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HERRSCHAFT/1823: Istanbul - Dauermanipulation ... (SB)



Gegen die AKP bei der Wahl anzutreten ist erlaubt, aber gewinnen ist verboten. Dieses System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert, ist weder demokratisch noch legitim. Das ist schlicht und einfach eine Diktatur.
Onursal Adigüzel (Vize-Vorsitzender der türkischen CHP) [1]

Wenn angesichts der Annullierung des Votums bei der Kommunalwahl in Istanbul davon die Rede ist, Recep Tayyip Erdogan habe den Rubikon überschritten, bleibt zuallererst anzumerken, daß in der Türkei schon seit Jahren keine freien Wahlen mehr stattfinden. Der Staatspräsident hat im Zuge seiner Machtübernahme Urnengänge als Legitimationshilfen instrumentalisiert, soweit sie zu seinem Vorteil ausfielen, aber kaum ein Mittel unversucht gelassen, um einen Wahlausgang zu seinen Gunsten zu erzwingen. Schritt für Schritt hat die Erdogan-Regierung alle wichtigen Institutionen unter ihre Kontrolle gebracht. Justiz und Medien wurden gleichgeschaltet, das Parlament wurde entmachtet, gewählte Politiker landeten im Gefängnis, zuletzt verweigerte man neugewählten kurdischen Bürgermeistern das Amt. Im Jahr 2015 ließ Erdogan schon einmal eine Parlamentswahl wiederholen, weil ihm das Ergebnis nicht paßte. Damals zweifelte er allerdings das Wählervotum an sich nicht an, sondern setzte lediglich alle Hebel in Bewegung, um in einem zweiten Anlauf das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Massenverhaftungen und -entlassungen unter dem allgegenwärtigen Verdikt, jegliche oppositionellen Bestrebungen dem "Terrorismus" oder der Gülen-Bewegung zuzuordnen und zu verfolgen, haben den demokratischen Staat längst zu Grabe getragen.

Wer in Reaktion auf den jüngsten Coup des türkischen Machthabers verbalradikal vom Leder zieht, muß sich daher die Frage gefallen lassen, ob er mit derselben Vehemenz gegen Erdogan zu Felde gezogen ist, als dieser die kurdischen Gebiete im eigenen Land und in Nordsyrien unter Einsatz deutscher Waffen militärisch angreifen ließ, um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen. Er muß sich weiter die Frage gefallen lassen, warum die Bundesrepublik türkische und kurdische Linke zu politischen Gefangenen macht, oder Wirtschaftsminister Altmaier deutsche Investitionen in der Türkei anschiebt und damit der durch die Währungskrise schwer angeschlagenen Regierung in Ankara Luft verschafft. Doch all das sind natürlich nur rhetorische Fragen, da eher nicht anzunehmen ist, daß Berlin oder Brüssel der Rock der vielzitierten Menschenrechte näher als das Hemd machtpolitischer Erwägungen wäre. Ob als Flankenschutz der NATO, Blockade der Flüchtlingsbewegung nach Kerneuropa oder Handelspartner, die Türkei bleibt aus Perspektive deutscher Regierungspolitik und Handlungsmaximen der EU auch unter Erdogan ein Verbündeter, dessen man sich zu bedienen gedenkt. Der Rest ist Theaterdonner fürs Publikum, da von ernsthaften Konsequenzen nicht die Rede sein kann.

Daß die AKP bei den Kommunalwahlen am 31. März zusammen mit der MHP zwar landesweit gewonnen, aber mit Istanbul, Ankara, Antalya und Adana vier der fünf größten Städte an die Opposition verloren hat, zeugte angesichts der widrigen Umstände bei Urnengängen in der Türkei um so mehr von wachsenden Problemen des Regimes, eine Mehrheit der Bevölkerung bei der Stange zu halten. Neoosmanische Expansionsgelüste, nationalistische Überhöhung des Türkentums, islamistische Formierung der Gesellschaft oder rassistische Verdrängungs- und Vernichtungszüge gegen die Kurdinnen und Kurden reichen als Bindemittel nicht aus, wenn das Versprechen auf eine florierende Ökonomie und Wohlstand für alle wegbricht. Immer mehr Menschen können sich nicht mehr angemessen ernähren und sind auf staatlich subventionierte Nahrungsmittel angewiesen, der Lebensstandard der ohnehin ärmeren Schichten sinkt auf breiter Front.

Warum sich Erdogan massiv in den Wahlkampf eingemischt und insbesondere in Istanbul das Votum zu einer Abstimmung über seine Politik gemacht hatte, liegt auf der Hand. Die Stadt ist seine politische Heimat, dort war er selbst Bürgermeister, und wie auch die Hauptstadt Ankara wurde sie 25 Jahre lang von der AKP regiert. Im Großraum Istanbul leben mehr als 15 Millionen Einwohner und damit knapp ein Fünftel aller türkischen Staatsbürgerinnen und -bürger. Die Wirtschaftsmetropole ist auch als türkisches Kultur- und Finanzzentrum bekannt, so daß Erdogans Credo, daß die Türkei regiere, wer Istanbul regiert, weit mehr als bloße Wahlkampfrhetorik war. Dort entscheidet sich, ob der Präsident über seine ursprüngliche Anhängerschaft im konservativen Anatolien hinaus die für seine Herrschaft unverzichtbaren Mehrheiten gewinnen kann.

Nicht nur mit aberwitzigen infrastrukturellen Megaprojekten wie Brücken, Tunneln und dem künftig größten Flughafen der Welt hat Erdogan dieser Region seinen Stempel aufgedrückt, er läßt auch die größte Moschee das Landes von einem Berghang auf sie herabblicken, als drohe er der Moderne der Metropole seine religiösen Zügel an. Die massive Bereicherung seines Familienclans hat auch hier ihre Netzwerke, und die beim Schlag gegen die Gülen-Bewegung geraubten enormen Besitztümer, die eine Umstrukturierung der nationalen Kapitalfraktionen herbeiführte, dürfen sich der Verpflichtung gegenüber seinem paternalistischen Wirtschaften nicht entziehen. Das gesamte System aus Repression, Gunsterweisen und Korruption, welches Seilschaften knüpft, Nutznießer schafft und Akzeptanz erkauft, steht und fällt mit seiner Funktionstüchtigkeit in der Metropole Istanbul. Wird der "Sultan" in den rückständigeren Landesteilen durchaus als solcher verehrt, da jedes öffentliche Projekt und jede Sozialleistung aus seiner gnädigen Hand zu kommen scheint, geht es in Istanbul sehr viel mehr das Arrangement einer modernen großstädtischen Einwohnerschaft und nicht zuletzt der Wirtschaftseliten mit einem Machthaber, der ihren Interessen zugute kommt.

Das knappe Scheitern der AKP in Istanbul ist mehr als nur der vielzitierte herbe Gesichtsverlust für Erdogan. Er ist zu weit gegangen und hat zu viele Leichen im Keller, als daß er sich eine Niederlage leisten und früher oder später mit einer Rolle als Oppositionspolitiker bescheiden könnte. In Gestalt des Präsidialregimes hat er sich die Machtfülle eines Despoten verschafft und zugleich so viele Feinde bis in die vorgeblich eigenen Reihen hinein gemacht, daß es für ihn keinen Rückweg gibt. Folglich läßt er nicht zu, daß die Opposition in Istanbul gewinnt, da dies womöglich der Anfang vom Ende seines Regimes sein könnte.

Der Präsident sprach schon kurz nach der Wahl von Regelwidrigkeiten und "Diebstahl an den Urnen". Seine Partei habe ein "organisiertes Verbrechen" bei der Wahl festgestellt. Vor wenigen Tagen legte er nach und erhöhte mit dem Vorwurf des "Makels" und der Korruption den Druck auf die Hohe Wahlkommission, dem Antrag auf Annullierung stattzugeben. Zwischenzeitlich hatten Staatsanwälte Ermittlungen eingeleitet und angeblich herausgefunden, daß 43 der 100 überprüften Mitarbeiter der Wahlbehörden in Verbindung mit dem Gülen-Netzwerk stünden. Damit war die Drohkulisse aufgebaut und das Szenario vorgegeben, eine Kehrtwende der Wahlkommission herbeizuführen. Da diese von vornherein als Werkzeug der AKP-Regierung galt, überraschte ihre ursprüngliche Entscheidung, den Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu von der CHP zum Wahlsieger zu erklären und ihm die Urkunde zu überreichen, die seinen Erfolg bestätigte. Auf diese vorgebliche Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen folgte nun die Mehrheitsentscheidung des Gremiums, eine Wiederholung der Wahl für den 23. Juni anzusetzen. [2]

Die Begründung könnte fadenscheiniger kaum sein. Nachdem sich die von Erdogan zunächst angekündigten Beweise für Unregelmäßigkeiten wie Dokumente und Videoaufnahmen offenbar in Luft aufgelöst hatten, fabrizierte die Hohe Wahlkommission eine formale Lösung des Problems. Die Behörde will unter anderem festgestellt haben, daß manche Vorsitzende der Wahlräte und deren Mitglieder keine Beamten waren. Das verstoße nach einer Änderung des Wahlgesetzes vom vergangenen Jahr gegen die Vorschriften. Die AKP hatte damals trotz Einspruchs der Opposition durchgesetzt, daß nur noch Staatsbedienstete den Vorsitz in Wahlräten innehaben dürfen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Ekrem Imamoglu machte umgehend darauf aufmerksam, daß auch die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr mit denselben, nun von der AKP beanstandeten Wahlhelfern stattgefunden habe. Dann sei die Wahl, die Präsident Recep Tayyip Erdogan im Amt bestätigt hatte, ja wohl auch fehlerhaft, meinte der Kandidat der CHP. [3]

Die größte Oppositionspartei ist fest entschlossen, abermals massenhaft zu mobilisieren und im zweiten Anlauf noch deutlicher zu gewinnen. Die Anhängerschaft zu motivieren, sollte ihr durchaus gelingen, zumal die Empörung über den Kurswechsel der Wahlkommission und Erdogans Einfluß hohe Wogen schlägt. Entscheidend dürfte indessen das Wahlverhalten der kurdischen Bevölkerung sein, da die AKP nur deshalb übertroffen worden war, weil die HDP wie auch in anderen großen Städten auf eine eigene Kandidatur verzichtet hatte, um die oppositionellen Stimmen zu vereinen. Erdogan trägt dem mit einem neuerlichen Winkelzug Rechnung. Er hatte in der Vergangenheit die kurdischen Stimmen eingeworben, indem er eine Politik der Versöhnung und einen Friedensprozeß mit der PKK in Aussicht stellte. Später warf er den Schafspelz ab und fiel gnadenlos über die Kurdengebiete im Südosten des Landes her. Nun versucht er abermals, die "kurdische Karte" zu ziehen.

So erhielten vor wenigen Tagen erstmals wieder Anwälte Zugang zu Abdullah Öcalan, dem Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung, der sich seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung im Februar 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali befindet, auf der er elf Jahre lang der einzige Häftling war. Nach einem Besuch seiner Anwälte am 27. Juli 2011 wurde ihm fast acht Jahre lang jeglicher Rechtsbeistand verwehrt. Nach dem letzten Familienbesuch am 11. September 2016 war sein Bruder Mehmet Öcalan erstmalig wieder am 12. Januar 2019 für ein 15minütiges Gespräch auf Imrali. Am 7. November 2018 begann die HDP-Abgeordnete Leyla Güven im Gefängnis von Amed (Diyarbakir) einen unbefristeten Hungerstreik, mit dem die 54jährige Politikerin die Aufhebung der Isolation Öcalans forderte. Seit dem 1. März befinden sich rund 7.000 politische Gefangene aus PKK- und PAJK-Verfahren im Hungerstreik. Am 30. April traten 15 politische Gefangene aufgrund der anhaltenden Ignoranz der türkischen Regierung ins "Todesfasten", bei dem die Häftlinge nur noch Wasser, Zucker und Salz zu sich nehmen und die Aufnahme von Vitaminen verweigern. [4]

Diesen auch in Istanbul, der Stadt mit der zahlenmäßig größten kurdischen Bevölkerung des Landes, wahrgenommenen Kampf gegen die Isolation Abdullah Öcalans plant Erdogan offensichtlich mit dem gewährten Anwaltsbesuch zu unterlaufen. Er hofft zweifellos, die Opposition zu spalten und ihr einen Anteil kurdischer Stimmen abspenstig zu machen, der ausreicht, um das Blatt bei der Wiederholung der Kommunalwahl in der Metropole zu wenden. Die kurdische Wählerschaft hat es in der Hand, angemessene Konsequenzen aus ihren Erfahrungen mit Erdogans Avancen zu ziehen und seinem machiavellistischen Machtkalkül eine gebührende Abfuhr zu erteilen. Nachdem die Kehrtwende der Hohen Wahlkommission bekannt geworden war, standen in mehreren Bezirken Istanbuls die Menschen an den Fenstern und schlugen auf Töpfe und Pfannen - eine Protestform, die sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 etabliert hatte. Mögen Recep Tayyip Erdogan selbst in seinem monumentalen Präsidentenpalast im fernen Ankara davon die Ohren klingen!


Fußnoten:

[1] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_85705978/tuerkei-neuwahl-in-istanbul-antreten-erlaubt-gewinnen-verboten-.html

[2] www.taz.de/!5593474/

[3] www.tagesschau.de/ausland/istanbul-wahlwiederholung-reaktion-101.html

[4] www.civaka-azad.org

7. Mai 2019


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