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HERRSCHAFT/1903: Palästina - Proteste gegen Israels Annexionspolitik weltweit ... (SB)



Das Problem des modernen Rassismus ist zutiefst verwurzelt im europäischen Kolonialismus und einer Weltsicht, in der das christliche Abendland als Zentrum der Zivilisation und Hort überlegener Deutungsmacht verstanden wurde. Wenn heute weltweit gegen rassistische Polizeigewalt protestiert wird, dann sind damit nicht nur die strukturellen Gewaltverhältnisse in den USA gemeint, sondern stets auch die Herabsetzung nichtweißer Menschen im eigenen Land wie überall dort, wo sich staatliche Unterdrückung gegen Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit und nichtweißer Hautfarbe richtet. Die mit der Verschleppung in Afrika lebender Menschen, ihrer Ausbeutung vor Ort und ihrer Zurichtung zur Handelsware vollzogene Aneignung von Arbeitskraft ist die Basis einer ungleichen weltweiten Reichtumsverteilung, die sich heute darin ausdrückt, daß Millionen Menschen in Afrika und anderen Regionen des Globalen Südens in sozialem Elend leben, vom Hunger bedroht sind und nach wie vor unter Bedingungen der Lohnsklaverei arbeiten.

Wie ungebrochen die eurozentrische Weltsicht bis heute praktiziert wird, laut der die Reproduktion des Wohlstandes im Zentrum der EU über alles geht, hat gerade die Coronakrise gezeigt. Seit März ist nicht nur die Berichterstattung über die katastrophale Entwicklung in den Hungergebieten Afrikas, die schon zuvor marginal war, praktisch unterblieben, die sparsamen Handreichungen zur Überlebenssicherung notleidender Menschen dort werden auch noch dem krisenbedingten Eigenbedarf geopfert. 2000 Milliarden Euro schwer ist das Krisenpaket, das die EU zur ökonomischen Bewältigung der Pandemie geschnürt hat, davon gehen 0 Euro in die Hungerhilfe. 2,3 Millionen Hektar Energiepflanzen werden in Deutschland auf Ackerboden angebaut, auf dem auch Nahrungsmittel für Menschen produziert werden könnten, als ob der brennende Hunger im Globalen Süden und der Sprithunger der eigenen SUVs nichts miteinander zu tun hätten. Über diese Form des Rassismus wird bezeichnenderweise kaum gesprochen.


Vereinte Linke gegen Rassismus und Kolonialismus

Im Schatten des weltweit mitvollzogenen Protestes gegen die Ermordung George Floyds durch einen weißen Polizeibeamten am 25. Mai in Minneapolis haben am 6. Juni 6000 Israelis und Palästinenser in Tel Aviv gegen die Pläne der israelischen Regierung protestiert, im Juli Teile des Westjordanlandes zu annektieren. Auf der auch von vielen weißen israelischen AktivistInnen besuchten Demo wurde häufig mit Schildern "Palestinian Lives Matter" an die Black Lives Matter-Bewegung in den USA angeknüpft [2]. Einige israelische Fahnen, viele mit den Farben Palästinas und die Anwendung des zentralen Begriffes der sogenannten Rassentrennungspolitik in Südafrika - "Apartheid" - auf die Situation in Palästina waren Ausdruck eines linken Selbstbewußtseins, das mit der einst starken Linken der Arbeitspartei Israels nicht mehr viel gemeinsam hat [3].

Da deren Konzept für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit für die unter israelischer Besatzung lebenden PalästinenserInnen mit der Zweistaatenlösung nicht erst durch die geplante Annexion eines Teils des Westjordanlandes, sondern schon durch die Zerstückelung palästinensischer Gebiete in einen bloßen Flickenteppich kaum mehr realisierbar erscheint, setzt die junge, antirassistische und antikoloniale Linke Israels in ihrem Protest auf die prinzipielle Gleichstellung zwischen Israelis und PalästinenserInnen. Was immer daraus resultiert, so erfreut sich Kritik am Siedlerkolonialismus Israels doch wachsender Zustimmung unter Linken weltweit. Als nichtweiße Bevölkerung unter wenn auch jüdischer, dann doch auch weißer Besatzung leben zu müssen, nur über eingeschränkte Rechte individueller wie staatlicher Art zu verfügen und erheblichen Blutzoll für jede Form des Widerstandes leisten zu müssen, berechtigt allemal dazu, von einer spezifischen Form des Rassismus zu sprechen.

Dieses Urteil über die Besatzungspolitik Israels, die unter Linken weltweit mehrheitlich Zustimmung findet, darunter auch zahlreiche JüdInnen insbesondere in den USA, nimmt der notwendigen Verteidigung jüdischer Menschen gegen antisemitische Diskriminierung und Verfolgung nichts, wenn die jeweiligen Sachverhalte klar voneinander getrennt werden. Wenn sich ein Staat wie Israel, dessen Regierung Rückendeckung durch ausgemachte Rassisten wie Viktor Orban, Jair Bolsonaro und Donald Trump in Anspruch nimmt, einer auf seinem Territorium wie von seinen Truppen besetzten Gebieten lebenden Bevölkerung nicht die gleichen Lebensrechte wie der eigenen Bevölkerung zugesteht, dann handelt es sich zweifellos um kolonialistische und rassistische Praxis, auch wenn die ausführenden Gewaltorgane Ausdruck sich als jüdisch definierender Staatsautorität sind.

Wenn dieser Regierung Ambitionen zur Weltherrschaft nachgesagt oder antisemitische Stereotypien auf ihre Bevölkerung angewendet werden, dann sind die Betroffenen selbstverständlich gegen diese spezifische Form der Menschenverachtung in Schutz zu nehmen. Den israelischen Siedlerkolonialismus, der in der militärisch geschützten Aneignung fremden Territoriums und der Vertreibung und Entrechtung der auf ihr vordem lebenden Bevölkerung besteht, als Ausdruck staatlicher Gewalt zu kritisieren ist nicht das gleiche, als wenn dies von interessierter Seite als Eigenschaft jüdischer Mentalität gebrandmarkt wird. Die Mühe, hier genau zu unterscheiden und Antisemitismus keine Nahrung zu geben, sollte Linken, die mit dem mörderischen Haß gegen JüdInnen im eigenen Land aufgewachsen sind oder zumindest die Geschichte der Judenvernichtung durch das NS-Regime studiert haben, nicht schwerfallen.

Den Staat Israel nicht von notwendiger Kritik an seinem Regierungshandeln auszunehmen und in die antirassistischen Proteste dieser Tage einzubeziehen, würde die Markierung des unverfälschten, auf jüdische Menschen und nicht auf staatliche Institutionen abzielenden Antisemitismus sogar erleichtern. Das Problem einer Linken, die zwischen Antikolonialismus und Antifaschismus nicht zu unterscheiden weiß, besteht gerade in der Verneblung aller Kriterien, anhand derer Rassismus und Antisemitismus konkret anzugreifen wären. Gemeinsame Sache mit einer Rechtsregierung zu machen, die von der radikalen Linken im eigenen Land nicht minder als von PalästinenserInnen kolonialistischer und rassistischer Praktiken bezichtigt wird, würde hierzulande normalerweise als Bestrebung zur Bildung einer "Querfront" verworfen werden.

Warum dies im Falle Israels ganz anders ist, erschließt sich zwar leicht aus der jüngeren deutschen Geschichte, die nicht zu vergessen und aufzuarbeiten zu den zentralen Aufgaben einer kämpferischen Linken gehört. Die politische Rücksichtnahme gegenüber den Nachkommen der Opfer der Shoah hat aber teilweise zu einer Form politischer Ignoranz geführt, die das gesamte linke Projekt, Ausbeutung und Unterdrückung auf internationalistische und herrschaftskritische Weise zu bekämpfen, in Frage stellt. Wenn nun junge Israelis entdecken, daß auch in ihrem Fall der Feind im eigenen Land steht, dann können sie sich der Unterstützung antikolonialistischer Bewegungen und internationalistischer Gruppen in aller Welt sicher sein. Auch wenn der Freiheitskampf der PalästinenserInnen seit dem letzten großen Gazakrieg 2014 international nur noch wenig Beachtung erhält, ist das Wissen um die politisch, sozial und ökonomisch bedrängte Lage der PalästinenserInnen aufgrund der vielen Jahrzehnte, die seit dem UN-Teilungsbeschluß 1947, der Gründung des Staates Israel 1948 und des Junikrieges 1967 vergangen sind, fester Bestandteil der kollektiven Erinnerung linker Kämpfe und und vor allem linken Scheiterns.


Emanzipatorische Kritik an zweckopportunistischen Herrschaftsstrategien

In der von Widersprüchen, Brüchen und Unvereinbarkeiten fragmentierten Landschaft ideologischer Bewertungen ist es von besonderer Ironie, daß die geplante Annexion palästinensischen Territoriums durch den Nahostplan des amtierenden US-Präsidenten erst möglich gemacht wurde. Wenn ein weißer Herrenmensch wie Donald Trump, der die antirassistischen Proteste in den USA mit Drohungen höchst aggressiver Art und einer Bestätigung eigener Suprematie quittiert, der Länder im Globalen Süden in kolonialistischer Manier "shithole countries" schimpft und MigrantInnen aus Lateinamerika mit antisemitischen Klischees erniedrigt, über das Verhältnis zwischen Israel und Palästina nach Gutsherrenart gebietet, dann kann das keine Grundlage für ein respektvolles Miteinander sein. Indem er einseitig für die Interessen der israelischen Rechten Position bezieht, legt Trump die Lunte an das Pulver neuer Kriege. Da ein Gutteil seiner Klientel in den USA aus evangelikalen MilleniaristInnen besteht, die ernsthaft daran glauben, daß in Armageddon die Endschlacht um die Herrschaft ihres Gottes geführt wird, und die das zionistische Projekt daher in Form einer kaum verdeckten Judenmission unterstützen, liegt die Bringschuld, sich gegen jeden Antisemitismus zu positionieren, ganz auf seiner Seite.

All das wird die deutsche Regierung in Probleme stürzen, aus denen sie kaum unbeschadet hervorgehen kann. Anfang Juli übernimmt sie die Ratspräsidentschaft der EU und den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat, womit sie an vorderster Stelle für die Beantwortung der Frage zuständig ist, wie mit der Annexion palästinensischer Gebiete nach Maßgabe internationalen Rechts umzugehen ist. Sanktionen, wie sie im Falle der Annexion der Krim durch Rußland ergriffen wurden, kommen nicht in Frage, soviel hat Außenminister Heiko Maas schon bei seinem aktuellen Besuch in Israel angekündigt. Eine solche Maßnahme wäre auch deshalb kaum zu vertreten, weil in einem Parlamentsbeschluß der antisemitische Charakter der mit "Boycott, Divestment and Sanctions" gegen die israelische Besatzungspolitik vorgehenden BDS-Bewegung festgestellt wurde.

Sich auf inhaltlich konzise und nicht zweckopportune oder bündisstrategische Weise mit dem Problem des Rassismus auseinanderzusetzen bleibt mithin einer Linken vorbehalten, die gerade deshalb, weil sie staatsautoritäre, kolonialistische und rassistische Strategien zu analysieren und zu kritisieren weiß, nicht den Fehler begeht, sich mit Kräften zu verbünden, deren Kernanliegen in der Stärkung nationalchauvinistischer, patriarchaler und kapitalistischer Positionen besteht. Um von einem Krisenmanagement, das das zusehends verarmte, strukturell unterdrückte und tendenziell überflüssig gemachte Proletariat und Subproletariat hauptsächlich mit den Kosten der Coronapandemie, der Klimakrise und der Krise des Kapitals belasten will, nicht überfahren zu werden, ist eine materialistische Herrschaftskritik und an emanzipatorischen Zielen ausgerichtete Ideologiekritik unabdinglich. Dies gilt auch für den wunden Punkt des Kampfes gegen jeden Antisemitismus, der nicht ohne trennscharfe Definitionen auskommt, wenn er sich in dieser epochalen Auseinandersetzung nicht selbst überflüssig machen will.


Fußnoten:

[1] https://www.activestills.org/search/search_value=israel|date_range_from=2020-06-5|date_range_to=2020-06-7|photograpthers_list=|locations_list=|keywords=/

[2] https://www.972mag.com/israel-jewish-left-apartheid/

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0439.html

11. Juni 2020


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