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HERRSCHAFT/1881: Marktkooperation - ausgeschlossen ... (SB)



"Wettbewerbsverzerrung" wird beklagt, wenn der Spagat zwischen Infektionseindämmung und Marktaktivität zur unterschiedlich gestaffelten Wiedereröffnung von Geschäften führt. Selbstverständlich ist diese Gesellschaft so wie jedes auf Konkurrenz basierende System ungerecht, das ist der zentrale Motor des daraus erstehenden Zwangs zu Produktivität und Wachstum. Die Möglichkeit zu bedenken, sich kooperativ und kollektiv zu organisieren, anstatt den jeweils anderen als Brennstoff der großen Maschine zu verheizen, wird bestenfalls bedacht, wenn es zu spät ist. Wo nicht nur, aber besonders für ältere und vorerkrankte Menschen die Gefahr einer gefährlichen Ansteckung besteht, nimmt der dröhnende Schwall der Marktrhetorik derart zu, daß er früher oder später alle Rücksichtnahme wegzuspülen droht.

Dabei gäbe es gerade jetzt viel Anlaß, über ein Leben zu beraten, das die Übervorteilung des anderen nicht zur Grundlage eigener Lebenswirklichkeit macht. Auch heute sind Wettbewerb und Marktkonkurrenz Chiffren eines ökonomischen Kampfes, die auf die Überforderung des anderen abzielen. Wenn Menschen auf der Strecke des Vergleiches ihrer Leistungsfähigkeit bleiben, wird das als positive Bestätigung der Normen effizienterer Produktion und rationellerer Betriebsführung aufgefaßt. Der Markt ist bei aller kartellrechtlichen und ordnungspolitischen Einhegung sozialdarwinistisch organisiert, das bestätigt die häufig angemahnte "Fairneß", die das grundlegende Gegeneinander regulativ befriedet und gerade damit den dauerhaften Bestand einer Marktlogik sichert, der humane, zivile, solidarische und kollektive Praktiken im Weg stehen, sofern sie nicht in der Lage ist, ihren bloßen Schein als Verkaufsargument zu instrumentalisieren.

Im seuchenmedizinischen Verschlußzustand übersetzt sich marktförmige Konkurrenz als argwöhnisches Beäugen jeder Bewegung, die andere machen dürfen und einem selbst vorenthalten bleiben. Doch so ungerecht wie die Reproduktionsweise von Menschen, die vollständig vom Verkauf ihrer Lebenszeit und -kraft abhängig sind, kann die Bevorteilung oder Benachteiligung, die aus einer differenzierten Aufhebung des Betätigungsverbotes von Geschäften resultiert, ohnehin nicht sein. ArbeiterInnen identifizieren sich mit ihrem Unternehmen vor allem, weil ihre Existenzsicherung von seinem Erfolg abhängt, der wiederum daran geknüpft ist, ihren Lohnanteil am Gesamtaufwand so gering wie möglich zu halten. Sie hätten gerade jetzt allen Anlaß, die Basis dieser Abhängigkeit zu bestreiten und die Aufhebung der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung durchzusetzen.

Da sich der ökonomische Niedergang schon vor der Coronakrise angekündigt hat und nun ein wirtschaftlicher Absturz von historischem Ausmaß bevorsteht, wäre es an der Zeit, sich über den engen Horizont kapitalistischer Wertproduktion zu erheben und Kooperation und Solidarität auf denkbar radikale Weise zu verwirklichen. Diese Krise hat ein solches Ausmaß an Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten in der dominanten gesellschaftlichen Organisationsform offen zutage gelegt, daß die Gelegenheit, die Gültigkeit der Tausch- und Vergleichsparameter kapitalistischer Verwertung fundamental zu bestreiten, kaum besser sein könnte.

An dieser Stelle weiterhin stillzuhalten macht die notwendigen Schritte, derer es zur Schaffung eines im Zweifelsfalle ökosozialistischen Neubeginns bedarf, immer schwieriger. Die Entwicklung innovativer Formen biopolitischer Sozialkontrolle und staatlicher Herrschaft ist in vollem Gange, und natürlich dienen die neuen Instrumente administrativer Verfügungsgewalt nicht nur der Bekämpfung eines infektiösen Agens. Der Absicht, das Aufbegehren gegen die nicht geringer werdenden Widersprüche klassengesellschaftlicher Gegenseitigkeit zu unterdrücken und verstummen zu lassen, Fragen entgegenzustellen, die die Ingenieure und Technokraten sozialer Herrschaft in ihren Absichten bloßstellen, wäre ein guter Beginn auf diesem Wege.

17. April 2020


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