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HERRSCHAFT/1624: Elektronische Gesundheitskarte - Türöffner biopolitischer Bemächtigung (SB)



Vom 1. Oktober an soll die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (e-Card) vollzogen werden. Geplant war dieser Frontalangriff auf die Datensicherheit im Gesundheitswesen bereits für 2006, doch führten ungelöste technische Probleme, Pannen bei Testläufen und Einwände von Experten dazu, daß das Vorhaben mehrfach verschoben werden mußte. Protest von Ärzten, Krankenkassen und Datenschützern erzwang einen Schrumpfungsprozeß, in dessen Verlauf das futuristische Konzept, alle erdenklichen Daten auf der e-Card zu vereinen, auf ein dürftiges Endprodukt reduziert wurde. Obgleich das Projekt inzwischen weithin als gescheitert, nutzlos oder sogar kontraproduktiv eingeschätzt wird, hält das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) an seiner Durchsetzung fest. Um diese ungeachtet verbreiteter Skepsis und Zweifel auf den Weg zu bringen, nötigt eine Gesetzesänderung die Krankenkassen, bis Ende des Jahres an 10 Prozent ihrer Versicherten e-Cards auszugeben. Erfüllen sie diese Auflage nicht, müssen sie eine Minderung ihrer Verwaltungsausgaben für das Jahr 2012 um zwei Prozent gegenüber 2010 und damit eine Strafe in Millionenhöhe hinnehmen. [1]

Da in der Konsequenz höchst private und intime Daten von mehr als 70 Millionen Versicherten auf Servern angehäuft und abrufbar gemacht werden sollen, droht das aus gutem Grund durch die ärztliche Schweigepflicht geschützte Arzt-Patienten-Verhältnis gezielt aufgebrochen zu werden. Mit Hilfe der neuen Informationstechnologien Zugewinn sowohl für medizinische Forschung als auch Administration im Sinne profitrelevanter und sozialutilitaristischer Ergebnisse zu generieren, erklärt die Rechtsansprüche auf Menschenwürde und Privatsphäre im Gesundheitswesen für kontraproduktiv und mithin entbehrlich.

Da die e-Card im Unterschied zur herkömmlichen Versichertenkarte netzfähig ist, können die auf ihr gespeicherten Patientendaten auf Zentralserver ausgelagert werden, auf deren Bestände eine Vielzahl von Teilnehmern am Gesundheitswesen jederzeit zugreifen kann. Damit wird ein Datenfundus geschaffen, der fremdem Zugriff Tür und Tor öffnet. Auch die Betreibergesellschaft, die die Technik zur Verfügung stellt, hat den Schlüssel zu den Patientendaten, der Chip auf der Karte ist für Experten in Minutenschnelle auslesbar und ein elektronisches Netzwerk, das keine Sicherheitslücken aufweist, muß erst noch erfunden werden. Dabei sind solche illegalen Eingriffe nur ein Nebenkriegsschauplatz verglichen mit dem entufernden administrativen Interesse, sich dieser begehrten Ressource zu bemächtigen, zu der man sich künftig per Gesetzesänderung legalen Zugang verschaffen kann, wie das heute von interessierter Seite für unmöglich erklärt wird.

Daß es sich bei der e-Card um den entscheidenden Türöffner zur Privatsphäre des Patienten und dessen entgrenzter biopolitischer Nutzbarmachung handelt, unterstreicht die Initiative, mit ihrer Hilfe den Nachschub an Spenderorganen zu befördern. Was Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr diesbezüglich aufgegriffen hat, ist eine Kreation der Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder (CDU/CSU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD), die in Deutschland seit 1997 geltende erweiterte Zustimmungslösung bei der Organspende in eine Entscheidungslösung umzuwandeln. Liegt kein Organspendeausweis oder ein anderes entsprechendes Dokument eines Spendewilligen vor, können die Angehörigen sich für oder gegen eine Transplantation aussprechen. Mit der Entscheidungslösung will man jeden mündigen Erwachsenen dazu zwingen, sich zur Organspende zu positionieren.

Bislang hat sich nur eine Minderheit möglicher Spender vor dem Tod zu einer Organspende bereiterklärt. Wenngleich Umfragen zufolge bis zu zwei Drittel der Bundesbürger geneigt zu sein scheinen, nach dem Tod Organe zu spenden, haben doch weniger als 20 Prozent jemals einen Organspendeausweis oder ein vergleichbares Dokument ausgefüllt. Steht eine Transplantation an, verhält es sich ähnlich, denn in fast 80 Prozent der Fälle sind die Angehörigen gezwungen, die von dem für tot erklärten Patienten zuvor nicht getroffene Entscheidung zu fällen. So kamen im vergangenen Jahr 482 Transplantationen in Deutschland nicht zustande, weil Angehörige eine mögliche Organspende im Gespräch mit den Ärzten ablehnten. [2]

Von Bahr zu einem "Akt der Nächstenliebe" verklärt und dem gesundheitspolitischen Sprecher der SPD, Karl Lauterbach, als das "wichtigste Gesetz der Legislaturperiode" hochgelobt, soll mit vereinten Kräften das Transplantationsgesetz geändert werden, um den Patienten als Organspender an die Kandare zu nehmen. Ließe sich die elektronische Gesundheitskarte tatsächlich einführen - was deren engagierte Kritiker zu verhindern trachten - und auf dieser Patientenkarte die Spendebereitschaft speichern, rückte dies den langersehnten Durchbruch hin zu einer Verpflichtung der Bürger zur Organspende in greifbare Nähe.

Mit der ökonomischen Durchdringung des Gesundheitswesens und der Objektivierung des Menschen zu einem Katalog an physiologischen Meßwerten und standardisierten Krankheitsbildern nimmt die Entnahme und Übertragung von Organen den Charakter eines Tauschhandels an, der im illegalen Organhandel seine marktwirtschaftliche Entsprechung erfährt. Die dazu geschaffene Voraussetzung der Vorverlagerung des Todeszeitpunkts ist Gegenstand einer Kontroverse, die den Sachwaltern biopolitischer Begehrlichkeiten ein Stachel im Fleisch bleibt. Die im Gefolge der ersten Herztransplantation in Südafrika zum Zweck legaler Organentnahme geschaffene Definition des Gehirntods als Todeskriterium durch das Harvard-Komitee in Boston erinnert nicht von ungefähr an einen Verwaltungsakt. Vorsitzender des Komitees war Henry K. Beecher, der in den 50er Jahren die amerikanische Folterforschung beraten hatte. [3]

Aus dem Umstand, daß vor vier Jahrzehnten auf Grundlage des sogenannten Hirntod-Konzeptes das Ausweiden angeblich Verstorbener legalisiert wurde, kann nicht geschlußfolgert werden, daß für hirntot erklärte Menschen tatsächlich tot seien. Dabei sind die Einwände der Hirntodkritiker keineswegs spekulativer oder laienhafter Natur. Wenn sie auch beim unmittelbaren Empfinden beginnen, daß der "hirntote" Patient in vielerlei Hinsicht lebendig wirkt, so greifen sie in Verfolgung dieses Zweifels doch tief hinein in die Ungereimtheiten, Widersprüche und Täuschungsmanöver der Transplantationsmedizin. Erfährt man, daß bei 75 Prozent aller "hirntoten" Menschen Bewegungen der Arme und Beine festzustellen sind, Wunden bei ihnen ausheilen können und keinerlei Merkmale einsetzenden Verfalls auftreten, wird man sie als Bewußtlose empfinden. Der Deutsche Berufsverband für Krankenpflege (DBfK), dessen Mitglieder die größte Berufsgruppe bilden, die direkt an Organentnahmen und Organimplantationen beteiligt sind, versteht den Begriff "Hirntod" als ein Kunstwort und betrachtet einen hirntoten Menschen als einen Sterbenden. Als der Verband 1995 in einer Anhörung vor dem deutschen Bundestag wegen des 1997 verabschiedeten Transplantationsgesetzes eine Stellungnahme abgeben konnte, hat er sich, wie auch die Arbeitsgemeinschaft deutscher Schwesternverbände, gegen die Gleichsetzung von "hirntot" und tot ausgesprochen.

Sachkundige Mediziner haben 1995 vor dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages dargelegt, daß der Ausfall der gesamten Hirnfunktionen, dessen Nachweis in Deutschland zur Feststellung des "Hirntods" erforderlich ist, überhaupt nicht ermittelt werden kann: Ein EEG messe nur drei Millimeter tief unter der Schädeldecke; alles, was darunter liege, könne überhaupt nicht erfaßt werden. Auch halten es sogar einige namhafte Transplantationsbefürworter augenscheinlich für möglich, daß hirntote Menschen Schmerzen empfinden können. Bei der Organentnahme schnallt man die angeblich Toten fest und verabreicht ihnen Muskelrelaxanzien, damit die sogenannten Reflexe während der Operation nicht auftreten. Ferner darf die Einstufung als "hirntot" erst dann vorgenommen werden, wenn zwei entsprechende Diagnostiken durchgeführt worden sind. Statistischen Daten ist jedoch zu entnehmen, daß 2010 fast 90 Prozent der Organentnahmen innerhalb von 24 Stunden nach der zweiten Diagnose beendet worden. Das läßt darauf schließen, daß die Einschätzung der Verwertbarkeit inoffiziell viel früher vorgenommen wird und die diagnostische Pflicht eine Routinehandlung darstellt. [4]

Ob es sich also bei der Organspende, wie deren Befürworter werben, um die letzte Gabe eines Verstorbenen an einen Lebenden handelt, die den einen nicht schmerzt, den anderen aber rettet, darf gelinde gesagt bezweifelt werden. Die Etablierung einer zentralistischen Struktur medizinaladministrativer Verfügungsgewalt zum Anlaß zu nehmen, die Erträge der "Organernte" durch eine weitergehende Intervention in die Intimsphäre der Patienten zu steigern, unterstreicht den instrumentellen Charakter dieser Form substitutiver Medizin. Was technisch machbar ist, erhält allzu leicht den Vorzug vor prinzipiellen Wertentscheidungen, zu denen etwa auch die Aufhebung des Mißverhältnisses zwischen dem medizinischen Notstand, der Millionen Menschen in aller Welt therapeutische Basisleistungen vorenthält, und den stets nur einer Minderheit vorbehaltenen Privilegien der HighTech-Medizin gehörte.

Angesichts der innovativen Dynamik, die IT-Großprojekte wie die e-Card entfalten, ist auch vor Entwicklungen zu warnen, bei denen der anwachsende Kostendruck im Gesundheitswesen Entscheidungen über Leben und Tod beeinflußt. Das abschreckende Beispiel der Niederlande und anderer EU-Staaten, in denen de facto eine Form von legalisierter Euthanasie, die auch nichteinwilligungsfähige Patienten betreffen kann, betrieben wird, könnte um so leichter um sich greifen, wenn die Evaluation und Selektion angeblich nicht mehr lohnenden Lebens auf Knopfdruck für ganze Bevölkerungen vollzogen werden könnte.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0072.html

[2] http://www.faz.net/artikel/C30923/organspende-auf-dem-weg-zur- entscheidungsloesung-30726042.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0013.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkri0004.html

30. September 2011