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HEGEMONIE/1814: Paradigmenwechsel - deutsch-chinesischer Schulterschluß (SB)



Tiefe Risse im westlichen Bündnis und unverhoffte geopolitische Allianzen - in atemberaubender Taktfolge wechseln die Szenarien, als bräche angesichts multipler Krisen im Rennen um die schwindenden Sourcen des Überlebens Torschlußpanik aus. Vielerorts wird die Doktrin eigenständiger Stärke neu definiert und kalibriert. Wirtschaftsmacht und Waffengewalt, die Zwillingskomponenten imperialistischer Aggression, marschieren längst auch im deutschen Gleichschritt an die Front. Wenn die Bundeskanzlerin in einem Münchner Bierzelt nach dem Debakel des desolaten G-7-Gipfels im italienischen Taormina beklagt, daß man sich auf die Amerikaner nicht mehr verlassen könne, wenig später in Berlin mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang den wirtschaftspolitischen Schulterschluß signalisiert und in Kürze nach Mexiko in den von den USA für sich reklamierten Hinterhof reist, zeugt dies von einer beschleunigten Umsetzung seit langem geschmiedeter Entwürfe deutscher Vormachtstellung auch über Europa hinaus. Wenngleich das keinesfalls bedeutet, daß die nordatlantische Partnerschaft umgehend für obsolet erklärt würde, deuten sich doch erhebliche Verschiebungen im Gefüge westlicher Suprematie an, zeichnet sich am Horizont sogar ein nicht länger auszuschließender Paradigmenwechsel der geostrategischen Großwetterlage ab.

Daß solche Kontrapunkte in Reaktion auf aktuelle Ereignisse mehr oder minder instinktsicher gesetzt, aber von ihrer Stoßrichtung her keineswegs mit heißer Nadel gestrickt werden, unterstreicht der bereits seit mehreren Jahren angestrebte Ausbau der deutsch-chinesischen Partnerschaft. Schon jetzt sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu China so eng wie zu keinem anderen Land außerhalb der EU. Seit 2011 finden regelmäßig Regierungskonsultationen zwischen beiden Ländern statt, und im vergangenen Jahr war China mit einem Handelsvolumen von knapp 170 Milliarden Euro noch vor Frankreich und den USA der wichtigste Wirtschaftspartner Deutschlands. [1]

Die Volksrepublik will bis 2025 von der Werkbank für billige Massenware zu einer Nation werden, die durch Innovation, Qualität und Spitzentechnologie wie Computer, Autos, Flugzeuge und Fabrikanlagen besticht. Li pries den deutschen Mittelstand als bewundertes Vorbild von Weltklasse. Wie die Kanzlerin lobte auch er die Fortschritte, die Deutschland und China seit dem Beginn ihrer 2014 vereinbarten "Strategischen Partnerschaft" auf dem Gebiet von Forschung und Innovation gemacht haben. In Berlin versicherten Vertreter beider Länder, sie wollten ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit weiter vertiefen. Merkel kündigte die Einrichtung eines gemeinsamen Forschungsfonds an, der 2018 starten und ab 2020 jährlich mit bis zu vier Millionen Euro von beiden Seiten ausgestattet sein soll. Zu den Schwerpunkten der Zusammenarbeit gehören Themen wie "Industrie 4.0" und Elektromobilität. [2]

Zeitgleich hat die Deutsche Bank ihre Beteiligung an der Finanzierung von Chinas gigantischem Infrastrukturprojekt "Neue Seidenstraße" bekanntgegeben. Gemeinsam mit der staatlichen China Development Bank (CDB) sollen in den kommenden fünf Jahren insgesamt 2,7 Milliarden Euro für Projekte rund um die Seidenstraßen-Initiative bereitgestellt werden. [3] Beim aktuellen Besuch der Delegation aus der Volksrepublik wurde nun ein gutes Dutzend deutsch-chinesischer Vereinbarungen unterzeichnet, in denen es unter anderem um die Zusammenarbeit im Bereich künstliche Intelligenz, bei der Luftfahrt und der Entwicklung des Elektroautos geht.

Von allergrößter Bedeutung ist indessen das politische Signal, man werde die Zusammenarbeit gerade angesichts des aktuellen Kurses der Regierung in Washington intensivieren. Wie Merkel und Li betonten, sei die Kooperation wirtschaftlich starker Nationen unverzichtbar. "Wir befinden uns in einer Zeit der internationalen Zusammenarbeit", betonte Li. Er halte sogar die Zeit für gekommen, ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und China abzuschließen, worauf die Kanzlerin in Aussicht stellte, dies intensiv zu prüfen. Während Trump die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) scharf kritisiert hatte, stellten China und Deutschland die besondere Rolle der WTO heraus: "Wir setzen auf offene Märkte. Die WTO hat eine zentrale Funktion", erklärte Merkel, die sich für den Verbleib Chinas in der Welthandelsorganisation stark machen will.

Ungefragt kam Li sogar auf den Handelsüberschuß Deutschlands mit China zu sprechen, mit dem er nicht unzufrieden sei, da seinem Land dadurch eine breitere Palette hochwertiger Erzeugnisse zugute komme. Darüber hinaus versicherte der chinesische Ministerpräsident, daß die Rahmenbedingungen für deutsche Hersteller in China günstig gestaltet würden. So verwies er auf den Kompromiß, den man mit den deutschen Automobilherstellern bei der Einführung von Quoten für Elektroautos in China gefunden habe. Da das Land für die deutschen Autobauer der wichtigste Einzelmarkt ist, hatten die Elektroauto-Quoten bei den Konzernen Befürchtungen ausgelöst, nicht schnell genug mit neuen Modellen am Markt zu sein. [4]

In scharfem Kontrast zum Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen versprach der chinesische Regierungschef, daß China zu seiner Verantwortung stehe und ein grünes, nachhaltiges Wirtschaftswachstum herbeiführen wolle. Nach den Worten Li Keqiangs könne sich Deutschland bei dem in wenigen Wochen anstehenden G20-Gipfel der führenden Industrie- und Schwellenländer in Hamburg auf die Unterstützung Chinas verlassen. [5]

Außenminister Sigmar Gabriel hatte bereits kurz nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump die Entwicklung einer deutschen und europäischen Asienstrategie angekündigt, um "die Räume, die Amerika frei macht, zu nutzen". Am 24. März verkündete er dann offiziell "eine Neuausrichtung" der deutschen "Asienpolitik" und die "Einrichtung einer neuen Asien- und Pazifikabteilung" im Auswärtigen Amt an: "Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen der internationalen Politik Krisen, Umbrüche und neue Dynamiken. Man hat den Eindruck, diese Welt wird neu vermessen - und dabei benutzt jeder sein eigenes Maßband. Eines ist dabei klar: Die aufstrebenden Staaten Asiens werden bei dieser Neuvermessung der Welt eine Schlüsselstellung einnehmen."

Wie Gabriel weiter ausführte, gehe es darum, die deutschen "Beziehungen zu Asien zu intensivieren und strategischer zu gestalten, um der weiter steigenden Bedeutung dieser Region mit seinen mehr als vier Milliarden Menschen und schnell wachsenden Märkten noch besser gerecht zu werden. Er habe deshalb entschieden, im Auswärtigen Amt erstmals eine eigene Asienabteilung aufzubauen, welche die regionalen Kompetenzen besser bündeln und weiter ausbauen soll. Es sei "höchste Zeit, dass wir auch in unserer Mannschaftsaufstellung im Auswärtigen Amt dem weiter wachsenden Gewicht Asiens gerecht werden".

Im Kontext einer umfassenden Neuausrichtung der Außenpolitik standen auch die Anfang der Woche durchgeführten deutsch-indischen Regierungskonsultationen, bei denen Entwicklungsprojekte in Milliardenhöhe vereinbart wurden. Der indische Premierminister Narendra Modi und Angela Merkel vereinbarten einen Entwicklungsetat, der jährlich eine Milliarde Euro für Indien vorsieht. Modi sprach vom großen Bedarf seines Landes bei der Modernisierung der Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, ziviler Luftverkehr und eine moderne Kommunikationstechnik. In all diesen Bereichen wolle Indien von der Expertise der deutschen Wirtschaft profitieren. Mit einem Handelsvolumen von etwa 17 Milliarden Euro ist Deutschland bereits jetzt der wichtigste Wirtschaftspartner Indiens innerhalb der EU. Neben Bundeskanzlerin Merkel und Premier Modi nahmen die jeweiligen Fachminister an den Konsultationen teil. Laut Bundesregierung war neben bilateralen Fragen "die Gestaltung der globalen Ordnung" ein Schwerpunktthema.

Die USA hatten bereits unter Barack Obama ihre Hinwendung nach Asien verkündet, um China wirtschaftlich zu isolieren und militärisch einzukreisen. Die neue US-Regierung bereitet immer offener eine direkte militärische Konfrontation mit Nordkorea und China vor. Neben Handels- und Wirtschaftsinteressen verfolgen Deutschland und die EU nun ihrerseits offen sicherheitspolitische und militärische Interessen in einer Region, die bereits jetzt zu den meistumkämpften und explosivsten in der Welt gehört. In einer programmatischen Festrede beim Ostasiatischen Verein in Hamburg hat Sigmar Gabriel kürzlich erklärt: "Asien ist eine Schlüsselregion für unsere Zukunft hier zu Hause. Denn die Wege zur Lösung unserer globalen Herausforderungen werden eben nicht mehr nur von den alten Strukturen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt werden können. Sondern die Wege zur Lösung internationaler Herausforderungen verlaufen durch Asien."


Fußnoten:

[1] https://www.wsws.org/de/articles/2017/06/01/asie-j01.html

[2] http://www.tagesspiegel.de/wissen/china-forsches-programm/19883064.html

[3] https://www.jungewelt.de/artikel/311694.deutsche-bank-aktiv-bei-seidenstraße.html

[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/handel-china-deutschland-101.html

[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165158135/Chinas-Giftpfeile-gegen-Trump-erfreuen-die-Kanzlerin.html

2. Juni 2017


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