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HERRSCHAFT/1554: Anti-Atom-Demo Berlin - Bürger gegen den Atomstaat (SB)



Klimaschutz sei eine "Ersatzreligion", erklärte kürzlich sinngemäß die CDU-Abgeordnete Marie-Luise Dött, umweltpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, und meinte damit all das, was Merkel und Röttgen "täglich hochhalten" (www.ftd.de, 16.9.2010). Da drängt sich die Frage auf, für welche andere Religion der Klimaschutz Ersatz sein soll. Etwa für die vorherrschende Religion mit ihrer heiligen Trinität Wachstum, Profitmaximierung und Kapitalakkumulation? Aber gewiß. Ein konsequenter Klimaschutz kommt nicht daran vorbei, die Produktionsbedingungen, unter denen Arbeit verwertet und Mehrwert abgeschöpft wird, zu hinterfragen. In der Ablehnung von emanzipatorischen Ideen und praktizierten Konsequenzen, auch wenn sie sich auf die Energieversorgung beschränkten, liegen Dött und die Kanzlerin mit ihrem Knappen auf einer Linie.

Angela Merkel und Norbert Röttgen haben in den zurückliegenden Monaten das Spiel Guter-Bulle-böser-Bulle vorgeführt. Das wird seit der Einführung eines Umweltministeriums 1986 gespielt. Der heutige Umweltminister hält eine Verlängerung von Akw-Laufzeiten von mehr als acht Jahren für verfassungsrechtlich bedenklich und erntet damit die Zustimmung der Anti-Akw-Bewegung - Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen kanzelt ihren Minister ab und handelt gemeinsam mit dem Wirtschaftsminister und den vier führenden Atomkonzernen E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall eine Laufzeitverlängerung der Akws um bis zu vierzehn Jahre aus. Nimmt Röttgen daraufhin seinen Hut, um wenigstens durch sein Ausscheiden aus dem Amt zu demonstrieren, daß er es ernst meint? Nein, genausowenig wie einst der grüne Umweltminister Jürgen Trittin, nachdem er von Bundeskanzler Gerhard "Chefsache" Schröder ebenfalls nicht zu wichtigen Verhandlungen mit der Atomwirtschaft über den Energiekonsensvertrag eingeladen worden war und später nur noch den Abnicker geben durfte.

Umweltminister erfüllen seit jeher eine gesellschaftliche Feigenblattfunktion. Sie sollen das Protestpotential auffangen und in geordnete, kontrollierbare Bahnen lenken. Daß sich ein Minister Röttgen manchmal querstellt, gehört zum Geschäft. Fehlte nur noch, daß er sich am Samstag auf der großen Anti-Atom-Demonstration in Berlin sehen läßt - es reicht doch, daß Gabriel und Nahles ihr Kommen angedroht haben ...

Zehntausende Menschen werden das Regierungsviertel umzingeln, um ihrer vermeintlichen Ersatzreligion zu frönen und gegen den administrativ-industriellen Nuklearkomplex zu demonstrieren. Das wird selbst das Berliner Verwaltungsgericht nicht verhindern können, das am Donnerstag abend ein Urteil gefällt hat, das eines sehr deutlich macht: Die beanspruchte Gewaltenteilung ist eine Farce oder, anders gesagt, sie hindert die Gewalten nicht daran, Hand in Hand gegen die Bevölkerung zu agieren. Das Gericht hatte dem Einwand des Bezirksamt Berlin-Mitte stattgegeben und entschieden, daß vor dem Reichstagsgebäude keine Kundgebung stattfinden darf, um den Rasen nicht zu beschädigen. Daß darauf täglich Scharen von Touristen herumtrampeln und an vielen Tagen im Jahr Kundgebungen stattfinden, scheint das Gericht für nicht relevant zu halten. Im zukünftigen Atomstaat, den zu verhindern die Demonstranten angetreten sind, dürfte mit noch schärferen Repressionen als dem des eingeschränkten Demonstrationsrechts zu rechnen sein.

Die monatelange Polit-Scharade im Vorfeld der Verhandlungen zwischen Regierung und Stromkonzernen mit dem Ergebnis der Laufzeitenverlängerung für Akws, der Fortsetzung des Ausbaus eines radioaktiven Endlagers im Salzstock Gorleben und des Gegeneinander-Aufrechnens von Sicherheitsmaßnahmen für Akws und Investitionen in erneuerbare Energien nährt den Verdacht, daß die Regierung gewillt ist und von langer Hand geplant hat, den zu erwartenden breiten Widerstand gegen jeglichen Ausbau der atomaren Infrastruktur zu brechen. Die Aussicht auf einen Atomausstieg hatte 1998 wesentlich zum Regierungswechsel beigetragen - nun wollen Merkel und Westerwelle den Trend umkehren.

Mit dem Ausstieg aus dem Atomausstieg werden die Resterinnerungen an eine geschichtliche Phase, in der die Grünen bzw. Alternativen noch Opposition genannt werden konnten, getilgt. Dabei war selbst die Ökobewegung bereits die verbürgerlichte Version eines sehr viel gesellschaftskritischeren Widerstandspotentials. Der faktische Wiedereinstieg in die Atomwirtschaft paßt in eine Zeit, in der die Bundeswehr endgültig von einer Armee der Landesverteidigung zur Einsatzarmee umgebaut wird, damit sie für die Aufrechterhaltung der heimischen Produktionsstätten den Zugang zu Rohstoffen und Handelswegen sichert.

In diesem geostrategischen Kontext kommt der atomaren Energieerzeugung und Bewaffnung eine herausragende Bedeutung zu. So wie die Bundeswehr nicht auf die nukleare Teilhabe verzichtet und Trägersysteme bewahrt, die Atombomben befördern können, sollen auch Atomkraftwerke gegen den Willen großer Teile der hiesigen Bevölkerung und trotz erheblicher gesundheitlicher Belastung der Menschen in den Uranabbauregionen weiterbetrieben werden.

17. September 2010