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HERRSCHAFT/1615: Fast perfekte Mangelordnung ... wann geben die Griechen endlich Ruhe? (SB)



Wodurch zeichnet sich Regieren im Krisenszenario der EU aus? Durch das Durchsetzen "unpopulärer" Entscheidungen, wie es dem griechischen Parlament abverlangt wurde, zu Lasten einer Bevölkerung, die nichts zu melden haben soll. Die an die Athener Abgeordneten gerichteten Appelle europäischer Politiker, Banker und Wirtschaftsführer ließen keinen Zweifel daran, daß sie bei der Verabschiedung des aktuellen Sparpakets keine Wahl hatten. Das Schicksal Europas lastete auf ihren Schultern, so der einhellige Tenor der Mahner. Durch die hehren Worte von historischer Entscheidung und Verantwortung für das größere Ganze tönte die Drohung, daß die Verweigerung des Spardiktates nicht nur zu einem Staatsbankrott führte, sondern dem Land jegliche Nothilfe durch die internationalen Finanzinstitutionen und Staatenwelt vorenthalten werde. Als zur EU-Klasse privilegierter Entscheidungsträger gehörige "Sozialisten" wußten die Abgeordneten der PASOK, was von ihnen erwartet wurde.

Obwohl die griechische Regierung mit den seit letztem Jahr eingesparten Ausgaben bereits eine beispiellose Herkulesaufgabe vollzogen hat, sollen nun weitere 28 Milliarden Euro bis 2015 durch neue Steuern und weitere Ausgabenkürzungen für den Schuldendienst aufgebracht werden. Die damit bewirkte Verteuerung vieler Güter des täglichen Bedarfs bei gleichzeitigen Lohnkürzungen nicht nur im öffentlichen Dienst bewirkt eine Verarmung lohnarbeitender und erwerbsloser Bürger, die einer systematischen Strategie sozialer Kriegführung gleichkommt. Die Refinanzierung der Gläubiger des griechischen Staates soll von einer Bevölkerung erbracht werden, die von dem mit dem Beitritt zum Euro ermöglichten Aufnahme niedrig verzinster Staatsschulden am allerwenigsten hatte. Was durch die Freisetzung zusätzlichen Kapitals an Zinsen und Renditen erwirtschaftet wurde, floß in die Taschen der Investoren und Kapitaleigner, die bei jedem finanzkapitalistisch initiierten Boom den besten Schnitt machen. Wie der Preis der Arbeit in den Keller zu treiben ist, belegt das darauf folgende Schuldenmanagement.

Die griechische Bevölkerung soll weniger Urlaub machen und endlich Verantwortung dafür übernehmen, daß ihre Regierung den Beitritt zum Euro mit falschen Angaben erschwindelt habe. Sie liegt ja bereits den ganzen Tag am Strand, und wenn der übermäßig aufgeblähte Staat einmal das Säckel zumacht, dann streikt sie und wird aggressiv. Schlimmer geht's nimmer, hetzen die Herolde deutscher Selbstgerechtigkeit und machen glauben, die Bundesbürger sollten von faulen Levantinern über den Tisch gezogen werden. Ohne den betäubenden, mit starken Narkotika aus der Giftküche massenmedialer Irreführung versetzten Wein, der den Bundesbürgern reichlich eingeschenkt wird, sobald die Rede auf die Eurokrise kommt, ahnten sie vielleicht, was es bedeutet, wenn eine ohnehin von einem weit niedrigeren Lohnniveau als in der Bundesrepublik bei allerdings vergleichbaren Konsumentenpreisen gebeutelte Bevölkerung dazu genötigt wird, in den nächsten zwei Jahren eine Summe aufzubringen, die sich, wenn man sie auf deutsche Verhältnisse übersetzte, auf 300 Milliarden Euro beläuft. Sie könnten, wie Bundespräsident Christian Wulff bereits befürchtet, den Verdacht hegen, daß es in Europa "nicht gerecht zugeht".

Die massive Gewaltanwendung durch die Athener Polizei, die zu einer regelrechten Strategie der chemischen Kriegführung griff, als sie DemonstrantInnen auch in geschlossenen Räumen wie U-Bahnhöfen mit Tränengas attackierte, und mit großer Brutalität gegen einen Protest zu Felde zog, dessen angeblich überbordende Militanz 31 verletzte Polizisten bei bis zu 500 verletzten DemonstrantInnen hervorbrachte, gibt einen Vorgeschmack auf das, was die europäischen Bevölkerungen von der Fortsetzung des herrschenden Krisenmanagements zu erwarten haben. Die "unpopuläre" Verarmung von Millionen zugunsten der Aufrechterhaltung eines Gesellschaftssystems, das die innere Grenze der Kapitalverwertung auf kannibalistische, die Substanz der Daseinsvorsorge verbrauchende Weise zu kompensieren versucht, ist jedoch nicht nur ungerecht.

Das bürgerliche Recht anzurufen, um soziale Gerechtigkeit zu erwirken, heißt dessen Legitimationsbasis in Frage zu stellen, die mit staatlicher Gewalt bewehrte Eigentumsordnung. So gerecht, wie die Rückforderung an den griechischen Staat vergebener Kredite in diesem Rahmen ist, so gerecht ist der Schuldturm, in dem seine Bevölkerung auf viele Jahre hinaus ein Dasein am Existenzminimum fristen soll. Mit Rechtsfragen, wie sie Wulff auf moralische, der Bestandssicherung verpflichtete Weise aufwirft, ist dem Problem nur auf eine Weise, der so oder so erfolgenden Unterwerfung unter diese Ordnung, beizukommen. Daher reicht die Empörung, zu der sich immer mehr EU-Bürger aufraffen, nur so weit wie die Instanz bürgerlicher Moral, an die sie appelliert. Diese wurde allerdings von den Herrschenden, die ihr vermeintlich verpflichtet sind, längst aufgegeben und gegen die kalte Logik des reinen Sachzwangs eingetauscht.

Die griechische Bevölkerung hat mit dem landesweiten Generalstreik anläßlich der Verabschiedung des von den internationalen Gläubigern aufoktroyierten Sparpakets gezeigt, daß sie nicht bereit ist, dieser Logik zu folgen. Sie ahnt, daß es deren Sachwaltern nicht allein um das Bedienen einer gemachten Schuld geht. Die von den Finanzmärkten eingeforderte und mit Kursaufschlägen belohnte Zustimmung des griechischen Parlaments zu der verschärften Hungerkur bestätigt die Durchsetzbarkeit einer Herrschaftsform, der soziale Ungerechtigkeit kein notgedrungen in Kauf genommenes Scheitern grundsätzlich beabsichtigter Egalität ist. Oben und unten, arm und reich sind Vitalfaktoren einer sozialdarwinistischen Gesellschaftsordnung, die die Zerstörung der Lebenschancen der großen Mehrheit der zu ihr Beitragenden voraussetzt.

Die Frage, was in Not geratene Bevölkerungen tun können, um ihre Lage zu verbessern, was überhaupt Menschen tun können, um den für ihr Leben erforderlichen Verbrauch zu organisieren, wird mit dem Primat einer Kapitalakkumulation beantwortet, deren abstrakter Charakter eines sich scheinbar von selbst verwertenden Werts die Absicht der dadurch bedingten Interessensicherung bestens verbirgt. Die griechische Bevölkerung scheint von ökonomischen Imperativen umstellt zu sein, für die anscheinend niemand etwas kann, deren Vollzug jedoch unabdinglich ist, wie die allgemeine Erleichterung über die Verabschiedung des Sparpakets hierzulande dokumentiert. Was immer an ihrer Staatsform demokratisch sein soll, wird durch das Diktat der supranational gesteuerten Notverwaltung ersetzt. Es reduziert die parlamentarische Zustimmung auf ein formales symbolpolitisches Manöver und setzt die postmoderne Form der Governance, des technokratischen Administrierens vor dem Hintergrund nicht hinterfragbarer Verwertungsprämissen, an die Stelle des konstitutionellen Subjekts. Die protestierenden Menschen, die kein anderes Mittel haben, als der ihnen auferlegten Mangelordnung die entschiedene Verweigerung entgegenzusetzen, sind nurmehr Störfaktor im Kalkül zu optimierender Sozialkontrolle. Wenn sie nur Ruhe gäben, dann wäre alles so sehr in Ordnung, daß die Ausrufung des vollendeten Friedens herrschender Verhältnisse nicht lange auf sich warten ließe.

30. Juni 2011