Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1886: Anstoß der Wirtschaft - auf dem Rücken der Alten ... (SB)



Der Wind hat sich gedreht. Der vorsichtige Umgang mit einer schwer auslotbaren Gefahr erscheint aufgrund der anwachsenden wirtschaftlichen Härten wie der psychischen Belastung der Bevölkerung durch die Quarantänemaßnahmen nicht mehr tragbar. An die Stelle der unterschiedslos verhängten Bewegungseinschränkungen sollen differenziertere Modelle der Infektionsabwehr treten, mit denen sich der Geschäftsbetrieb trotz weiter erfolgender Ansteckungen aufrechterhalten läßt. Angestrebt wird nichts weniger als eine nationale Abhärtungskur, mit der der Standort Deutschland Resilienz als Wettbewerbsvorteil erwirbt.

Da es sich bei den mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit, nicht nur infiziert zu werden, sondern auch einen schweren, krankenhauspflichtigen Verlauf zu haben, versehenen Gruppen der Bevölkerung meist um ältere Menschen handelt, stellt sich die Frage, wie diese Risikogruppen zu schützen sind, um jüngeren, von dieser Gefahr weit weniger betroffenen Personen die Wiederaufnahme eines normalen Lebens zu ermöglichen. Sogenannte Alte sind keine homogene Gruppe, denn zwischen dem ehemaligen Unternehmer, der sich in einer Villa im Grünen mit geringer Infektionschance abschotten kann, und dem Rentner, dem durch den Wegfall des Dosensammelns Hunger droht, bestehen die gleichen Klassenunterschiede wie in anderen Altersgruppen. Von daher läuft eine an Generationen orientierte soziale Differenzierung immer Gefahr, das konstitutive Moment kapitalistischer Widerspruchsdynamik mit neoliberaler Konkurrenzlogik zu überblenden.

Doch wo politische Entscheidungen auf der Basis epidemiologischer Medizinstatistik getroffen werden, kommt der Generationenlogik vor allem in der Wahrnehmung der Bevölkerung eine Bedeutung zu, die die ohnehin latente Altersdiskriminierung mit dem eugenischen Argument auflädt, demzufolge nicht mehr im Arbeitsleben stehende und überdurchschnittlich häufig kranke Menschen gesamtgesellschaftlich vor allem als Kostenfaktoren und damit Belastung in Erscheinung treten. Die Ökonomisierung des Lebens durch die Life Sciences begünstigt ein Akkumulationsregime, das sich einer Bewertung von Lebensqualität bedient, deren betonter, von BioethikerInnen unterstrichener Subjektcharakter den Vorwurf sozialeugenischer Bevölkerungspolitik ausmanövrieren soll.

In Wert gesetzt wird die subjektive Lebensqualität im Sinne dessen, daß ein Leben unter erschwerten körperlichen Bedingungen im Alter als nicht länger lebenswert disqualifiziert wird. Die in der Debatte um ärztliche Sterbehilfe und um die in zahlreichen Ländern praktizierte Euthanasie aufgeworfene Frage nach dem persönlichen "Benefit", so der bioethische Jargon, zu beantworten liegt jedoch nur bedingt im Ermessen der Betroffenen. Wie jeder Mensch sind sie zutiefst in soziale Tausch- und Wechselverhältnisse eingebunden, hängt ihr Selbstwertgefühl davon ab, was andere über sie sagen und wie sehr ihnen suggeriert wird, daß baldiges Ableben doch für alle das Beste wäre. Die Einstellung, man wolle den Kindern nicht mehr zur Last fallen, ist in dieser Gruppe weit verbreitet und öffnet terminalen, hauptsächlich Therapieverzicht empfehlenden Pflegekonzepten wie dem Advanced Care Planning [1] Tür und Tor.

Leben in Wert zu setzen ist von sozialen Handels- und Tauschprozessen nicht zu trennen. Der Warencharakter von allem und jedem nimmt die Logik sozialer Reproduktion nicht aus. So steht und fällt die Legitimität der Inanspruchnahme gesellschaftlicher Ressourcen durch den einzelnen Menschen mit dem Beitrag, den er zum gesamtgesellschaftlichen Produkt erbringt. Vor diesem Hintergrund wird mit der infektionsmedizinischen Fitneßkur, der Verbreitung des Coronavirus mehr Raum und Gelegenheit zu geben, das Einziehen biopolitischer Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung in Sicht auf ihren medizinischen Status wahrscheinlicher.


Sozialeugenischer Gehalt neoliberaler Entsicherung

Die immer wieder zu vernehmende Forderung, in diesem Fall müßten die Risikogruppen der älteren und vorerkrankten Menschen besser geschützt werden, könnte in einer Gesellschaft, in der jugendliche Fitneß gleichbedeutend mit erwünschter Leistungsfähigkeit und dem Zugang zu höherem Sozialstatus gesetzt wird, umschlagen in eine gruppenorientierte Sozialkontrolle, deren Maßnahmen vom Immunitätsausweis bis zum Verbot, die Wohnung zu verlassen, reichen könnten. Der Preis einer Gesellschaftsmaschine, deren Funktionsfähigkeit trotz Anwesenheit eines endemisch gewordenen hochinfektiösen Erregers aufrechterhalten wird, könnte mithin für einige Betroffene darin bestehen, unabsehbar andauernde Kontaktverbote und Bewegungseinschränkungen in Kauf nehmen zu müssen.

Die gegen die Fortsetzung eines alle gleichermaßen betreffenden Quarantäneregimes gerichteten Proteste mögen in Hinsicht auf die Gefahr, daß grundrechtliche Einschränkungen nicht mehr rückgängig gemacht werden, richtig liegen. Für die Korrelation von staatlichem Krisenmanagement und dem Ausbau von Sondervollmachten und Herrschaftstechniken gibt es viele historische Beispiele, ist die Instrumentalisierung von Krisen der Staatsräson kapitalistischer Widerspruchsregulation doch tief ins Machtgetriebe eingeschrieben. Die Behauptung, daß die Quarantäne- und Überwachungsmaßnahmen rundheraus übertrieben seien, weil es keinen Beleg dafür gebe, daß die rigide Bekämpfung der Ausbreitung von COVID-19 durch Tests, das Zurückverfolgen der Kontakte, durch Quarantäne und Social Distanzing für die Eindämmung der Pandemie spezifische Wirkung entfalten, wäre allerdings noch stichhaltig zu beweisen.

Das häufig dazu angeführte Beispiel Schweden, wo das Ziel, schnell Herdenimmunität zu erreichen, lange Zeit verfolgt wurde, bis insbesondere in Pflegeheimen Einschränkungen des öffentlichen Lebens unausweichlich erschienen, eignet sich insofern kaum, als die Todesrate von 31,6 Fällen auf 100.000 EinwohnerInnen dort über dreimal so hoch ist wie in der Bundesrepublik, wo 8,9 Fälle registriert wurden (Stand 10. Mai). Dabei hat die viel höhere Bevölkerungsdichte in Deutschland die Ausbreitung des Coronavirus zusätzlich begünstigt. Das benachbarte Norwegen, wo die Pandemie in einem vergleichbaren Zeitraum begann, hat nur 4,0 Tote auf 100.000 EinwohnerInnen, was auf strikte Quarantäne, viel Testen und Nachverfolgen der Kontakte Infizierter zurückgeführt wird. [2]

Zu einem extrem unterschiedlichen Verlauf kam es auch in den in Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte gut vergleichbaren Metropolen Hongkong, wo bis zum 7. Mai 4 COVID-19-Todesfälle registriert wurden, und New York City mit 19.174 Todesfällen [2]. Es ließen sich zahlreiche Vergleiche anführen, die im Widerspruch zu der Behauptung stehen, die bislang mehrheitlich als notwendig erachteten Maßnahmen der Infektionsabwehr seien unbegründet und überflüssig. Bezieht man die überproportionale Betroffenheit sozial benachteiligter und besonders vulnerabler Gruppen der Bevölkerung ein, die weniger das Alter als insbesondere den ökonomischen Status und die ethnische Herkunft betreffen, dann ist die Nähe von Protesten gegen die Quarantäneauflagen, die meinen, ohne Staats- und Herrschaftskritik im sozial emanzipatorischen Sinne auszukommen, zur Neuen Rechten offenkundig. Ob gewollt oder nicht, diese Proteste sind Wind in die Segel der BefürworterInnen einer Strategie des schnellen Erreichens von Herdenimmunität, die von der Immananz sozialeugenischen Denkens nicht freigesprochen werden kann.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0024.html

[2] https://www.ecdc.europa.eu/en/cases-2019-ncov-eueea

[3] https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-new-york-und-hongkong-im-covid-19-vergleich-a-5b6202b4-5500-4c05-acc6-0e36547e9190

10. Mai 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang