Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1573: Woher kommt der Haß? Attentat auf US-Politikerin Gabrielle Giffords (SB)



Ungewöhnlich offen äußerte sich der oberste Polizist des Bezirks Pima County in Arizona, wo ein Attentäter in der Stadt Tucson sechs Personen ermordete und die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords lebensgefährlich verletzte. Sheriff Clarence Dupnik machte die haßerfüllte, gewalttätige und regierungsfeindliche Rhetorik in den Medien für den Anschlag verantwortlich und forderte die US-Bürger auf, in sich zu gehen. Das wären nicht mehr die "netten Vereinigten Staaten, in denen die meisten von uns aufwuchsen", klagte Dupnik, der vor einem Jahr bereits landesweite Berühmtheit erlangte, weil er sich weigerte, ein Einwanderungsgesetz, das racial profiling legalisierte, zu befolgen.

Die rhetorischen Angriffe der republikanischen Tea Party auf die demokratische Politikerin Giffords sind für diese Ausnahmeerscheinung unter US-amerikanischen Vollstreckungsbeamten im Grenzbereich zu Mexiko Ausdruck einer Malaise, die den Bundesstaat Arizona in ein "Mekka des Vorurteils und der Bigotterie" verwandelt habe. "Do not retreat! Instead - reload" lautete eine der Parolen, mit der die von ihren Anhängern als "Mama Grizzly" verehrte republikanische Politikerin Sarah Palin zum Angriff auf die ins Visier eines Zielfernrohrs genommene politische Konkurrenz blies. Sich nicht zurückziehen, sondern nachzuladen beschwört die Mentalität der Frontier, die nur deshalb immer weiter nach Westen getrieben werden konnte, weil die amerikanischen Ureinwohner vertrieben, vernichtet oder kolonisiert wurden. Palins Image als starke Frau, die es mit allen Herausforderungen der Wildnis Alaskas aufnehmen kann, schöpft aus diesem Gründungsmythos ebenso wie die Ideologie der Schußwaffenbesitzer, stets in der Lage zu sein, sich gegen eventuelle Angreifer zu verteidigen.

Die blutigen Wurzeln der hierzulande gerne im neoliberalen Kontext zu einem erstrebenswerten Ideal verklärten Freiheitsbegeisterung der US-Bürger setzen sich in der Militarisierung der US-Gesellschaft bruchlos fort. Giffords republikanischer Herausforderer bei den Kongresswahlen im November 2010, der Ex-Soldat Jesse Kelly, warb für seine Eignung als Abgeordneter mit einem Bild, auf dem der Irakveteran im Kampfanzug des US Marine Corps zu sehen war. Das Foto war bei einem Treffen von Schußwaffenbesitzern entstanden: "Nimm den Sieg im November ins Visier. Hilf Gabrielle Giffords aus dem Amt zu entfernen. Feuer mit Jesse Kelly eine vollautomatische M16 ab".

Nicht mit dieser Schnellfeuerwaffe, sondern einer 9mm Glock-Pistole, deren Magazin bis zu 33 Schuß enthalten kann, traf der mutmaßliche Attentäter Jared Loughner die Politikerin mitten in den Kopf. Er ermordete sechs Personen, darunter ein neunjähriges Mädchen, und verletzte 13 Passanten. Die Debatte um den privaten Besitz solcher potenter Schußwaffen hat in den USA nicht zu einem generellen Verbot oder zumindest einer Einschränkung des Verkaufs besonders feuerstarker Pistolen und Gewehre geführt. Waffen, mit Hilfe derer in kurzer Zeit zahlreiche Menschen umgebracht werden können, sind der ganze Stolz vieler Waffenbesitzer. Diese Leidenschaft ist nicht nur Ergebnis der inneren Kolonisierung des Landes, sie kommt auch der Militarisierung der US-Gesellschaft entgegen und wird daher selbst von demokratischen Politikern wie Giffords als Ausdruck uramerikanischer Freiheitsrechte verstanden und verteidigt.

Dupniks verklärter Blick auf die Vergangenheit ist denn auch ebenso oberflächlich wie die Behauptung, die haßerfüllte Rhetorik der Tea Party und anderer rechter Bewegungen sei für dieses Attentat verantwortlich zu machen. Zweifellos verschärfen schießwütige Metaphern innere Konflikte, deren Ursachen sind jedoch breiter angelegt, als daß allein die besonders aggressiven Exponenten der US-Gesellschaft dafür verantwortlich gemacht werden könnten. Der Vietnamkrieg war Ausdruck eines gewalttätigen, von den führenden Politikern beider US-Regierungsparteien propagierten Nationalverständnisses wie alle weiteren Kriege, in denen die überfallenen Bevölkerungen mit massiver Feuerkraft niedergemacht wurden. Das durchaus folgenschwere Aufhetzen der Bevölkerung gegen mißliebige Minderheiten oder dissidente Gruppen traf vor 50 Jahren, als die USA in den Augen des Sheriffs ein "nettes Land" waren, vor allem Schwarze und Linke, heute sind es hispanische Migranten und arabische Muslime. In den USA tobt ein unterschwelliger sozialer Krieg, könnten die individuellen Lebensaussichten für eine wachsende Zahl US-Bürger doch nicht düsterer sein.

Ausgetragen wird dieser Klassenkampf anhand kulturalistischer und rassistischer Feindbilder. Derweil geht der ihm zugrundeliegende neoliberale Kapitalismus in der Ideologie von freedom & democracy auf, die auch in Europa die Zementierung neofeudaler Verhältnisse legitimiert. Da diese Gesellschaftsform nach innen so repressiv wie nach außen aggressiv durchgesetzt wird, werden gewalttätige Eskalationen wie das Attentat von Tucson zwar beklagt, aber prinzipiell in Kauf genommen. Der soziale Krieg wird mit Mitteln geführt, die mitunter auch diejenigen treffen, die ihn verwalten und rechtfertigen. In einem solchen Fall ist die Betroffenheit um so größer, weil sie an anderer Stelle, wenn namenlose Habenichtse unter die Räder zerstörerischer kapitalistischer Produktivität geraten, gar nicht erst aufkommt.

9. Januar 2011