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HERRSCHAFT/1876: "Corona-Kapitalismus" - Systemwechsel ... (SB)



Alle europäischen Regierungen stellen ihre Maßnahmen unter die Prämisse, die kapitalistische Produktion, also die gesamte Arbeitswelt und damit die Mehrwert- und Profiterzielung, möglichst gering einzuschränken und soweit es geht aufrechtzuerhalten. Die Regierungen konzentrieren sich in ihrer Eindämmungsstrategie auf die Bereiche der Reproduktion und der Zirkulation von Menschen. Das ist eine politische Wahl und nicht Ergebnis einer epidemiologischen Abwägung. Wenn die Eindämmung der Ausbreitung der Krankheit das oberste Ziel wäre, müssten die Regierungen anders handeln und auch große Teile der gesellschaftlich nicht unmittelbar notwendigen Produktionsprozesse und Verkehrsinfrastruktur für eine gewisse Zeit stilllegen.
Verena Kreilinger und Christian Zeller - Corona-Pandemie - eine historische Wende [1]

Was auf die einen wie ein finsterer Traum wirken mag, aus dem man nicht mehr erwacht, sondern in dem man sich immer tiefer verläuft, stellt für andere die Chance dar, die herrschenden Bedingungen zu Lasten der Mehrheit der Menschen weiter zu vertiefen. Naomi Klein, Autorin des 2007 veröffentlichten Klassikers sozialökologischer Bewegungen Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus (The Shock Doctrine - The Rise of Disaster Capitalism), wendet die darin erhobene These von dem wiederkehrenden Muster einer Instrumentalisierung krisenhafter Eskalationen durch mächtige Akteure in Staat und Kapital nun auf die aktuelle Entwicklung der Corona-Pandemie an. In dem Video Coronavirus Capitalism - And How to Beat It [2] erklärt sie anhand mehrerer Beispiele aus dem Krisenmanagement der Trump-Regierung, wie einmal mehr versucht wird, aus den anwachsenden Problemen der von der Pandemie betroffenen Menschen im übertragenen wie wortwörtlichen Sinne Kapital zu schlagen.

So kündigt US-Präsident Trump finanzielle Rettungsstrategien für Konzerne aus der Versicherungswirtschaft, der zivilen Luftfahrt und fossiler Industrien an, während ohnehin rudimentäre sozialpolitische Hilfseinrichtungen und Steuerregelungen weiter geschwächt werden. Dies wird, wenn auch auf nicht unmittelbar gleichzusetzende Weise, in der EU und der Bundesrepublik praktiziert, wie die vor allem um den Schutz der Wirtschaft kreisenden Bemühungen der Bundesregierung belegen. Die wirtschaftliche Rettung angeschlagener Unternehmen der Passagierflugzeugbranche und Tourismusindustrie als auch Debatten um die Fortsetzung des kommerziellen Unterhaltungssportes haben den Krisendiskurs noch zu einer Zeit geprägt, als das Beispiel China schon gezeigt hat, wie verheerend sich die unkontrollierte Verbreitung des Coronavirus entwickeln kann.

Auf Zugeständnisse an ArbeiterInnen in Form vollständiger Lohnfortzahlung bei Einstellung der Arbeit, um nicht weiterhin auf engem Raum mit den KollegInnen am Band stehen zu müssen, der Etablierung eines gut ausgebauten, zeitlich durchregulierten Schutzes der vielen Menschen im Einzelhandel, die tagtäglich den Massenansturm kaufwütiger Menschen bewältigen müssen, der Entkopplung des Gesundheitswesens von der betriebswirtschaftlichen Logik des Fallpauschalensystems oder des Verbotes jeder Form von Zwangsräumung ist kaum zu hoffen. Gesundheitsminister Jens Spahn hat mit dem Satz "Es ist sicher leichter, auf ein Konzert, einen Klubbesuch, ein Fußballspiel zu verzichten als auf den täglichen Weg zur Arbeit" [3] gut zusammengefaßt, wo die Prioritäten liegen. Der hochgradig auf Rohstoffimporte und Warenexport angewiesene Wirtschaftsstandort Deutschland soll die Krise möglichst unbeschadet überleben, um daraus, analog zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008, gestärkt als EU-Hegemon hervorzugehen.

Im Unterschied zu früheren die Republik erschütternden Ereignissen spielt sich das Geschehen nicht nur im Kreditwesen ab, wo Bankencrash und Rezessionen drohen. Die Pandemie droht die Güterproduktion desto mehr lahmzulegen, als sie von den hochgradig miteinander verschränkten, statt konventioneller Lagerhaltung auf just in time-Lieferung setzenden Produktionsketten abhängig ist. Der Virus hat praktisch das Herz der Maschine erreicht und droht es zum Stillstand zu bringen. Selbst das notorische Mittel kapitalistischer Krisenbewältigung, die Defizite elementarer Existenzsicherung mit aggressiver Kriegführung zu kompensieren und dabei eine Bereinigung der Überakkumulation zwecks Neustart auf niedrigerer Ebene zu erhoffen, scheint immer weniger in Frage zu kommen. Jetzt einen Krieg zu führen schnitte so tief ins Fleisch gesellschaftlicher Reproduktion, daß am Ende nicht einmal die üblichen Gewinner davon profitieren könnten.

Der auf staatskapitalistische und neokolonialistische Interessen verengte Blick ist der wesentliche Grund für die Verzögerung, mit der in Westeuropa und Nordamerika zu einschneidenden Maßnahmen gegriffen wurde, obwohl - oder gerade weil - China und Südkorea gezeigt haben, wie sich das Tempo der epidemischen Ausbreitung von COVID-19 auf ein mit den vorhandenen medizinischen Möglichkeiten beherrschbares Maß reduzieren läßt. Die bürgerlichen Freiheiten, mit denen in den Zentren der liberalen Staatsdoktrin USA, UK, Deutschland, Frankreich das zögerliche Krisenmanagement gerechtfertigt wurde, dienen keinem anderen Ziel, als die Ware Lohnarbeit so flexibel und verfügbar zu halten wir irgend möglich. Besonders deutlich zeigt sich dies am britischen Krisenmanagement, wo die ältere Generation und gesundheitlich vorbelastete Menschen willkürlich und bedenkenlos der Doktrin der kreativen Zerstörung oder systematisch erzeugten Disruption geopfert werden [4]. Nichts könnte die Relevanz der Schock-Doktrin Naomi Kleins besser bestätigen als die für die Wiege des kapitalistischen Ultraliberalismus symptomatischen Strategien einer Bewirtschaftung der Lohnabhängigenklasse, die von Sklaverei und Arbeitshaus bis zu sozialeugenischer Bevölkerungskontrolle und der Zerschlagung der Gewerkschaften eine blutige Spur neofeudaler Unterdrückung hinterläßt.

Dementsprechend widersprüchlich erscheint die notwendige Eindämmung der Pandemie. Die sich zwischen staatsautoritärer Ermächtigung und subjektiver Autonomie auftuende Kluft mit liberaldemokratischen Argumenten zu beackern entkommt der fortgesetzten Legitimierung mehrwertschaffender Lohnarbeit nicht. Zugleich lassen sich bei dem Versuch, sich nach Maßgabe reformlinker Transformationslogik aus der doppelten Schlinge arbeitsgesellschaftlicher Zurichtung und physischer Verletzbarkeit herauszuarbeiten, nur wenige Anhaltspunkte für eine emanzipatorische Öffnung finden. In Anbetracht des verheerenden Anstieges der Neuinfektionen läßt sich schlicht nicht vermeiden, in einer arbeitsteilig hochgradig funktionalisierten, mit zahlreichen Begegnungsflächen und Tauschvorgängen auf Trab gehaltenen Bevölkerung möglicherweise auch längerfristige Formen der sozialen Isolation zu vollziehen.

Die nun auch in der Bundesrepublik vollzogenen Maßnahmen zur Infektionsabwehr sind notwendig und kommen de facto zu spät, bergen aber auch den Keim überschießender Ermächtigung in sich, da trügt der schleichende Verdacht nicht. Wo der vertraglich geregelte Verkehr der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung zur unabdinglichen Voraussetzung gesellschaftlichen Miteinanders erhoben wird, kann es nicht erstaunen, daß sozialdarwinistisches Gegeneinander das Feld von Konkurrenz und Wettbewerb getriebener Marktsubjekte beherrscht.

Unterhalb der Schwelle sozialrevolutionärer Überwindung der herrschenden Verwertungsordnung scheint das Maximum des Erreichbaren in einem Green New Deal sozialdemokratischen Zuschnitts zu bestehen, wie ihn Naomi Klein anläßlich des aktuellen Krisenschocks vorschlägt. Ihre Empfehlung, die dadurch entstandene Handlungsfreiheit nicht den Akteuren in den Regierungen und Konzernzentralen zu überlassen, sondern für eine gesellschaftliche Transformation zu nutzen, in der die Begrenzung der Klimakrise auf sozial gerechte Weise erreicht wird, verfügt zumindest über große Mobilisierungswirkung. Sie könnte aufgegriffen werden als work in progress, um überhaupt erst einmal auf breiter Basis diejenige Kritikfähigkeit zu entwickeln, ohne die eine produktive Entwicklung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nach sozialökologischen Prinzipien nicht stattfinden wird.

Den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas, die auf dem Rücken der Bevölkerungen des Globalen Südens eine relative gesellschaftliche Befriedung erwirtschaftet haben, steht ein Zusammenbruch vertrauter Gewißheiten bevor, der von kaum geringerer Erschütterungswirkung sein könnte als der auslösende Faktor COVID-19. Viele werden eine existentielle Gefährdung für garantiert gehaltener Versorgungssicherheit und berechenbar erscheinender Lebensperspektiven erleben müssen, wie es ansonsten nur von Krieg, Hunger und Flucht betroffene Menschen tun. Die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten nicht auf die von Naomi Klein entworfene Perspektive eines grünen Kapitalismus zu begrenzen wäre allerdings die beste Option zur Verhinderung weiterer gesellschaftlicher Schocks.

Ob das daran anknüpfende Projekt Ökosozialismus oder anders genannt wird, entscheidend ist die Aufhebung der kapitalistischen Verwertungsordnung zugunsten eines nicht mehr aggressiv verbrauchenden Umgangs mit allen Lebewesen inklusive des Menschen selbst. Warum dieses Ziel unverzichtbar ist, dafür bietet der "Corona-Kapitalismus" Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle. Das Nebeneinander von akkumulationsgetriebener Aneignung und den unmittelbaren Erfordernissen des gesundheitlichen und sozialen Schutzes der Bevölkerungen erzeugt Kontraste schmerzhaftester und widersinnigster Art.

Demgegenüber mag sich das Ziel, Bedürfnisse egalitär unter möglichst weitreichender Vermeidung destruktiver Stoffwechselprozesse zu befriedigen, utopisch anhören. Dieser ferne Fluchtpunkt progressiver sozialgeschichtlicher Ideenbildung hebt das Ideal, das aus dem proletarischen Widerstand gegen den aufstrebenden Kapitalismus und seine zunehmend zerstörerischen Energien hervorgetreten ist, auf den heutigen Stand destruktiver Entwicklung. Der Wunsch, den schmerzhaften Zwängen entfremdeter Arbeit und existenziellen Mangels zu entkommen, durchzieht die bekannte Geschichte in Form sozialrevolutionärer Aufbrüche von Beginn an. Am Horizont zivilisatorischer Entwicklung ist der Gegenentwurf eines Friedens, der sich nicht, wie im Mythos des auf den persischen Begriff für "Einzäunung" zurückgehenden Paradieses als ausbruchssichere Weide zu schlachtender Schafe imaginiert, sondern den Traum der Gewaltfreiheit für alle realisiert, zu allen Zeiten sichtbar gewesen. Hier gibt es vieles wiederzuentdecken, an vieles kann angeknüpft werden und viel kann aus der Bewegung für eine bessere Zukunft selbst hervorgehen.


Fußnoten:

[1] http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2020/03/VK_CZ_20200320_Corona_Gesundheit.pdf

[2] https://theintercept.com/2020/03/16/coronavirus-capitalism/

[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-spahn-wieler-robert-koch-institut-pressekonferenz-1.4837615

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1052.html

22. März 2020


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