehr vereinbar sind. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der stetigen Innovation der mikroelektronischen und datentechnischen Produktionsweise, was die Ausweitung exekutiver wie privatwirtschaftlicher Surveillance um so unangreifbarer macht, weil sie mit dem ökonomischen Erfolg der jeweiligen Nationalökonomien in einen zwingenden Zusammenhang gestellt wird.

Seit 2001 hat die Zahl schwer befestigter Grenzen in der Welt drastisch zugenommen. Wurden 1990 noch 12 Mauergrenzen in aller Welt gezählt, so ist deren Zahl in den letzten 20 Jahren auf über 50 angewachsen. Hinzu kommen mehrere Dutzend mit Zäunen und Stacheldraht befestigte Nationalgrenzen, wie der Soziologe Steffen Mau anlässlich der Vorstellung seines Buches "Sortiermaschinen" berichtete [9]. Er verweist zudem auf die räumliche Ausdehnung der Grenzregimes etwa durch die Vorverlagerung von Kontrollen für MigrantInnen, die in die EU wollen, in nordafrikanischen Staaten, die Überprüfung von Reiseberechtigungen in Verkehrsmitteln und durch Privatfirmen, die datentechnische Erfassung von MigrantInnen, die ihre Bewegungsmöglichkeiten schon im Vorfeld einschränken. Diese und andere Maßnahmen haben allerdings nicht zur Folge, dass notleidenden Menschen der konkrete Grenzübertritt nicht immer schwerer gemacht würde, wie berittene US-Grenzbeamte bewiesen, die auf Flüchtende aus Haiti einpeitschten, um sie von den Grenzanlagen zu vertreiben. Insbesondere AfroamerikanerInnen in den USA fühlten sich an die Zeit der Sklaverei erinnert und lagen mit dieser Assoziation nicht einmal falsch, wie der anhaltende Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen in den USA belegt.

Die stetig zunehmende Militarisierung der Grenzen ist ein Indiz dafür, dass sich die westlichen Wohlstandszonen auf eine anwachsende Zahl von Klima-, Kriegs- und Armutsflüchtlingen vorbereiten, die im Unterschied zu den in Gegenrichtung reisenden Weißen keinen Zutritt erhalten sollen. Das gibt zu der Befürchtung Anlass, dass selbst der Einsatz von Schusswaffen gegen wehrlose Menschen in Zukunft nicht mehr auszuschließen sein könnte. Seit Jahrtausenden wandern Menschen von einer Region in die andere, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern.

In einer Zeit, in der die Deklamation der "Freiheit" zum Fetisch ihrer praktischen Aufhebung geworden ist, sollen MigrantInnen nicht nur fernbleiben. Sie werden mit dem Stigma der Überflüssigen behaftet, die niemand haben will und deren Überlebensinteresse von vornherein kriminalisiert wird, so etwa mit Begriffen wie "Asyltourismus" oder "Einwanderung in die Sozialsysteme". Meist aus Regionen stammend, in denen der durchschnittliche Ressourcenverbrauch nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was in den hochproduktiven Metropolengesellschaften pro Kopf konsumiert und als Abfall produziert wird, werden sie auch noch eines unverantwortlichen Reproduktionsverhaltens bezichtigt. Malthus lässt grüßen, für den Rassismus weißer Suprematie war er nie wertvoller als heute. Mit den verschärften, fugenlos in die allgemeine Sozialkontrolle übergehenden Grenzregimes wird bereits die aus klimatischen Gründen zu erwartende Massenmigration in gemäßigte Klimazonen vorbereitet. Auch aus diesem Grund will sich niemand wirklich rechenschaftspflichtig für die Bringschuld des Globalen Nordens zeigen, der seinen Reichtum wie Produktivitätsvorsprung der Versklavung von Millionen indigener nichtweißer Menschen und der klimaschädlichen Ausbeutung fossiler Energien zu verdanken hat.


Brennende Straßenblockade - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

Den Brand beenden ...
Foto: © 2009 by Schattenblick


Soziale Bewegungen unter Verdacht

Die Kriminalisierung der gesellschaftlichen Opposition verweist Letztere nicht wie im 19. Jahrhundert in den Raum des Strafrechtlichen. Im Gegenteil, sie spaltet das Politische in zwei Teile, "das Gute" und "das Böse". Es kann kein legitimes Handeln geben außer dem der konstituierten Gewalten. Forderungen, die von der Staatsgewalt nicht akzeptiert sind, die sie destabilisieren, die sie zu bestimmten Handlungen oder zu deren Unterlassung nötigen oder die Gesellschaft einschüchtern, gelten als illegitim und verfallen der Kriminalisierung.
Vermittelt über die Terrorismusbekämpfung, sucht die Staatsgewalt eine neue Konzeption des Politischen durchzusetzen. Nicht mehr Ort der Konfrontation und Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Gruppen soll das Politische sein, sondern ein Raum bloßer Verwaltungsakte, technisches Paradigma. Ein solches Politikverständnis impliziert die präventive Bekämpfung jeder gesellschaftlichen Neuzusammensetzung und alternativen Vergesellschaftung jenseits des Markts. [10]

Für die anstehenden Kämpfe um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, die Herstellung sozialer Gleichheit und die Überwindung faschistischen Ermächtigungsstrebens bieten 20 Jahre des demokratisch legitimierten Ausnahmezustands, eines globalen Kriegszustandes, der die Staatenkonkurrenz weiter vertieft, und einer kapitalistischen Moderne, die die Menschen bis in ihre Atome hinein gegeneinander in Stellung bringt, wesentliche Hinweise darauf, wo überhaupt noch emanzipatorische und sozialrevolutionäre Handlungsmöglichkeiten bestehen. Angesichts des Aufwindes, in dem sich SPD und Grünen befinden, ist daran zu erinnern, dass es eine Regierung dieser beiden Parteien war, die die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen Jugoslawien ermöglicht, die den USA im Terrorkrieg "bedingungslose Solidarität" mit der Folge deutscher Beteiligung an der Besetzung Afghanistans geschworen und mit der Agenda 2010 das neoliberale Workfare-Regime in Deutschland durchgesetzt hat.

Indem Die Grünen ihren politischen Aufstieg auf dem Ticket des Klimaschutzes organisieren, während sie in den Chor derjenigen einstimmen, die die Russische Föderation und die Volksrepublik China zu Hauptfeinden erklären, bestätigen sie einmal mehr den militaristischen Charakter des grünen Kapitalismus. Weit über die erforderliche Kritik an den jeweiligen Herrschaftssystemen hinaus fügt die aggressive Frontstellung, mit der beide Staaten als Konkurrenten um globale Hegemonie herausgefordert werden, der nicht nur klima- und gesundheitspolitisch unabdinglichen Zusammenarbeit auf globaler Ebene schweren Schaden zu. Dementsprechend glänzen Forderungen, die die Einsatzfähigkeit und die Aufrüstung der Streitkräfte gefährden könnten wie etwa die vollständige Erfassung ihrer CO2-Emissionen und deren Anrechung auf das nationale Klimabudget, im Wahlprogramm der Grünen durch Abwesenheit. Statt dessen haben sich die ehemaligen KriegsgegnerInnen bei der Beschaffung bewaffneter Drohnen die Hintertür offengelassen, es müsse "klar gemacht werden, für welche Einsatzszenarien der Bundeswehr die bewaffneten Drohnen überhaupt eingesetzt werden sollen, bevor über diese Beschaffung entschieden werden kann." [11]

Mit Grünen und SPD ist keine soziale Bewegung zu machen, die für antikapitalistische Wachstumskritik, selbstorganisierte Strukturen von unten, ökosozialistische Formen der Vergesellschaftung und einen Antifaschismus, der die systemintegrale Genese und Stellung der Neuen Rechten als das größere Problem erkennt, eintritt. Auch deshalb ist die rot-rot-grüne Regierungsoption eine Eintrittskarte in die Abschaffung einer Linken, die radikal genug ist, die Probleme Klimakrise, Kapitalismus und Faschismus zusammenzudenken. Sich wie Sahra Wagenknecht bei einer Klientel anzubiedern, die zu den Profiteuren der kapitalistischen Moderne gehört und für nationalistische Offerten aller Art empfänglich ist, hält den Niedergang der Partei Die Linke nicht auf, sondern beschleunigt ihn, wie das Ergebnis der Bundestagswahl gerade in NRW belegt.

Die administrativen Folgen von 9/11 sind als Angriff auf alle Formen sozialer Opposition, die die sozialökologischen Problemen auf der Höhe ihrer Überwindbarkeit entgegentritt, ernstzunehmen. Die zahlreichen mit 9/11 begründeten Verschärfungen strafrechtlicher und notstandstechnischer Art, die Angriffe auf das Versammlungsrecht in den neuen Polizeigesetzen, die warenförmige Zurichtung sozialer Verhältnisse durch eine hochauflösende digitale Evaluierung, der Rassismus einer Flüchtlingsabwehr, die Menschen nach ethnischer Herkunft und Verwertungsfähigkeit sortiert, der Primat der Terrorismusbekämpfung, der die Selbstermächtigungslogik der Exekutiven frei drehen läßt, sind Bedrohungen, die Menschen einschüchtern und in ihrer Handlungsfähigkeit beschränken.

Wo die Kritik an den politischen Folgen von 9/11 vom Insistieren auf gesellschaftlich verhandelbare Wahrheiten, der Überschätzung von Mehrheitslogik und Mediensuggestion, der rechtspositivistischen Verkennung des klassenantagonistischen Charakters der Eigentumsordnung sowie einem affirmativen Verständnis konstitutiver Staatlichkeit nicht lassen konnte, hatte sie der Qualifikation administrativer Ermächtigung und feinkörniger Sozialkontrolle wenig entgegenzusetzen. Nicht zufällig war denn auch ein Teil der damit befassten Truther-Bewegung anfällig dafür, die Schwierigkeit, 9/11 als Herrschaftsdispostiv im Rahmen notwendiger Staats- und Kapitalismuskritik zu bearbeiten, durch das Einstimmen in neurechte Empörungs- und Verachtungsrituale zu umschiffen.

Dass dies heute für ungleich größere Gruppen der Gesellschaft gilt als vor 20 Jahren, ist vor allem ein Problem der Linken, die kaum in der Lage war, den anwachsenden Problemen herrschender Verfügungsformen mit der gebotenen Radikalität kritischer Intervention entgegenzutreten. Der Mangel an Bereitschaft, die Ohnmacht nackten Lebens und unteilbarer Solidarität zum Ausgangspunkt politischen Handelns und sozialer Befreiung zu machen, ist angesichts einer Zukunft, in der sich Überlebensfragen ganz materieller Art mit neuer Wucht stellen werden, zwar verständlich, aber im Wissen darum, dass jeder Mensch von Klimakatastrophen, Hungersnöten, Pandemien und Kriegen betroffen sein kann, zugleich inakzeptabel.


Antikapitalistisches Transparent - Demonstration gegen NATO-Gipfel Strasbourg 4. April 2009 - Foto: © 2009 by Schattenblick

Schwarzrotes Vermächtnis ...
Foto: © 2009 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats. Demokratie im Ausnahmezustand. Zürich 2005, S. 224 f.

[2] https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/09/09/amerikas_falsche_antwort_auf_religioesen_wahn_historiker_dlf_20210909_0937_4ebc3955.mp3

[3] https://www.counterpunch.org/2021/09/24/womens-rights-afghanistan-and-beyond/

[4] https://watson.brown.edu/costsofwar/figures/2021/WarDeathToll

[5] https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2021/Costs%20of%20War_Vine%20et%20al_Displacement%20Update%20August%202021.pdf

[6] Robert Kurz: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, S. 105

[7] a.a.O., S. 76

[8] Detlef Hartmann: Der neue Griff nach der Weltmacht, 2002
https://www.phase-zwei.org/hefte/artikel/der-neue-griff-nach-der-weltmacht-1678

[9] https://www.deutschlandfunkkultur.de/grenzen-als-sortiermaschinen-trennlinien-reflektieren-die.1008.de.html?dram:article_id=502221

[10] Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats. Demokratie im Ausnahmezustand. Zürich 2005, S. 238

[11] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Vorlaeufiges-Wahlprogramm_GRUENE-Bundestagswahl-2021.pdf



27. September 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 168 vom 2. Oktober 2021


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang