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HERRSCHAFT/1608: Naheliegend, aber noch fern - Atomausstieg ruft Gegenkräfte auf den Plan (SB)



"Unter der Decke des allgemeinen Bekenntnisses zu erneuerbaren Energien" fände in Deutschland "ein sich zuspitzender Energiekonflikt" statt. Wenn es um Atomenergie gehe, werde inzwischen nicht mehr von einer Alternative zu erneuerbaren Energien gesprochen wie noch vor einigen Jahren, sondern von der berühmten Brücke. "Und diese Brücke soll möglichst sehr lang sein!" Bis in die Ökobewegung hinein werde auf die "Suggestivkraft des Großen" gesetzt, auf die vermeintliche Unverzichtbarkeit von Großkraftwerken ...

Diese Worte fielen lange vor der Fukushima-Katastrophe, unmittelbar vor dem Bruch der schwarz-gelben Bundesregierung mit dem Akw-Ausstiegsbeschluß der rot-grünen Regierung. Der Urheber dieser Worte, der inzwischen verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, unterstrich mit seiner hier zitierten Rede auf der "Energiekonferenz" der Partei Die Linke im September vergangenen Jahres in Hamburg seine prognostischen Fähigkeiten. Trotz mehrfachen Super-GAUs im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und einer wachsenden Anti-Akw-Bewegung in Deutschland und anderen Ländern gibt die Atomlobby noch lange nicht auf. Die wachstumsfixierte Industrie will auf ihre heißesten Öfen nicht verzichten.

Zur Zeit liefern in Deutschland aus Wartungs- und sicherungstechnischen Gründen nur noch vier Atomkraftwerke Strom ins Netz, und Vertreter der großen Konzerne sowie der Atomlobby warnen vor kommenden Blackouts. In einer gemeinsamen Erklärung behaupten die vier Stromnetzbetreiber Amprion, Tennet, 50hertz und EnBW-Netze, daß an kalten Wintertagen in Süddeutschland etwa 2000 Megawatt elektrische Leistung fehlen werden, sollten die aufgrund des Moratoriums vom Netz genommenen Atommeiler dauerhaft ungenutzt bleiben. Importe aus Nachbarländern könnten den Mangel nicht ausgleichen, warnen die Netzbetreiber, die Leistung zweier Akw-Blöcke sei unverzichtbar. Ein Abschalten von Kunden sei keine Alternative.

Eine Stellungnahme, keine Drohung, und doch ist zu spüren: hier geht es ums Eingemachte, hier wird um Bestandssicherung gerungen. Auch die großen Energiekonzerne warnen vor Stromausfällen, sollte die Bundesregierung die wegen des Moratoriums vorübergehend angeschalteten Meiler dauerhaft auf Eis legen. Die abgeschriebenen älteren Akws sind für die Betreiber der Esel, der goldene Dukaten scheißt. Mit großformatigen Offshore-Windparks und Wüstenstrom haben die kapitalstarken Unternehmen zwar längst ihren Fuß in die Tür zu alternativen Energieformen gesetzt, aber um auch dort profitträchtige, oligopole Produktionsformen wie in der Atomwirtschaft durchzusetzen, bedarf es noch einiger Anstrengungen.

Sekundiert werden Atomwirtschaft und Netzbetreiber vom Leiter der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris, Nobuo Tanaka. Deutschland solle beim Atomausstieg keinen Alleingang machen, sondern eine gemeinschaftliche Entscheidung in der Europäischen Union anstreben, sagte er gegenüber der "Financial Times Deutschland" [2]. "Sonst werden Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit in ganz Europa geopfert", malte der Energieexperte, der anscheinend kein prinzipielles Problem mit dem Betrieb von Atomkraftwerken hat, ein Schreckensbild an die Wand.

Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluß an die Fukushima-Katastrophe ein Abschalten und Überprüfen der älteren deutschen Akws angeordnet hat und ihr Umweltminister ein Wiederanfahren ablehnt, sollte man sich nichts vormachen. Der Atomausstieg muß weiterhin hart erkämpft werden. Die CSU verschiebt den Ausstieg bereits bis ins nächste Jahrzehnt hinein, und wenn die diesjährigen Landtagswahlen erst vorüber sind, dürften auch CDU und FDP ihre "grün" angehauchten Ausstiegspläne neu überdenken.

Wie keine andere Energieform fordert die zentralistische, für Mensch und Umwelt hochgefährliche Atomenergie eine behördliche Kontrolle und liefert den Vorwand für die Erweiterung exekutiver Maßnahmen beim Ausbau des Sicherheitsstaats. Die Wirtschaft wiederum profitiert von den oligopolen Strukturen. Da wundert es nicht, wenn ein Hermann Scheer, der sich für die dezentrale Solartechnik einsetzte, davor warnte, daß trotz oder besser eben wegen des erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Gesetzes noch mit einem kräftigen Gegenwind der Energiekonzerne zu rechnen sei.

Dezentralität der Energiesysteme, wachsende Energie-Autonomie, Abschied von wachstums- und profitorientierten Produktionsverhältnissen, alles das sind für die kapitalakkumulierenden Unternehmen rote Tücher. Wie recht sie doch haben ...

Anmerkungen:

[1] Der Bundestagsabgeordnete und Präsident von Eurosolar Hermann Scheer auf der "Energiekonferenz" am 03./04.09.2010 im Hamburger Kulturzentrum Fabrik laut Abschrift eines Audio-Mitschnitts des Schattenblicks.

[2] "Warnung vor höheren Strompreisen. Energieagentur fürchtet Atomausstieg", Financial Times Deutschland, 23. Mai 2011
http://www.ftd.de/politik/international/:warnung-vor-hoeheren-strompreisen-energieagentur-fuerchtet-atomausstieg/60055735.html

23. Mai 2011