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HEGEMONIE/1779: Rußland zur Räson deutscher Interessenpolitik bringen (SB)




Tief sitzt der Ärger darüber, daß der auf ein Referendum gestützte Wechsel der Krim von der Ukraine nach Rußland von der dort lebenden Bevölkerung mehrheitlich gewollt war. Was den NATO-Staaten bei der Abtrennung des Kosovo von Serbien nur unter großem Aufwand und mit viel Blutvergießen gelang, darf bei der politischen Bewertung der Situation in der Ukraine daher keine Rolle spielen. Andernfalls könnte in Anbetracht des sogenannten Antiterroreinsatzes, den die ukrainische Übergangsregierung gegen die Städte durchführt, die sich ihrem Anspruch auf Zuständigkeit über die ganze Ukraine nicht unterwerfen wollen, der Gedanke aufkommen, daß Rußland nicht minder Anlaß hätte, zugunsten der russischstämmigen Minderheit zu intervenieren, als es die NATO tat, als sie die hoheitliche Souveränität der jugoslawischen und serbischen Regierung zugunsten der im Kosovo lebenden albanischen Mehrheit mißachtete.

Dies umso mehr, als in Kiew eine Regierung an der Macht ist, deren gewaltsames, von äußeren Akteuren unterstütztes Zustandekommen dadurch nicht legaler wird, daß bei ihrer parlamentarischen Anerkennung diverse Abgeordnete von Maidan-Kämpfern bedroht wurden und an der entscheidenden Abstimmung nicht teilnahmen. Man ist sich heute einig darüber, daß die Verabschiedung des von der NSDAP eingebrachten Ermächtigungsgesetzes am 24. März 1933 nicht nur wegen der vorherigen Verhaftung und Abwesenheit der Abgeordneten der KPD einen Akt antidemokratischer Willkür darstellte, sondern auch wegen der Anwesenheit bewaffneter und uniformierter SA- und SS-Angehöriger vor und im Reichstag. Die neue Regierung der Ukraine unter Ministerpräsident Arseni Jazenjuk wurde am 26. Februar auf dem Maidan unter Anwesenheit der Kämpfer des neofaschistischen Rechten Sektors zusammengestellt, was den Ausschluß linker Kräfte vorwegnahm. Diese bewaffneten Gruppen bildeten sogenannte Selbstverteidigungskräfte, die am folgenden Tag vor der entscheidenden Abstimmung über die neue Regierung vor dem Kiewer Parlament aufmarschierten, mißliebige Abgeordnete traten und schlugen und ihre Fahne auf dem offiziellen Fahnenmast der Volksvertretung aufzogen. Die Besetzung wichtiger Ämter insbesondere im Sicherheitsbereich durch Mitglieder des Rechten Sektors und der Rechtspartei Swoboda erfolgte in einem durch die Wucht der Ereignisse und die Gewaltandrohung der Milizen dementsprechend auf Linie gebrachten Parlament.

Die von deutschen Politikern und Journalisten unbeirrt attestierte Legalität der ukrainischen Regierung dient dazu, daß die Bundesregierung ihre Ziele im Bündnis mit einer von Neofaschisten durchsetzten Regierung verfolgen kann, deren Zustandekommen in der Bundesrepublik nach ihren eigenen Maßstäben hierzulande nicht anerkannt würde. Umso mehr versucht sie, die dünne Decke ihrer Hegemonialpolitik durch eine rhetorische Kraftmeierei abzusichern, die zumindest geschichtsbewußte Bundesbürger entsetzen müßte. Dies gilt nicht nur für jene Regierungspolitiker, die jetzt nach einer deutlichen Aufrüstung der Bundeswehr verlangen, als ginge es tatsächlich darum, einen Waffengang gegen Rußland vorzubereiten. Das gilt auch für eine Bundeskanzlerin, die auf dem 17. WDR-Europaforum mit Blick auf die Ukraine das Recht jedes Landes auf sein Gewaltmonopol unterstrich und behauptete, Rußland habe mit der Annexion der Krim das Fundament der europäischen Nachkriegspolitik verlassen: "Das ist für Europa ganz - gefährlich ist noch gelinde gesagt -, es ist nicht möglich, weil wir ansonsten all das, was wir uns aufgebaut haben seit 1945, sehr schnell zerstören könnten. Und deshalb können wir hier nicht einfach einen Kompromiß machen und sagen Schwamm drüber, sondern das muß weiter so benannt werden, wie es gewesen ist." [1]

Stellt man in Rechnung, daß die gewaltsame Abtrennung des Kosovo von Serbien ohne jede Konsequenz für diejenigen Regierungen geblieben ist, die den völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien zu verantworten haben, dann kann der Wechsel der Krim von der Ukraine nach Rußland wohl kaum etwas zerstören, was im Sinne der Einhaltung völkerrechtlicher Normen nicht schon in Scherben zerfallen ist. Was "wir uns" nach 1945 aufgebaut haben, so die Kanzlerin am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus durch die Rote Armee der Sowjetunion, betrifft wohl eher das stete Anwachsen deutschen Einflusses auf Europa. Merkel erwartet offensichtlich, daß die russische Regierung stillhält, wenn die NATO ihren Einflußbereich immer weiter nach Osten ausdehnt, nachdem sie sich vor 15 Jahren in Jugoslawien dazu ermächtigte, die Landkarte Europas gewaltsam zu verändern. Daß die generelle Stoßrichtung dieser Politik stets zu Lasten desjenigen Landes ging, das die deutsche Aggression im Zweiten Weltkrieg laut der letzten 1991 abgeschlossenen russischen Erhebung mit 8,6 Millionen gefallenen Soldaten und 27 bis 28 Millionen zivilen Kriegstoten sowie ungeheuren Verwüstungen bezahlte, darf in der Bilanzierung des angeblichen Unrechts der russischen Ukrainepolitik keine Rolle spielen. In diesen für die Sowjetunion geltenden Zahlen sind auch jene sechs Millionen Menschen, unter ihnen 1,5 Millionen Juden, enthalten, die allein in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs ums Leben kamen.

Den derzeitigen Konflikt mit der erst durch den Sturz der Regierung Janukowitsch und den Nachstellungen, denen russischstämmige Menschen durch die Milizen der Putschregierung ausgesetzt sind, entstandenen Widerstandsbewegung in der Ostukraine ohne diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund zu bewerten, entspricht der Geschichtsblindheit, die Angela Merkel an den Tag legt, wenn sie die Herausforderung Rußlands durch NATO und EU ignoriert, um dessen Präsidenten Vladimir Putin eine legalistische Rechnung aufzumachen, die die Deutungsmacht deutsch-europäischer Ordnungspolitik zwecks Sicherung eigener Hegemonialinteressen verabsolutiert. Daß diese weit über die Ukraine hinausreichen und sich im Kern gegen die Politik des Kreml richtet, der strategischen Einschränkung der eigenen Einflußsphäre durch die NATO-Staaten ein Ende zu bereiten, stellt den explosiven Kern der offenkundigen Bestrebung der Bundesregierung dar, im Schulterschluß mit den USA eine Machtprobe mit Rußland zu wagen.

Der mörderische Angriff neofaschistischer Milizen auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, dessen Opferbilanz auch deshalb so hoch ausfiel, weil aus der Brandhölle fliehende Menschen vor dem Gebäude durch rechte Maidan-Kämpfer erschlagen wurden, scheint den Versuch der ostukrainischen Widerstandsbewegung, die eigene Zukunft mit Hilfe eines Referendums gegen den Willen der Kiewer Regierung zu bestimmen, weiter angeheizt zu haben. Die hierzulande übliche Sprachregelung, diesen Widerstand durch das Etikett "prorussisch" unter den Verdacht einer Intrige des Kreml zu stellen, vermittelt, selbst wenn dies zuträfe, nur die halbe Wahrheit. Der Einfluß der EU auf den "Euromaidan", der als solcher überhaupt erst nach der Verweigerung der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch den folgerichtig gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch in Erscheinung trat, war so eminent, wie er nun, da die EU die Kiewer Regierung unter anderem über die Androhung der Blockierung nötiger Finanzhilfen zwingen könnte, die sogenannte Antiterroroperation in der Ostukraine abzubrechen, um einen Bürgerkrieg zu verhindern, durch Abwesenheit glänzt. Hier wird mit mindestens doppelt gezinkten Karten gespielt, so daß noch mehr Wasser auf die Mühle der rhetorischen Anprangerung "Putins" geleitet werden muß, um die eigene Verantwortung aus der durch EU und USA aufgemachten strategischen Gleichung zu tilgen.

Derweil zeigt sich in der Ostukraine, daß es für den auf dem Maidan durch die Ausgabe nationalistischer Parolen erfolgreich unterdrückten sozialen Widerstand nach wie vor gute Gründe gibt. So traten 2000 Bergarbeiter eines Betriebs in Donezk, der einer von dem Oligarchen Rinat Achmetow kontrollierten Firmengruppe angehört, in den Streik, um höhere Löhne zu erkämpfen. Über die von ihnen ausgehende Unterstützung des Referendums gibt es widerstreitende Meldungen, doch scheint das Arrangement Achmetows mit der Regierung in Kiew die Bereitschaft seiner Angestellten, in einen Arbeitskampf zu treten, nicht zu bremsen. Daß bei dem Konflikt in der Ostukraine andere Gründe als die der ethnischen Zugehörigkeit eine Rolle spielen können, läßt auch die Zerstörung mehrerer Niederlassungen der PrivatBank vermuten. Miteigentümer dieser größten Bankenkette der Ukraine ist der von der Übergangsregierung zum Gouverneur von Dnepropetrowsk ernannte Ihor Kolomojskyj, der nach Achmetow als zweit- oder drittreichster Milliardär der Ukraine gilt. Rußland die Destabilisierung der Ostukraine vorzuwerfen, heißt auch, die Stabilität kapitalistischer Herrschaftsverhältnissen zu verteidigen. Ob man deren russische Variante bevorzugen mag oder nicht, ändert nichts daran, daß der neoliberale Zugriff auf Länder mit niedriger Produktivität meist desaströse Folgen für die dort lebenden Menschen hat.

Hier gäbe es viel zu bedenken, wenn es bei alledem tatsächlich um die Interessen der ukrainischen Bevölkerung ginge. Als Sachwalterin des deutschen Imperialismus verweigert die Bundesregierung jedoch das Eingeständnis, daß die Ablehnung des EU-Assoziierungsabkommens im mehrheitlichen Interesse der ohnehin verarmten Ukrainerinnen und Ukrainern stand, weil es ihnen zusätzliche soziale Härten aufgebürdet hätte. Daß sich diese, wie behauptet, nach einer gewissen Zeit in Wohlgefallen aufgelöst hätten, ist, wie viele Beispiele bilateraler Wirtschaftsliberalisierung belegen, ein hohles Versprechen, das niemanden satt macht, der seinen Arbeitsplatz und seine Subsistenzmöglichkeiten verliert.

Für die Bevölkerung der Bundesrepublik ist wichtig zu erkennen, daß daraus keinesfalls eine Bestandsgarantie für ihr vergleichsweise hohes Wohlstandsniveau resultiert. Die am Beispiel Rußlands in Politik und Medien vollzogene Dogmatik der Freund-Feind-Kennung begünstigt ganz im Gegenteil die Dominanz nationalistischer und rechtspopulistischer Orientierungen, in deren Windschatten die soziale Selektion Fortschritte machen kann. Geht man davon aus, daß in der Ukraine die Widersprüche des seiner produktiven Basis zusehends verlustig gehenden Kapitalismus der westeuropäischen Metropolengesellschaften ausgetragen werden, dann ist es vor allem eine Frage der Dynamik, mit der sich die Verhältnisse zwischen NATO und Rußland zuspitzen, wie schnell Verelendung und Repression auch hierzulande reiche Beute machen.


Fußnote:

[1] http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/05/08/dlf_20140508_2315_39f5e7f3.mp3

9. April 2014