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HERRSCHAFT/1452: Karitative Distanz ... arm sind immer die anderen (SB)



Wenn man das große Aufgebot führender Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik betrachtet, daß sich für den 32. Evangelischen Kirchentag in Bremen angekündigt hat, dann braucht man nicht darauf zu hoffen, daß die Protestanten sich zu einer Kritik an den herrschenden Verhältnissen versteigen, die über die immunisierende Beschwichtigung zorniger Geister hinausgeht. Über die Blitzableiterfunktion, Spekulanten und Manager der Gier zu bezichtigen und moralisch zu verdammen, ist keine Grundlagenkritik am kapitalistischen System zu erwarten. Dafür wird das jahrestagsbedingte Thema der Kollaboration der evangelischen Kirche mit dem SED-Regime so viel Raum einnehmen, daß sich Fragen nach der Kollaboration der EKD mit Bundesregierungen, die sich an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligen, die notleidende Flüchtlinge kaltherzig ihrem Schicksal überlassen oder Erwerbslose mit Zwangsmaßnahmen drangsalieren, erübrigen.

Nie ist die Befriedungsfunktion der Amtskirchen wichtiger als in Zeiten einer Krise, die an den Grundfesten der Glaubwürdigkeit dieser Gesellschaftsordnung rüttelt. Das bewies die Grünen-Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt, die als Vizepräsidentin des Bundestages und als Vorsitzende der EKD-Synode exemplarisch die nach wie vor große Bedeutung der institutionalisierten Religiosität für die Kohäsion der Gesellschaft symbolisiert, in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk (20.05.2009). Die ihrer Ansicht nach in der Krise um so wichtigere Frage, was "das Eigentliche im Leben" sei, lenkt ad hoc davon ab, daß das Uneigentliche des ökonomischen Gewaltverhältnisses Millionen von Menschen unter den Nägeln brennt. Für Göring-Eckardt zielt die von Gott gestellte Frage - das Leitmotiv des Kirchentags - "Mensch, wo bist du?" darauf ab, "nach Verantwortung zu suchen, nach Handlung zu suchen".

Wozu suchen, wenn die Probleme und Konflikte überall und jederzeit offen zutage liegen? Das hört sich gar nicht streitbar an und ist keineswegs als Aufruf gemeint, sich als Christ im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit auf die Seite der zusehends um ihre Existenzgrundlage gebrachten Lohnabhängigen und Erwerbslosen zu stellen. Dennoch will die grüne EKD-Funktionärin in Bremen über "die Frage der Gerechtigkeit, der Armutsbekämpfung gerade bei Kindern" sprechen:

"Wenn wir über Armutsbekämpfung reden, dann ist ganz unverzichtbar, dass wir uns um die Armen kümmern, aber es ist eben auch wichtig, dass diejenigen, die die schwächsten sind, die besonders wenige Chancen haben - wir haben gerade gestern ja mit den neuen Zahlen zur Armut in Deutschland wieder einen erschütternden Befund bekommen -, dass die auch in die Mitte der Gesellschaft und übrigens eben auch in die Mitte der Kirchengemeinde gehören und nicht nur da, wo man sich um sie kümmert, sondern sie müssen beteiligt sein. Das können wir üben, das können wir einüben und dann, hoffe ich, auch Vorbild sein." Deutschlandfunk
(20.05.2009)

Was sich wohlmeinend als Bereitschaft verstehen läßt, karitative Arbeit zu leisten und etwas für die "Integration" ausgegrenzter Menschen zu tun, kann von den Betroffenen ebensogut als paternalistische Bevormundung und herablassende Arroganz empfunden werden. "Die Armen" sind immer die anderen, das gilt auch für Kirchenfunktionäre, die behaupten, im Namen eines Mannes zu handeln, als dessen wesentliches Merkmal die Überwindung aller Distanz zu den von Entbehrungen und Schmerzen betroffenen Menschen in Erinnerung geblieben ist. Sich mit sozialen und gesellschaftlichen Problemen auf eine Weise zu beschäftigen, die wirklich etwas bewegt und verändert, setzt voraus, die Sicherheit des Hochsitzes professioneller und institutionalisierter Distanz aufzugeben. Daraus entsteht die produktive Gefahr, auf eine Weise mit Problemen und Konflikten in Berührung zu kommen, bei der die Einseitigkeit des vorbehaltlosen Eintretens für die Unterdrückten und Ausgebeuteten an die Stelle abwägender, den eigenen Fluchtraum sichernder Überlegungen tritt.

Die Frage "Mensch, wo bist du?" muß denn auch nicht auf einen bestimmten Ort, etwa dem der Gnade oder des Mitgefühls, verweisen. Sie geht erst dann über einen Klageruf, der auf die Unterwerfung unter das numinose Walten einer göttlichen Macht hinausläuft, hinaus, wenn das Postulat "Mensch" nicht zur selbstevidenten Gewißheit verabsolutiert, sondern als Frage nach all dem genutzt wird, über das er in seiner desolaten und zerrissenen Situation nicht verfügt. Das Eintreten für den andern wird erst dann glaubhaft, wenn es nicht in Erwartung auf den dafür zu erhaltenden Lohn erfolgt. Um diesen Lohn geht es Kirchenfunktionären ganz wesentlich, so daß ihnen ein sozialrevolutionäres Christentum ausschließlich ein zu bekämpfendes Übel sein kann.

21. Mai 2009