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HERRSCHAFT/1782: Brasilien - Lula fällt ... (SB)



Der damalige US-Präsident Barack Obama bezeichnete ihn 2010 als den "populärsten Politiker auf Erden", und das Time-Magazin erklärte ihn zur "einflußreichsten Person weltweit". Wie die Financial Times anerkennend schrieb, habe seine Präsidentschaft "Brasiliens Umarmung des Kapitalismus und der Globalisierung" auf den Weg gebracht. Zugleich verehrt man ihn namentlich im verelendeten Nordosten des Landes bisweilen wie einen Heiligen, da er mehr für seine armen Landsleute getan habe, als all seine Vorgänger. Luiz Inácio Lula da Silva, aus einfachsten Verhältnissen zum Gewerkschaftsführer, Vorsitzenden der von ihm mitbegründeten Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) und Präsidenten des Landes aufgestiegen, galt als Vater des vielgepriesenen Erfolgsmodells Brasilien. Das aufstrebende Schwellenland schien gleichermaßen einen gewaltigen ökonomischen Sprung in die Riege der Wortführer einer multipolaren Weltordnung vollzogen wie auch die extremen inneren Widersprüche gebändigt zu haben. Angesichts der globalen kapitalistischen Systemkrise mutete die damit assoziierte Botschaft, die Epoche für unvereinbar erachteter Klassengegensätze lasse sich zugunsten einer Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte überwinden, wie die frappierende Beweisführung einer vordem nur gepredigten Heilslehre an.

Im langen Marsch durch die Institutionen verwandelte Lula wie kein anderer Politiker seiner Generation das Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse in einen Aufstieg an die Regierungsmacht, in dessen Verlauf er alles abzuwerfen verstand, was ihm als widerspruchsbehafteter Ballast den Eintritt in die Sphäre nationaler Eliten verwehrt hätte. Ihn zeichnete insbesondere die innovative Befähigung aus, Widerstände zu befrieden, Gegenkräfte einzubinden und einen inspirierenden nationalen Mythos zu generieren, der die horrende soziale Kluft dauerhaft zu brücken schien. Seine Präsidentschaft stand für eine vertrauenswürdige Garantie, das Rad kapitalistischer Verwertung allen Unkenrufen zum Trotz weiterzudrehen. Brasilien galt als Beweis, daß sich die Krisenfolgen eindämmen lassen, sofern man das Tor zur Zukunft offenzuhalten versteht. Das unverhohlene Lob des brasilianischen Präsidenten war durchaus handfester Natur, schien es doch dem globalisierten Raubzug in finsterster Nacht den Weg zu leuchten.

Ohne Lulas vielschichtigen Talente in Abrede zu stellen, lagen doch wesentliche Triebkräfte seines Erfolgs wie die globale Integration des Kapitalismus und der sechzehn Jahre währende Boom der Rohstoffe jenseits seiner Kontrolle. Angesichts dieser Voraussetzungen gelang es ihm, Wachstum und Konzentration des brasilianischen Kapitals auf beispiellose Weise zu befördern, wofür ihm der Rückhalt der Wirtschaftseliten sicher war. Seit Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahr 2002 stiegen allein die Profite der Banken um 420 Prozent, während transnationale Konzerne wie Brasil Foods, Petrobas, das Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce oder der Flugzeugbauer Embraer in die Weltspitze ihrer Branchen aufstiegen.

Zugleich wurde unter anderem das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia aufgestockt, in dessen Rahmen den ärmsten Familien 40 Dollar im Monat sowie weitere 12 Dollar für jedes Kind, das sie zur Schule schicken, gewährt werden. Diese Unterstützung hat nach der nicht unbestrittenen Version der damaligen Regierung 25 Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Mittelklasse gehoben. Zwangsläufig mehrten sich weltweit Stimmen, die in ausdrücklicher Abkehr von allen Ansätzen weitreichenderer sozialer und in der Konsequenz gesellschaftlicher Umgestaltung das brasilianische Wohlfahrtsmodell zum Königsweg der Armutsbekämpfung ausriefen.

Wollte man die Behauptung aufrechterhalten, von der Präsidentschaft Lulas hätten alle Brasilianer profitiert, muß man schon als selbstverständlich voraussetzen, daß dies natürlich für jeden im Rahmen seiner Möglichkeiten gilt. Die brasilianische Gesellschaft ist nach wie vor von extremer sozialer Polarisierung geprägt, die sich unter anderem darin ausdrückt, daß eine kleine Elite der Bevölkerung über 75 Prozent des nationalen Reichtums verfügt, während über 90 Prozent mit weniger als 550 Dollar im Monat auskommen müssen und sich dieser Trend weiter verschärft. Das Erfolgsmodell des "Lulaismus" wurde nicht zuletzt deswegen international hofiert, weil es die ausgeprägtesten sozialen Unwuchten vorderhand austarierte und das Aufbegehren befriedete, jedoch die Frage, zu wessen Lasten die neuen Reichtümer erwirtschaftet werden, vollständig ausblendete. Grundsätzlich bleibt das Wohlfahrtssystem ein Lehen, das den Empfängern Almosen gewährt oder entzieht, ohne an den bestehenden Besitzverhältnissen und Einflußmöglichkeiten zu rühren. Solange die Wirtschaft floriert, wird etwas für die Armen abfallen und sie zugleich in das paternalistische Gefüge einbinden. Wird die Kasse eines Tages knapp, sind sie die ersten, die den Gürtel bis an die Grenze ihrer schieren Existenz enger schnallen müssen.

Die Kombination einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik mit wachsenden Staatsausgaben führte zu einem soliden Wirtschaftswachstum und insbesondere sinkender Arbeitslosigkeit. Das größte Land Lateinamerikas erlebte einen regelrechten Boom, der jedoch wesentlich auf einem hohen Preisniveau der meisten agrarischen und industriellen Rohstoffe beruhte, die Brasilien exportiert. Waren die Ressourcen Lateinamerikas vier Jahrhunderte lang das Ziel kolonialer Ausplünderung durch die Mächte Europas und während der letzten hundert Jahre der Hort, aus dem sich der US-Imperialismus unersättlich bediente, so änderte sich dieses Verhältnis auch nicht grundlegend, als China in die Bresche sprang, um sich den Nachschub an Rohstoffen verfügbar zu machen. Allen hoffnungsgetragenen Lobeshymnen auf die neue Partnerschaft zum Trotz droht sich die einseitige Abhängigkeit von der Ausfuhr von Rohstoffen zu verfestigen und eine Diversifikation der regionalen Ökonomie zu bremsen. Die chinesischen Investoren fordern zudem dieselben Bedingungen wie beliebige andere Unternehmen ein und bestehen insbesondere auf Garantien für den Absatz ihrer eigenen Fertigwaren. Da die Länder Lateinamerikas mit den niedrigen Löhnen in China nicht konkurrieren können, wirkt sich dies auf Dauer verheerend für die einheimische Industrie aus. Als vorwiegende Rohstofflieferanten verlieren die Volkswirtschaften der Region die Souveränität über ihre Ressourcen, können ihre eigene Bevölkerung nicht mehr versorgen, erleiden gravierende Umweltschäden und verzeichnen keine nennenswerte industrielle Entwicklung.

Was die Umweltpolitik betrifft, gehörte zum Einflußbereich Lulas auch der umstrittene Industrielle Blairo Maggi, der zugleich Gouverneur Mato Grossos war und als einer der Hauptverantwortlichen für die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes gilt. Lulas Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff war als Technokratin bekannt, die höchst umstrittene Großprojekte unter Vertreibung indigener Völker forciert hatte. Sie setzte in ihrer Amtszeit nicht nur auf Wind- und Solarkraft, sondern insbesondere auf Agrotreibstoffe und Wasserkraft aus Großstaudämmen, mithin also unter umwelt- und sozialpolitischen Gesichtspunkten höchst zerstörerische Eingriffe, die sie unter die Rubrik angeblich sauberer Technologien faßte.

Wenngleich die Eliten des Landes in Dilma Rousseff stets einen Fremdkörper im höchsten Staatsamt und eine potentielle Gefahr für ihre Bereicherung gesehen haben dürften, war doch die entscheidende Triebfeder des Umsturzes die dramatische Wirtschaftsschwäche. Brasilien litt massiv unter dem Verfall der Rohstoffpreise und der schwächelnden Nachfrage aus China, die das vermeintliche ökonomische Vorzeigemodell in die Krise stürzten. Um die Profite der Kapitalfraktionen zu sichern, die Bevölkerung stärker an die Kandare zu nehmen und die Vormachtambitionen Brasiliens auf internationaler Bühne aufrechtzuerhalten, wurde der paternalistische Entwurf des "Lulaismus" zugunsten einer rigide neoliberalen Rezeptur entsorgt. Mit dem kalten Putsch gegen Rousseff beendeten die wirtschaftlichen und politischen Eliten die Phase des sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurfs. Eine im Kern dynastisch strukturierte Klasse, die seit Jahrzehnten mitunter ganze Bundesstaaten wie ihr privates Königreich regiert, diktierte Brasilien fortan eine restriktive Restauration. Der Putschist Michel Temer stand für die Einführung einer Schuldenbremse, Steuererleichterungen für Reiche, den Abbau von Sozialprogrammen, eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, eine Erhöhung des Renteneintrittsalters und den Verkauf von Anteilen der Staatskonzerne.

Temers Kabinett ausschließlich weißer Männer, darunter der bereits erwähnte Großgrundbesitzer Blairo Maggi, genannt "Sojakönig", als Landwirtschaftsminister, signalisierte unmißverständlich, daß die alten Eliten an die Macht zurückgekehrt waren. Das Ressort für Frauen und Gleichstellung von Ethnien wurde kurzerhand aufgelöst. Drei Minister mußten aufgrund von Korruptionsermittlungen gegen sie gleich wieder zurücktreten, womit sie nicht allein standen. Gegen mehr als die Hälfte der brasilianischen Parlamentarier sind Ermittlungen anhängig. Viele Mitglieder des Senats sind Großgrundbesitzer und Unternehmer, die meisten Millionäre, und gegen etliche wird wegen Korruption, Geldwäsche oder Gründung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, einige wurden bereits verurteilt. Die Spitzen der Parteien arbeiten an einer Generalamnestie, um ihre Privilegien zu behalten und sich Straffreiheit zu sichern. Michel Temer selbst darf nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren, weil er wegen illegaler Wahlkampfspenden verurteilt und für acht Jahre von der Teilnahme an öffentlichen Wahlen ausgeschlossen wurde.

Da Lula im Herbst erneut für das Präsidentenamt kandidieren will und Umfragen zufolge der aussichtsreichste Kandidat ist, zeugt der Verfolgungsdrang des Bundesrichters Sergio Moro in seinem Fall von der Absicht, eine Rückkehr des "Lulaismus" mit allen Mitteln zu verhindern. Der Entwurf einer tendenziellen sozialen Umverteilung zugunsten der ärmsten Bevölkerungsschichten darf nach dem Willen der brasilianischen Eliten niemals wiederkehren, der von der zutiefst rassistischen weißen Oberschicht als bärtiger Halbanalphabet verachtete Lula muß als Lektion für die Mehrheitsgesellschaft dafür abgestraft werden, die Klassenschranke mit seinem Aufstieg perforiert zu haben. So paart sich kühl-räuberisches Kalkül mit blankem Haß, wenn sich die Beschimpfungen Lulas in den sozialen Medien überschlagen, gut situierte weiße Menschen auf der Straße gegen ihn demonstrieren, Leitmedien wie Rede Globo, die allesamt wenigen mächtigen, rechtskonservativen Familien gehören, gegen ihn hetzen. [1]

Der Armeechef Eduardo Villas Boas hat das Oberste Gericht unter Druck gesetzt und via Twitter die Möglichkeit einer Mobilmachung des Militärs angedroht, falls die Entscheidung nicht "gegen die Straflosigkeit" ausfalle. [2] Im Zuge der reaktionären Restauration ist der Rechtspopulist Jair Bolsonaro zu einem der aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Oktober aufgestiegen. Der ehemalige Offizier ist für sein Lob der Militärdiktatur wie auch als Advokat eines radikalen Kampfes gegen das organisierte Verbrechen jenseits aller rechtsstaatlichen Prinzipien bekannt. Dabei unterstützen ihn vor allem die sich in Brasilien rasant ausbreitenden Evangelikalen, weshalb ihn manche politischen Kommentatoren bereits als "brasilianischen Trump" bezeichnen, einen "Rächer" an der linken Politclique der PT wegen der korrupten Machenschaften des Establishments. [3]

Wenngleich auch die Arbeiterpartei ihre Kassen mit Geldern von Odebrecht und des staatlichen Ölkonzerns Petrobras gefüllt, sich im Parlament Stimmen gekauft und auf diese Weise ihre Politik durchgesetzt hat, fallen die konkreten Vorwürfe gegen ihr Spitzenpersonal vergleichsweise dünn aus. Gegen Dilma Rousseff läuft bis heute nicht ein einziges Verfahren wegen Fehlverhaltens, Lula soll angeblich die Finanzierung eines luxuriösen Strandapartments in der Küstenstadt Guaruja angenommen haben, wofür es außer umstrittenen Aussagen von Kronzeugen, die sich damit vor dem Gefängnis retten wollten, keinerlei Beweise gibt. Und selbst wenn Lula in einem System, in dem eine Hand die andere wäscht, erfolgreich jongliert haben sollte, wie seine Gegner behaupten, zeugt doch die aktuelle Konstellation von der selektiv gesteuerten Wucht einer Hexenjagd. Wo Sergio Moro aus dem südbrasilianischen Curitiba als Held gefeiert wird, der ein politisches Schema der Bestechung aufgedeckt hat und im Zuge seines Kreuzzugs die Straffreiheit einflußreicher Wirtschaftslenker und Politiker endgültig beenden werde, ist eine mindestens blinde, eher aber gezielt instrumentalisierte Ideologie und Praxis gesellschaftlicher Säuberung am Werk. Wer die Korruption zum Kern allen Übels erklärt, aber von Ausbeutung und Verfügung nichts wissen will, kann nur als Handlanger der herrschenden Verhältnisse enden.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/korruptionsbekaempfung-in-brasilien-ein-hoher-preis-um-lula.720.de.html?

[2] www.sueddeutsche.de/politik/korruptionsaffaere-ein-tiefer-riss-geht-durch-brasilien-1.3932411

[3] www.welt.de/debatte/kommentare/article175270341/Suedamerika-Wohin-steuert-Brasilien-nach-der-grossen-Reinigung.html

9. April 2018


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