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HERRSCHAFT/1725: Toleranz ist zu wenig ... (SB)



Toleranz ist nicht genug, es geht um Akzeptanz. Was führende Vertreterinnen und Vertreter der LGBTI-Community in der Bundesrepublik mit Blick auf die Probleme der Bundeskanzlerin, sich anläßlich des homophoben Massakers in Orlando zu einem offenen Wort über die Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit in Deutschland und die Notwendigkeit ihrer Überwindung durchzuringen, dieser Tage erklären, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Auch wenn dem Begriff der Toleranz in den Fensterreden etwa zur Integration von Flüchtlingen ein hoher Wert zugemessen wird, so meint er nichts anderes als die bloße Duldung. Eine Lebensform oder Minderheit zu tolerieren, heißt nicht sie zu billigen, geschweige denn sie gutzuheißen oder wertzuschätzen. Toleriert wird, wer stört und im Weg steht, aber aus rechtlichen oder anderen Gründen nicht mit entsprechender Gewalt an seiner den Normalbetrieb unterbrechenden Lebenspraxis gehindert werden kann.

Die Mehrheitsgesellschaft zu Toleranz zu ermahnen ist weit entfernt davon, zu einer Kultur der Egalität und Emanzipation zu ermutigen. In Anbetracht des sozialdarwinistischen Charakters der neoliberalen Marktdoktrin kann dies nicht erstaunen, was nicht im Widerspruch dazu steht, daß der Freiheitsanspruch des Kapitals mit liberaler Rechtstaatlichkeit und damit auch Freiräumen für Minderheiten einhergeht. Während der Anspruch, über eine "offene Gesellschaft" zu verfügen, mitunter dazu genutzt wird, im Namen ihrer Freiheiten imperialistische Kriege zu führen, nimmt auch die Gewalt ihrer Klassenwidersprüche weiter zu. Wenn diese nicht sozialchauvinistisch in der Verachtung sozial verelendeter Menschen oder angeblicher Wirtschaftsflüchtlinge zum Ausdruck kommt, dann richtet sie sich häufig gegen Menschen, die über eine andere sexuelle oder geschlechtliche Orientierung verfügen als die der zur Norm erhobenen Heterosexualität.

Dabei kommt nicht nur Abscheu gegenüber von den eigenen Vorlieben abweichenden Sexualpraktiken zum Ausdruck. Männer, die als schwul identifizierte Attribute aufweisen oder die einfach nur verletzt werden sollen, werden zu Adressaten einer Verachtung gemacht, die gegenüber Frauen als "schwachem Geschlecht" nach wie vor fast selbstverständlich erscheint. Was diesen eine Form permanenter Unterwerfung unter patriarchalische Dominanz abverlangt, die bis zur klaglos zu ertragenden Vergewaltigung reichen kann, wird unter Männern dazu genutzt, das eigene Selbstgefühl zu Lasten schwächerer zu steigern. Lust an der Unterwerfung eines anderen Mannes zu empfinden und den Konkurrenten zum Objekt der Erniedrigung zu machen, ist wiederum so sehr sexuell aufgeladen, daß Schwulenhaß und Affinität zu Homosexualität schwer auseinanderzuhalten sind.

Da die Herabwürdigung als feminin identifizierter Eigenschaften dafür wesentlich ist, während maskuline Stärke, wie unter anderem die Tatsache zeigt, daß die größten zivilen Massaker der letzten Jahrzehnte in den nordamerikanischen und europäischen Metropolengesellschaften von Männern begangen wurden, mit vernichtender Gewalt assoziiert wird, belegt, daß das Prinzip patriarchalischer Herrschaft noch lange nicht am Ende ist. Dementsprechend bedürfen die humanistischen Werte, die als "unsere Freiheiten" gegen terroristische Anschläge islamistischer Fanatiker in Stellung gebracht werden, nicht nur ihrer bewaffneten Verteidigung durch ein wiederum sehr maskulin geprägtes Militär oder den Ausbau autoritärer Staatlichkeit durch massive Repression. Bei aller Liberalität im Straf- und Familienrecht bleiben Homosexualität und eine Geschlechterdifferenz, die die herkömmliche Bipolarität nicht mehr als Maßstab aller Dinge anerkennt, Angriffsziele seelisch wie körperlich verletzender Art, und das keineswegs nur in Ländern, in denen die Unterdrückung von Schwulen und Lesben bis heute Regierungspolitik ist.

Toleranz reicht nicht aus, denn es handelt sich im Kern um die Moderation eines nicht in Frage zu stellenden Gewaltverhältnisses. Akzeptanz wäre das zivilgesellschaftliche Minimum einer emanzipatorischen Praxis, die sich vollständig nur dadurch weiterentwickeln ließe, daß die materiellen Grundlagen und kulturellen Dispositive herrschender Verhältnisse in Frage gestellt werden. Das Patriarchat ist ein zentraler gesellschaftlicher Besitzstand, und seine Abschaffung kann nicht gelingen, ohne die Eigentumsfrage zu stellen.

16. Juni 2016


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