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HERRSCHAFT/1685: Wahlkampf zahnlos - Lethargie in Zeiten der Krise (SB)




Die in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Lethargie, die den aktuellen Wahlkampf wie eine Lähmung jeglicher streitbaren Impulse befallen zu haben scheint, reizt Interpreten der Verhältnisse zu kaum weniger müden Deutungsversuchen. Aus Perspektive des Politikwissenschaftlers beklagt Gary S. Schaal, Professor an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, im Gespräch mit Stephan Karkowsky im Deutschlandradio Kultur [1] die eklatante Abwesenheit nennenswerter Emotionen, um das ob dieser gespenstisch anmutenden Verödung aufkeimende Unbehagen fachkompetent zu befrieden. Er hat als Koautor eines Aufsatzes für die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Titel "Politik der Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie" jüngst seinen Beitrag dazu geleistet, womöglich weiterführende Zweifel aus dem Feld zu schlagen.

Dabei sind sich die Gesprächspartner durchaus einig, daß eine ganze Reihe brisanter Themen und politischer Kontroversen im Grunde geeignet sein sollte, darüber intensiv und emotional zu streiten. Statt dessen könne man über die Slogans auf den aktuellen Wahlplakaten bestenfalls sagen, daß sie nicht weiter stören. Und dies, obwohl es gerade in einer Demokratie darauf ankomme, miteinander über die Bewältigung anstehender Aufgaben zu streiten, da es keine richtige Lösung für das Gemeinwesen gebe. Stoff der Politik sei die leidenschaftliche Beteiligung der Bürger, denn was die Menschen wirklich angehe, wühle sie emotional auf. Greife hingegen Leidenschaftslosigkeit um sich, entschwinde das Politische aus der Politik, so Schaal. Engagierten sich Menschen, würden sie als Wutbürger diskreditiert und in ihrem Anliegen nicht ernstgenommen. Vertrete man energisch seine Interessen, werde man als überemotional oder gar hysterisch für politikunfähig befunden.

Woher das kommt? Der Politikwissenschaftler attestiert den Deutschen eine Tradition, Rationalität mit Professionalität und Emotionalität mit Inkompetenz zu verbinden. Während man in Frankreich eher einer republikanisch geprägten Gemeinschaftsorientierung den Zuschlag gebe, herrsche hierzulande stärker ein vom Individuum ausgehender sachbezogener, emotionsloser Liberalismus vor. Zudem überstrahle die aus der deutschen Geschichte herrührende Furcht, über Gefühle verführbar zu sein, die hiesige Politik. Und nicht zuletzt liefen Politikerinnen noch immer Gefahr, im Falle geäußerter Gefühle als schwach wahrgenommen zu werden. Ganz anders die Amerikaner, deren personenbezogener Wahlkampf von Gefühlen strotze. So sei selbst ein rhetorisch schwächelnder Obama in Berlin weit ansprechender als die emotionslose Kanzlerin gewesen - die freilich in allen Umfragen haushoch führt, weil das Gros der Bundesbürger offensichtlich ihren Politikstil goutiert.

Was folgt daraus? Als Erkenntnisgewinn verbucht Schaal, daß die Gesellschaft nach wie vor von einem dualistischen Denken mit hierarchischer Ordnung in Kategorien wie Mann - Frau, Geist - Emotion, Kopf - Bauch dominiert werde, obgleich uns bekanntlich das Bauchgefühl manchmal den Weg viel besser als unsere kognitiven Leistungen weise. Natürlich wäre es nicht statthaft, die Aussage des Hamburger Politikwissenschaftlers allein auf diese einschläfernde Banalität zu reduzieren, die den Schleier des Vergessens über die Ausgangsfrage zieht. Aufschlußreicher ist da schon, was Schaal eingangs anreißt, um es wenig später zugunsten seiner abschweifenden Diskussion großer Gefühle links liegenzulassen.

Wie er eingangs erklärt, finde er es ausgesprochen spannend, daß einerseits auf den Wahlplakaten das Wir und damit etwas sehr Emotionales, die Gemeinschaft der Bürger, angesprochen, doch auf der anderen Seite der Wahlkampf selber ausgesprochen unemotional geführt werde. Auf die Frage Karkowskys, warum das Wir denn etwas sehr Emotionales sei, erwidert Schaal:

Weil damit etwas angesprochen wird, was es eigentlich gar nicht mehr gibt, die Gemeinschaft der Bundesbürger. Es ist fast genauso, als wenn von den Wählern gesprochen wird, die es natürlich auch nicht gibt. Deutschland zerfällt ja immer stärker in unterschiedliche kleine, pluralisierte Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie man leben will - und dieses Wir spricht die Deutschen als Ganzes an! Aber wer soll dieses Wir denn eigentlich sein, und vor allem - das ist die kritische Frage - worauf soll uns das Ganze hinweisen? Also, worauf soll das vorbereiten?
Ich glaube, (...) es soll uns darauf vorbereiten, dass wir im Zuge dieses Neoliberalismus, den wir in den letzten Jahren intensiv miterlebt haben, diese zunehmende Individualisierung, diese zunehmende Orientierung an rationalen und ökonomischen Kalkülen, die Gesellschaft immer sozusagen individualistischer geworden ist. Gleichzeitig kommen in den nächsten Jahren große Einschnitte auf uns zu, Austeritätspolitik, weniger Staatseinnahmen und so weiter und so fort, und die einzige Möglichkeit, wie man so etwas abfedern kann, ist, ein Wir zu schaffen, bei dem man dann sagt, die Gemeinschaft der Staatsbürger trägt das Ganze.

Den sich an dieser Stelle geradezu aufdrängenden nächsten Schritt, nämlich hervorzuheben, daß aktuelle wie künftige soziale Grausamkeiten die Bürger der Klassengesellschaft keineswegs gleichermaßen treffen, vermeidet der Politikwissenschaftler tunlichst. Statt dessen vernebelt er das ideologische Konstrukt des fiktiven Wir, indem er zielstrebig ins seichte Fahrwasser der bloßen Gefühlsdebatte abdriftet. Andernfalls könnte er zu dem Schluß kommen, daß der an Kontroversen so arme Wahlkampf nicht zuletzt Ausdruck einer an ihre Grenzen stoßenden Kapitalverwertung ist, die staatliches Handeln auf die kompensatorische Übernahme der Verantwortung für deren befristeten Fortbestand zuspitzt. Die forcierte Umlastung auf jene Teile der Bevölkerung, aus deren Lebenssubstanz die Profitmargen gewonnen werden, schnürt alle politischen Parteien, die sich dieser Gesellschaftsordnung verschrieben haben, zwangsläufig auf nahezu identische Reaktionsmuster angesichts der Krise ein. Daß unter dieser Voraussetzung schwindender Handlungsalternativen so gut wie keine ernsthaften politischen Kontroversen geführt werden, kann kaum überraschen.

Zugleich ist der weithin ausbleibende Widerstand drangsalierter Bevölkerungsteile das Resultat systematischer Zerschlagung all jener Arbeitsbedingungen, Existenzweisen, Örtlichkeiten und Refugien, die soziales Leben anders als in Gestalt individualisierter, isolierter und verwertbarer Form möglich machten. Der vernetzte Mensch als herrschaftssichernder Gegenentwurf zum nicht restlos verfügten Teilhaber realer Begegnungsflächen und Nutznießer jeglicher Pausen, Lücken und Nischen endet so in den Maschen gewährter oder entzogener Überlebensressourcen, bar jeder Möglichkeit des Schulterschlusses mit seinesgleichen.


Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2220813/

20. August 2013