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HERRSCHAFT/1468: Mobile Arbeitslager - die Freizügigkeit der EU (SB)



Durch die Gründung der Europäischen Union ist es den Kapitalinteressen gelungen, die Bedingungen, unter denen die menschliche Arbeitskraft fremdnützig ausgebeutet werden kann, entscheidend zu verbessern. Mit der anschließenden Erweiterung der EU nach Osten und Südosten wurden sie unter Einbezug neuer Verwertungsräume nochmals zugunsten der Unternehmen weiterentwickelt. Die sozialen Disparitäten innerhalb von neuen EU-Mitgliedern wie Polen, Rumänien, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Ungarn nahmen zu.

Parallel dazu wurden die sogenannten Arbeitnehmer, die eigentlich Arbeitgeber heißen müßten, da sie die Arbeit machen, während sich die sogenannten Arbeitgeber vom Mehrwert der geleisteten Arbeit nähren - wir bleiben jedoch des besseren Verständnisses wegen bei den üblichen, pervertierten Bezeichnungen - in der alten EU einem erhöhten Konkurrenzdruck unterworfen. Die Arbeiter wurden gegeneinander ausgespielt, und die Regierungen spielten dazu die Begleitmusik, indem sie den krassen sozialen Widerspruch in organisierte Verarmungsprogramme wie zum Beispiel Hartz IV in der Bundesrepublik lenkten.

Damit ist noch nicht das Ende der Verwertung der menschlichen Arbeitskraft erreicht, wie ein Beispiel aus Großbritannien zeigt. Im nordostenglischen Hafen von Grimsby sind mehrere Schiffe mit italienischen Arbeitern angedockt. Sie arbeiten in einer nahegelegenen Ölraffinerie des französischen Konzerns Total. Der Lohnunterschied zur einheimischen Bevölkerung beträgt 35 Prozent. Die Bevölkerung hat deswegen schon Demonstrationen veranstaltet, wie der Christian Science Monitor (1.7.2009, online) meldete, der Kampagne wurde landesweite Sympathie bekundet - nicht zuletzt in Vorausschau auf die Bautätigkeiten für die Olympischen Spiele 2012 in London. Eine weitere "Ladung" polnischer Arbeiter, die auf einem Schiff untergebracht werden sollen, wurde für den Bau eines Kraftwerks auf der Isle of Grain in der Grafschaft Kent genehmigt. Anfang Mai kam es landesweit zu Protesten, weil eine Ölraffinerie in Wales 50 polnische Arbeiter eingestellt hatte. Das wiederum wußten rechtsgerichtete Kräfte für Stimmengewinne bei der Europawahl zu nutzen, obgleich ihr Chauvinismus keinen Gegenentwurf zum neoliberalen Vollverfügbarkeitsanspruch der Arbeiterschaft bildet.

Der Anblick von Baukolonnen oder Erntehelfern aus dem Ausland ist in Deutschland und anderen EU-Mitgliedsländern selbstverständlich keine Seltenheit. Doch die Entwicklung, die hier beispielhaft geschildert wird, geht weiter, so daß im Zuge auch der arbeitsrechtlichen Angleichung der EU-Mitglieder neue Formen der Ausbeutung möglich werden. So wie das Individuum im Prinzip das Recht der Freizügigkeit hat, sich in jedem beliebigen EU-Land Arbeit zu suchen - nationale Einschränkungen einmal nicht berücksichtigt -, so wird es auch den Arbeitgebern erleichtert, Tarifverträge auszuhebeln, Sozialleistungen einzusparen, Löhne zu drücken und Arbeitsverhältnisse zu schaffen, die sich am äußeren Rand der Legalität bewegen, wenn die Arbeiter als einfach zu verschiffende Manövriermasse hin und her geschoben werden können.

Aus der von dem Unternehmer gezielt herbeigeführten innereuropäischen Konkurrenzsitutation ergeben sich aus seiner Sicht enormen Vorteile auch struktureller Art. Das Ausspielen der Arbeitskräfte gegeneinander verändert das Menschenbild. Je mehr sich der Mensch über Arbeit definiert und das tut er schon weitgehend, desto mehr erscheinen Arbeitergeber als Halbgötter, von deren Gunst oder Mißgunst das Wohl und Wehe der Menschen abhängen. Wenn hier und da einige Halbgötter stürzen, wie zuletzt der Finanzjongleur Bernard Madoff, stärkt das nur die Ordnung, da das vom systemischen Jonglieren der Finanzwelt - das heißt Schulden machen und die Lasten nach unten weitergeben - ablenkt.

Schiffe, auf denen Arbeiterinnen und Arbeiter an die Einsatzorte der Produktion gebracht werden, könnte man als mobile Bestandteile von Arbeitslagern bezeichnen. Die für die Produktion unverzichtbaren biomechanischen Humananteile werden auf diese Weise von Zulieferfirmen genauso an die Produktionsstätten herangeführt wie beliebige Werkstücke oder Fabrikationsmittel. In einer Zeit zunehmend unsicherer werdender Arbeitsverhältnisse bilden Schiffe, die Arbeitskräfte "geladen" haben, das neuzeitliche Pendant zu ortsfesten Trabantenstädten, jenen vertikalen Lagern, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in kastenartigen, aufeinandergestapelten Behausungen verbracht werden.

3. Juli 2009