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HEGEMONIE/1773: Beute Ukraine - Die Saat der Eskalation geht auf (SB)




Noch während Korrespondenten, die keiner Sympathien für die ukrainische Regierung verdächtigt werden, aus Kiew berichten, daß die Gewalt von beiden Seiten der Barrikaden ausgeht, macht der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok, allein Präsident Janukowitsch für die Eskalation verantwortlich. Nun sei es Zeit für Sanktionen, damit die ihn unterstützenden Oligarchen nicht mehr an ihre Konten im Westen herankämen, so dieser bewährte Frontkämpfer im offensichtlich längst nicht beendeten Kalten Krieg mit Rußland. Obwohl zur Zeit niemand genau weiß, um wen es sich bei den bislang mindestens 26 Toten handelt, wer für ihr gewaltsames Ende verantwortlich ist, wer Schußwaffen eingesetzt hat und wer nicht, fällen deutsche Politiker und Journalisten ein schnelles Urteil zu Lasten der amtierenden Regierung.

Offenkundig hält man hierzulande Überfälle auf Regierungsgebäude, den lebensgefährlichen Einsatz großdimensionierter Molotowcocktails und Pflastersteine sowie anderer Formen keineswegs nur passiver Bewaffnung für ein legitimes Mittel des Protestes. Doch die Niederschlagung eines solchen Aufstands durch die Staatsgewalt ist nur dort sakrosankt, wo diese auf die Werte der EU eingeschworen ist. Als der gewählte Präsident Ägyptens in einem kaum verhohlenen Militärputsch seines Amtes enthoben wurde und die Räumung des Camps seiner Unterstützer Hunderte Mitglieder der Muslimbruderschaft das Leben kostete, war die Aufregung nicht halb so groß wie jetzt. Auch der von Oppositionsführer Vitali Klitschko als "blutiger Diktator" gebrandmarkte Janukowitsch wurde gewählt, und er war bis zur Aufkündigung des EU-Assoziierungsabkommens ein gern gesehener Partner der EU.

Daß er seitdem nach Kräften dämonisiert wird, ist nicht etwa seiner politischen Statur eines für die sogenannten Transformationsstaaten Osteuropas eher durchschnittlich autoritären Staatschefs geschuldet. Er hat sich dem Drängen der EU auf erweiterten wirtschaftlichen Zugang zu seinem Land und der hegemonialen Ostexpansion insbesondere Deutschlands in den Weg gestellt und im geostrategischen Kräfteparallelogramm auf der größten Landmasse der Welt damit fast automatisch den Einfluß Rußlands gestärkt. Der bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) für die Beziehungen Europas zu den GUS-Staaten wie für deren Rohstoff-, Wirtschafts- und Industriepolitik zuständige Experte Ewald Böhlke behauptete im Deutschlandradio Kultur (19.02.2014), das EU-Assoziierungsabkommen habe zum Ziel gehabt, einen "demokratisch institutionellen Prozess in der Ukraine aufzubauen", und dazu bedürfe es der Deeskalation, wozu die OSZE einzuschalten wäre.

Daß die EU sehr konkrete machtpolitische wie ökonomische Ziele bei dem Versuch verfolgt, die Ukraine in ihre Hegemonialsphäre zu ziehen und die Distanz des Landes zu Rußland dementsprechend zu vergrößern, fällt bei alledem weitgehend unter den Tisch, auf dem die Menschen wie Schachfiguren ohne Rücksicht auf Verluste bewegt werden. Die lautstark erhobenen Forderungen Klitschkos an die Adresse der Bundesregierung, sich durch das Verhängen von Sanktionen auf EU-Ebene stärker für die Opposition einzusetzen, sind Bestandteil einer Eskalation, die keinesfalls nur von der Fraktion Janukowitschs zu verantworten ist. Der blinde Fleck in der Berichterstattung deutscher Medien, hinter dem neofaschistische Organisationen auf dem Maidan und in anderen Städten des Landes das Feuer des Bürgerkriegs schüren, legt beredtes Zeugnis davon ab, daß der Zweck viele Mittel heiligt, die unter anderen Umständen als völlig inakzeptabel gelten.

Dieser Zweck erschließt sich unter anderem in der großen Bedeutung, die die Ukraine für die Welternährung hat. Das Land gehört zu den größten globalen Exporteuren von Mais, Weizen und Futtergetreide. Allerdings geht das Gros der Exporte in die GUS-Staaten und nach Nordafrika, zudem werden Direktinvestitionen im Agrarsektor durch eine in den Augen des Kapitals ungenügend liberalisierte Wirtschaftspolitik behindert. Daran etwas zu ändern haben auch die großen Erzeuger in der Ukraine Interesse, könnten sie durch verstärktes Engagement am Weltmarkt ihre Produktpreise doch stärker erhöhen als unter den staatlich regulierten Bedingungen des ukrainischen Binnenmarkts. Durch das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (DCFTA), das durch die nicht erfolgte Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU vorerst auf Eis liegt, soll hier im Wortsinn Land gewonnen werden.

So befinden sich in der Ukraine mehr als ein Viertel der fruchtbarsten, aus Schwarzerde bestehenden Böden der Welt. Laut dem Präsidenten des Ukrainischen Agrarverbandes Leonid Kosatschenko könnte das Land 600 Millionen Menschen ernähren. Niemand sonst sei in Anbetracht der zur Sicherung der Welternährung erforderlichen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion so sehr wie die Ukraine dazu imstande, eine schnelle Erhöhung der Produktivität der Landwirtschaft zu erreichen. Mit einer Investition von 70 Milliarden Dollar könne die Bruttoproduktion von Nahrungsmitteln in der Ukraine um das Dreifache gesteigert werden, so Kosatschenko im Juni 2013 [1].

Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Produktivitätsschub beste Aussichten für internationale Anleger eröffnet, ihr Kapital gewinnbringend zu verwerten. Im Vergleich zur EU niedrige Preise für Boden und Arbeit bei einer schwachen Flächenproduktivität mit dementsprechend hohem Wachstumspotential machen die Landwirtschaft der Ukraine angesichts des weltweit anwachsenden Bedarfs an Nahrungs- und Betriebsmitteln zu einem idealen Ziel für Pensionsfonds, die sichere Anlagemöglichkeiten suchen, wie Hedgefonds, die ihr Kapital auf Warenterminmärkten für Getreide und andere Agrarprodukte vervielfachen wollen. Westeuropäische und nordamerikanische Agrokonzerne wollen in der ehemaligen Kornkammer der Sowjetunion noch bessere Geschäfte als bisher machen, und ukrainische Landwirte und Agrarholdings sind wichtige Kunden deutscher Landmaschinenhersteller, die ebenfalls von einer Produktivitätssteigerung profitierten.

Über die Verwertungsinteressen des Kapitals hinaus steht in der Konfrontation zwischen EU und Rußland auch die Kontrolle über die Zukunft der Ernährung zur Disposition. So fand auf dem Global Forum for Food and Agriculture 2014 zu Beginn der diesjährigen Internationalen Grünen Woche in Berlin ein Fachpodium statt, zu dem der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (OA) unter dem Titel "Osteuropa als Schlüsselregion zur Bewältigung der Herausforderungen der Ernährungssicherung" [2] geladen hatte. In der Ankündigung wurde kein Zweifel daran gelassen, daß Rußland und die Ukraine auch hinsichtlich der Probleme, die der Klimawandel der Landwirtschaft beschert, von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Zukunft der Welternährung sind.

Gleichzeitig wird in den einschlägigen Publikationen deutscher Regierungsbehörden und Fachverbände das angeblich zu große Ausmaß an staatlicher Regulierung und Intervention in der Agrarproduktion der Ukraine beklagt. Solange das DCFTA nicht durchgesetzt wurde, stehen nichttarifäre Handelshemmnisse, Zollschranken und Restriktionen beim Erwerb von Ackerland einem marktwirtschaftlichen Strukturwandel im Wege, der zwar für einen Investitionsschub in der Ukraine sorgte, aber auch durch den Import EU-europäischer Agrarprodukte und die allgemeine Angleichung der Lebensmittelpreise an den Weltmarkt zu Lasten einkommensarmer Menschen im Land ginge. So wird durchaus eingestanden, daß die beabsichtigte Liberalisierung der ukrainischen Wirtschaft Härten für die Bevölkerung mit sich brächte, die jedoch angeblich nur von vorübergehender Art wären.

Derartigen Prognosen ist schon deshalb kein Glaube zu schenken, da das fieberhaft nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital nur dann längerfristig Rendite abwirft, wenn es auch über einen Wertzuwachs in der sogenannten Realwirtschaft verfügt. Wo billige Lohnarbeit und kostengünstige Produktionsvoraussetzungen locken, sind Konzentrationsprozesse und monopolistische Preissetzungen vorprogrammiert. In der Ukraine, wo 30 Prozent der Bevölkerung auf dem Land und in einem hohen Grad der Subsistenz auch von ihm leben, führen Modernisierung und Industrialisierung der Agrarwirtschaft absehbar zu höheren Erzeugerpreisen und dem Verschließen noch nicht kapitalisierter Lebensmöglichkeiten.

Schon die neoliberalen Radikalreformen der 1990er Jahre in Osteuropa haben gezeigt, daß Verarmung auf breiter Ebene die fast zwingende Folge marktwirtschaftlicher Deregulierung ist. Dessen ist man sich in deutschen Regierungsinstitutionen und Think Tanks durchaus bewußt, wie etwa eine Einschätzung der Friedrich-Ebert-Stiftung vom August 2011 zu den Folgen der Privatisierungen, die das Freihandelsabkommen mit der EU (DCFTA) initiieren soll, belegt:

"Die Ukraine steht vor erheblichen Umbrüchen, die für große Teile der Bevölkerung kurz- und mittelfristig schmerzhaft sein werden. (...) Die anstehende Privatisierung von Grund und Boden und der Staatsunternehmen stellen für die Ukraine eine große, vielleicht die größte, Herausforderung seit der Unabhängigkeit des Landes dar. Wie Erfahrungen in der ehemaligen DDR und den neuen östlichen Mitgliedsstaaten der EU gezeigt haben, verläuft der Privatisierungsprozess sehr schwierig und es gilt, viele Hindernisse zu überwinden. Während in den heutigen östlichen EU-Mitgliedsstaaten noch das Bewusstsein von Privateigentum an Grund und Boden mit allen juristischen Grundlagen vorhanden war, gibt es diesen Hintergrund in der Ukraine nicht. Die Erinnerung an Privateigentum ist im Prozess der jahrzehntelangen Sowjetisierung abhanden gekommen und der Privatisierungsprozess muss in diesem agrarischen Flächenland nun von Null beginnen. Um gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern und den Bürgern das Gefühl des Ausverkaufs ihres Landes zu nehmen, wird es viel politischen Geschicks bedürfen." [3]

Die Eigentumsfrage nicht auf demokratische Weise zur Disposition zu stellen, sondern unter Ausschluß der davon Betroffenen zu beantworten, ist ein hervorstechendes Merkmal imperialistischer Strategien. Um die Kapitalisierung keineswegs brachliegender, aber dem eigenen Nutzungsinteresse vorenthaltener Böden und Liegenschaften durchzusetzen, reicht das Argument der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit nicht aus. Zuviele Menschen werden dabei so sehr benachteiligt, daß sie im Zweifelsfall einer rigiden und autoritären Staatsbürokratie den Zuschlag vor den Freiheitsversprechen europäischer Metropolengesellschaften geben. Wenn es sich, wie im Fall der Ukraine, darüber hinaus um den Zugriff auf eine knapper werdende Ressource handelt, dann erweist sich die Behauptung, es ginge bei der anstehenden politischen Veränderung um die Stärkung zivilgesellschaftlicher Möglichkeiten der demokratischen Partizipation, als Trojanisches Pferd einer nicht minder staatsautoritären Ermächtigung.


Fußnoten:

[1] http://www.ukrinform.ua/deu/news/6816

[2] https://www.gffa-berlin.de/de/programm/fachpodien/osteuropa-als-schluesselregion-zur-bewaeltigung-der-herausforderungen-der-ernaehrungssicherung.html

[3] http://library.fes.de/pdf-files/id/08359.pdf

19. Februar 2014