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HERRSCHAFT/1592: Klassenkampf in den USA - Frontalangriff auf die Lebensverhältnisse (SB)



In den Vereinigten Staaten kehrt der Klassenkampf auf das Feld offener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit unvorhergesehener Wucht zurück. Angesichts der weltweiten Systemkrise kapitalistischer Verwertung schreitet die massenhafte Verelendung wachsender Sektoren der Erwerbsbevölkerung so dramatisch voran, daß die aus Not und Verzweiflung geborene Erhebung über den unmittelbaren Anlaß aktueller Drangsalierung hinaus grundsätzliche Einwände gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf die Tagesordnung politischer Diskussion und insbesondere organisierter Aktion setzt. Der Leim von Rassenhaß, Fremdenfeindlichkeit und Krieg, der das Gefüge fundamentaler Widersprüche durch die Beschwörung von Feindbildern so lange zu einer Nation zusammengeklebt hat, scheint seine Bindekraft zu verlieren, wenn die Menschen zusehends erkennen, wer ihnen tatsächlich im Nacken sitzt.

Der Angriff auf die Existenzbedingungen der Staatsbediensteten und letztlich die gesamte arbeitende Bevölkerung beginnt auf nationaler Ebene, wo Präsident Obama die Gehälter öffentlich Beschäftigter für mehrere Jahre eingefroren und die Sozialleistungen drastisch gekürzt hat. Er setzt sich fort in den Bundesstaaten, deren Gouverneure die Gehälter beschneiden wie auch Einsparungen im Bildungsbereich und bei der Gesundheitsversorgung durchsetzen wollen. Wenngleich Vertreter der beiden großen Parteien dabei am selben Strang ziehen, nutzen republikanische Mehrheiten darüber hinaus die Gunst der Stunde, legale Optionen der Staatsbediensteten, der Senkung ihres Lebensstandards Widerstand entgegenzusetzen, zu zerschlagen. In Indiana, Tennessee, Idaho, Kansas, Wisconsin und Ohio rollt eine Walze existentieller Gefährdung, sozialer Degradierung und repressiver Knebelung auf zahllose Menschen zu, was insbesondere in den beiden letztgenannten Bundesstaaten seit Wochen heftige Auseinandersetzungen in den parlamentarischen Gremien ausgelöst hat, vor allem aber mit massenhaftem Protest beantwortet wird, zu dem Zehntausende auf die Straße gehen. Mancherorts ist sogar die Rede vom Generalstreik, der eine explizit politische und weitreichende Stoßrichtung der Kämpfe implizierte.

In Wisconsin hat Gouverneur Scott Walker einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der Kürzungen von mindestens 1,5 Milliarden Dollar vorsieht. Sollte das Vorhaben durchgesetzt werden, hätte dies für Hunderttausende Beschäftigte und ihre Familien einschneidend reduzierte Einkünfte, abgebaute soziale Dienste und nicht zuletzt eine drastische Einschränkung ihrer demokratischen Rechte zur Konsequenz. Die gravierendsten finanziellen Einbußen betreffen Schulen und Kommunalverwaltungen, gefolgt vom Gesundheitsprogramm Medicaid, das die medizinische Versorgung von mehr als einer Million Einwohner des Bundesstaats aufrechterhält. Besonders verheerend werden die Auswirkungen für Menschen mit geringem Einkommen und Familien mit Kindern sein. Gespart werden soll auch beim Etat der Universität von Wisconsin, von der überdies ein Zweig abgetrennt und privatisiert wird, wodurch rund 17.000 Arbeitsplätze gefährdet und rasant steigende Studiengebühren zu erwarten sind. [1]

Walkers Haushaltsplan schließt zudem die Forderung nach Abschaffung von Tarifverhandlungen ein, wogegen Gewerkschaftsvertreter Sturm laufen, die ansonsten wachsweiche Kompromißbereitschaft hinsichtlich der geplanten Kürzungen an den Tag legen. Die Abschaffung der Tarifautonomie ist denn doch ein derart heißes Eisen, daß es selbst erklären Protagonisten des Klassenkonsenses nicht geheuer sein kann. Dies dürfte auch für jene vierzehn Demokraten gelten, die vor drei Wochen aus dem Senat auszogen, um so das für die Abstimmung erforderliche Quorum zu verhindern. Dieses Manöver hat Gouverneur Walker mit der Drohung beantwortet, er werde ab Anfang April beginnen, Tausende Staatsbedienstete zu entlassen. Die republikanische Mehrheitsfraktion hat im Senat eine Geldbuße von 100 Dollar pro Tag der Abwesenheit für die fehlenden Parlamentarier durchgesetzt.

Von massivem Protest begleitet ist auch die Austeritätsinitiative in Ohio, wo der Senat einen Gesetzesentwurf gebilligt hat, der drastische Kürzungen der Gehälter und Sonderleistungen für öffentlich Beschäftigte vorsieht. Darüberhinaus hebelt er nicht nur Tarifverhandlungen in diesem Sektor aus, sondern hebt auch das Streikrecht auf. Unmittelbar betroffen sind rund 360.000 Beschäftigte und ihre Familien. Im Unterschied zu Wisconsin reichte im Senat von Ohio die einfache Mehrheit zur Verabschiedung aus, so daß die demokratische Minderheit selbst bei kompletter Abwesenheit die Abstimmung nicht verhindern konnte. Allerdings waren längst nicht alle Republikaner bereit, die Kriegserklärung an die Gewerkschaften mitzutragen. Um die erforderliche Mehrheit dennoch sicherzustellen, bedienten sich die Republikaner des perfiden Manövers, Mitglieder in wichtigen Senatsausschüssen kurzfristig auszuwechseln. Da die Republikaner auch im Repräsentantenhaus über eine Mehrheit verfügen, geht man davon aus, daß Gouverneur John Kasich das Gesetz binnen weniger Tage in Kraft treten lassen kann. [2]

Der Bundesstaat Ohio weist nicht nur doppelt so viele öffentlich Beschäftigte wie Wisconsin auf, er nimmt auch im Unterschied zu diesem keine Gewerkschaften, die Polizisten oder Feuerwehrleute vertreten, von der Gesetzesinitiative aus. Vor allem aber hat Ohio eine noch schärfere Fassung vorgelegt, die das Streikrecht staatlich Bediensteter abschafft sowie Geld- und Haftstrafen für dennoch Streikende vorsieht. Weitgehend gestrichen wird zudem das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, wie auch alle bestehenden tariflichen Vereinbarungen bei Bedarf außer Kraft gesetzt werden können. Entlassungen werden erleichtert, die Zahl der Urlaubstage wird reduziert, Dienstjahre sind kein Maßstab für Gehaltserhöhungen mehr, die man künftig an ein rigides Leistungsprinzip koppelt. [3]

In Ohio, dessen ehemals zahlenmäßig starke Arbeiterschaft durch den Niedergang der Stahl-, Automobil- und Reifenproduktion enorm dezimiert und in ihrer Kampfbereitschaft geschwächt wurde, gärt nun der Unmut. Wenn der Gouverneur das Gesetz unterschrieben hat, bleibt den Wählern noch eine kleine von Rechts wegen vorgesehene Chance, dessen Anwendung mit Hilfe einer Petition zu verhindern. Unterschriften dafür zu sammeln, muß indessen nicht die einzige Handlungsmöglichkeit bleiben, die den Drangsalierten angesichts dieses Frontalangriffs auf ihre Lebensverhältnisse in den Sinn kommt.

Anmerkungen:

[1] Für einen Generalstreik in Wisconsin! Walker muss abtreten! (04.03.11)
World Socialist Web Site

[2] Ohio senate passes anti-worker bill (04.03.11)

World Socialist Web Site

[3] Ohio's union bill is tougher than Wisconsin's, so where is the outrage' (03.03.11)
The Christian Science Monitor

5. März 2011