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HERRSCHAFT/1737: Von Reich zu Reich ... wieder Weimarer Verhältnisse? (SB)



Will die Berliner Republik Weimarer Verhältnisse wiederherstellen? Nach etwa 180 von Rechtsradikalen ermordeten Menschen seit 1990, nach der Mordserie des NSU, nach Hunderten von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte nun ein Polizistenmord in Bayern. Der Bundesverfassungschutz hält es bisher - im Unterschied zu einigen Landesverfassungsschutzämtern - nicht für erforderlich, die unter dem Namen "Reichsbürger" firmierenden rechtsradikalen Netzwerke zu observieren. Dabei handelt es sich um erklärte Staatsfeinde mit zum Teil gewalttätiger Ambition, wie der Schußwaffengebrauch eines Reichsbürgers in Franken gegen SEK-Beamte im Sommer gezeigt hat. Zurückhaltung beherrscht das Feld auch in den Medien, wo man sich nicht ganz sicher zu sein scheint, ob das Phänomen der Reichsbürger überhaupt als "rechtsextrem" zu gelten hat oder es nur vereinzelte Personen aus der rechtsradikalen Szene gibt, die sich unter diese vermeintlichen "Spinner" mischen.

Die Nachwehen der gescheiterten Novemberrevolution und der Aufstieg rechter Putschisten führten in der Weimarer Republik zu einer großen Zahl politischer Morde. Den von Freikorpsmilizen und Nazis an Kommunisten begangenen Attentaten stand eine ungleich geringere Zahl von links ausgehender Anschläge gegenüber [1]. In der Strafverfolgung verhielt es sich genau umgekehrt - rechte Täter kamen oft nach wenigen Monaten frei, linke mußten für Jahre hinter Gitter und wurden im NS-Staat erneut gnadenlos verfolgt und häufig hingerichtet [2].

Die weitere Geschichte ist bekannt und mündet bald hundert Jahre später in eine neurechte Restauration, die in der Nachkriegszeit aufgewachsene Menschen mit antifaschistischer Gesinnung fassungslos macht. Aus einer unangemeldeten Versammlung heraus wurde die politische Führung der BRD am 3. Oktober in Dresden unter den Augen der Polizei als "Volksverräter" beschimpft [3], und zu Beginn des anschließenden Pegida-Marsches wünschte der zuständige Polizeisprecher dem Protestzug per Lautsprecher einen "erfolgreichen Tag". Politische Konsequenzen ernstzunehmender Art blieben aus. Gleichzeitig werden in der Bundesrepublik Prozesse gegen Aktivistinnen und Aktivisten kurdischer und türkischer Herkunft nach dem politischen Strafrecht 129 b geführt. Deutsche Staatsschutzgerichte vollziehen die repressive Politik der türkischen AKP-Regierung, ohne daß den zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilten Personen mehr als eine Assoziation zu kommunistischen Parteien oder der kurdischen Befreiungsbewegung angelastet werden kann.

In bisherigen Medienberichten über die Reichsbürger dominiert der Tenor, es handle sich um nicht ernstzunehmende "Verschwörungstheoretiker" oder "Waffennarren". Wie gefährlich Personen sein können, die einem bewaffneten nationalistischen Freiheitsmythos anhängen, hat die Geschichte rechter Milizen in den USA gezeigt. Ihr Kampf gegen die US-Regierung gipfelte 1995 im Anschlag von Oklahoma City, der 168 Todesopfer und 800 Verletzte forderte. Die sogenannten Reichsbürger könnten sich durchaus an diesen Milizen orientieren, weigerten sich deren Mitglieder doch ebenfalls, die Bundesregierung in Washington anzuerkennen, Steuern zu entrichten und Waffenverbote hinzunehmen.

Die von den Reichsbürgern aufgestellte Behauptung, die Bundesrepublik sei nicht souverän oder gar von den USA besetzt, schürt einen nationalistischen Opfermythos, der an die in den nächsten Weltkrieg mündende Polemik gegen den "Schandvertrag" von Versailles erinnert. Die spezifische Vorgehensweise des deutschen Imperialismus, sich der globalstrategischen Rückendeckung der US-amerikanischen Hegemonie zu versichern und zugleich den eigenen Aufstieg zu einem militärischen und wirtschaftlichen Akteur von Weltrang zu betreiben, wird dabei unterschlagen. Stünde der globale Führungsanspruch der US-Regierung den deutschen Kapital- und Funktionseliten ausschließlich im Wege, dann ließen entschiedene Maßnahmen, sich dieses Vormachtanspruches zu erwehren, nicht auf sich warten.

Das Problem ist jedoch schon im transnationalen Charakter des kapitalistischen Weltsystems angelegt und läßt sich nicht auf den Nenner nationalstaatlicher Konkurrenz reduzieren. Allein die Bemühungen, mit CETA und TTIP ein transatlantisches Kartell zu bilden, das die Bedingungen des Welthandels setzte, dem Aufstieg größerer Schwellenstaaten Paroli böte und das Pazifische Freihandelsabkommen TPP zugunsten der EU in seiner Bedeutung relativierte, zeigt, daß die Bundesrepublik ein im staatsrechtlichen Sinne souveräner Akteur in den globalen Verteilungskämpfen ist.

Auf diesem Feld geht es jedoch nicht um Rechtsfragen, wie die mit Verweis auf internationale Verträge und Abkommen begründete Behauptung einer in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkten BRD unterstellt, sondern um Machtfragen. Die Antwort sogenannter Reichsbürger darauf erfolgt auf eine Weise, die in anderen Staaten sehr viel rigidere Maßnahmen zur Folge hätte. Da der Staatsschutz gegen linke Parteien, Organisationen und Netzwerke stets abwehrbereit ist, ist er auf dem rechten Auge nicht "blind", sondern schaut angestrengt weg. Die Verdächtigung und Kriminalisierung der sozialen und internationalistischen Opposition findet in der bereits im staatlichen Umgang mit dem NSU attestierten "Nachlässigkeit", um es vorsichtig zu sagen, seine folgerichtige Entsprechung. Im deutschen Staatsschutz reiht sich nicht eine "Pannenserie" an die andere, vielmehr ist der Umbau der Republik zum autoritären Sicherheitsstaat in vollem Gange.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/moerderische-statistik-gewalt-von-rechts.1310.de.html?dram:article_id=345863

[2] http://peter-nowak-journalist.de/tag/johannes-fulberth/

[3] HERRSCHAFT/1735: Dresden in der Eiseskälte der goldenen Morgenröte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1735.html

20. Oktober 2016


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