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HEGEMONIE/1696: Cohn-Bendit - in Ägypten mit neuer Realpolitik alte Verhältnisse sichern (SB)



Kein europäischer Politiker, dessen Partei in den letzten zehn Jahren Regierungsverantwortung übernommen hat, kann sich gegenüber der Entwicklung in Ägypten als bloßer Betrachter darstellen oder gar seine Hände in Unschuld waschen. Das bevölkerungsreichste arabische Land war stets eng eingebunden in die neokolonialistische Ordnungspolitik der EU. Auch wenn diese meist im Schatten des einflußreichsten Akteurs in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, der USA, stand, machte sich die EU im mindesten Fall als Erfüllungsgehilfin bei der Durchsetzung der geostrategischen Dispositive Washingtons verdient. Darüberhinaus fungiert Nordafrika als ökonomisch bedeutsame Peripherie Europas, das die arabischen Volkswirtschaften einem ihren Interessen gemäßen neoliberalen Strukturwandel mit den bekannten Folgen massenhafter Verelendung unterwarf.

Es mutet daher abenteuerlich an, wenn Daniel Cohn-Bendit, Vorsitzender der Grünen im Europäischen Parlament, das aus naheliegenden Gründen zurückhaltende Manövrieren der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in Ägypten mit den Worten geißelt: "Ashton ist eine Katastrophe, weil sie den Mumm nicht hat, wirklich dann im entscheidenden Moment einen Schritt zu machen." [1] Sein Eintreten für die Bewegung der Regierungsgegner kommt ebenso zu spät wie im Falle der anderen EU-Politiker, die sich nach Wochen des Protestes allmählich zu der Erkenntnis durchringen, daß es vielleicht förderlich für die eigenen Interessen wäre, nicht nur der Dinge zu harren, die da kommen mögen, sondern sich aktiv an der Auswahl derjenigen Personen zu beteiligen, die einem später am Verhandlungstisch gegenübersitzen.

Allein diese Absicht zählt und erklärt Cohn-Bendits kurzes Gedächtnis hinsichtlich der Verantwortung der eigenen Partei für die Unterdrückung der ägyptischen Bevölkerung durch das Regime Mubarak. Joseph Fischer, ein alter Freund aus jenen revolutionär gestimmten Zeiten, an die Cohn-Bendit mit der rhetorischen Lässigkeit des professionellen Nonkonformisten immer wieder gerne anknüpft, hat die Regierung Mubarak in seiner Amtszeit als deutscher Außenminister stets als verläßlicher Garant westlicher Hegemonialpolitik umworben. Kritik an seinem repressiven Regime war unter der rot-grünen Bundesregierung so sehr Fehlanzeige wie bei allen anderen großen EU-Staaten. Deren Verstrickung in die Verschleppung angeblicher Terrorverdächtiger, die auf Betreiben der US-Regierung in Ägypten und anderen arabischen Staaten gefoltert wurden, ist längst nicht vollständig aufgeklärt. Um so größer ist die Sorge in europäischen Hauptstädten, daß der Machtwechsel in Kairo auf eine Weise erfolgt, die das eigene Ansehen durch die Veröffentlichung belastender Dokumente beschädigt. Was eine Regierung, die die Abneigung der ägyptischen Bevölkerung gegen den westlichen Paternalismus, gegen die Kriegführung der USA in der Region und gegen die Rekrutierung des eigenen Landes zur Unterdrückung der Palästinenser repräsentierte, alles zu Tage fördern könnte, dürfte diesem oder jenem Politiker in London, Washington, Paris und Berlin bereits Kopfschmerzen machen.

Das weiß auch Cohn-Bendit, wie er im Interview mit dem Deutschlandfunk eingesteht:

"Die Regierungen in Europa und den Vereinigten Staaten sind verfangen im Netz, in den Verstrickungen ihrer verfehlten Realpolitik, und die Lehren, die wir daraus ziehen müssen: Wir müssen Realpolitik neu definieren. Das darf nicht bedeuten, dass das immer auf dem Rücken der Menschen, der Freiheit und der Demokratie geht. Es ist schwierig, sicherlich, aber jetzt geht es darum, die Entwicklungen in Ägypten, in Tunesien - und wer weiß, wo es weitergeht - so mit zu unterstützen, dass eine Alternative zu einer Diktatur möglich wird." [1]

Es bedarf keineswegs des "Mumms", dessen Abwesenheit der Grünenpolitiker bei der EU-Außenministerin moniert, in dieser Situation eine neue Form von Realpolitik zu verlangen. Cohn-Bendit demonstriert viel mehr sein Talent zum Konzipieren opportunistischer Winkelzüge, wenn er nun nach einer weniger menschenfeindlichen Realpolitik ruft, wäre eine solche doch noch am ehesten dazu geeignet, in Ägypten weiterhin das Heft in der Hand zu behalten. Profunde Selbstkritik zu leisten und einen daraus resultierenden Neubeginn zu formulieren, in dem Moralität und Politik nicht mehr als unvereinbare Pole staatlichen Handelns erscheinen, erforderte allerdings Mut, könnte damit doch die eigene Karriere zur Disposition gestellt werden.

Mit der kosmetischen Reformulierung einer Realpolitik, die per Definition die Unterordnung moralischer Grundsätze unter die Partikularinteressen der politischen Akteure bedeutet, ist es nicht getan, wenn es darum gehen soll, nicht nur die ägyptischen Folterknäste zu öffnen und das Regime des Ausnahmezustands zu beenden, sondern das Gros der Bevölkerung des Landes aus der Armut zu holen.

"Verfehlt" ist die Realpolitik der USA und EU in der Region nur, weil sie als hegemoniales Befriedungsprojekt westlicher Kapitalinteressen nicht erfolgreich genug war. Wäre sie, wie der Brustton grüner Empörung glauben macht, in einem moralischen Sinne verfehlt, dann wäre es mit einer anderen Realpolitik, die den Antagonismus zwischen sozialen und ökonomischen Interessen neu in Form bringt, um bewährte Ausbeutungsverhältnisse aufrechterhalten zu können, nicht getan. Sie kollidierte bereits mit Forderungen der Oppositionsbewegung wie der Festlegung eines Mindestlohns von 1200 ägyptischen Pfund, zur Inflationsrate äquivalente Lohnerhöhungen und garantierte Rechte auf soziale Vergünstigungen aller Art [2].

Es ist kein Zufall, daß Cohn-Bendit sich nicht diese Forderungen der unabhängigen ägyptischen Gewerkschaften an die Fahne heftet, sondern wolkig von Freiheit und Demokratie schwadroniert, wie es schon immer jeder US-Politikerin gut zu Gesicht stand, die in Kairo nämliche Werte beschwörte, während von ihrer Regierung beauftragte oder bezahlte Folterschergen ihrem grausamen Handwerk nachgingen. Als im Juni 2005 kurz nacheinander US-Außenministerin Condoleezza Rice und First Lady Laura Bush in Kairo einschwebten, um Mubaraks angebliche Bemühungen um die Demokratisierung Ägyptens zu unterstützen, hatten sie nichts anderes im Sinn, als seinem bereits damals wankenden Regime zu neuer Legitimation zu verhelfen. Das tat auch Barack Obama mit seiner berühmten Kairoer Rede, mit der er Hoffnungen auf demokratische Verhältnisse in der Region weckte, ohne seinen Teil, die militärische Aufrüstung despotischer arabischer Regimes zu beenden und Israel zur Anerkennung palästinensischer Rechte zu nötigen, dazu beizutragen.

Wie der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der noch vor wenigen Wochen in Ägypten Urlaub machte, wie dessen französische Kollegin, die es sich in Tunesien gutgehen ließ, um, gerade zurück in Paris, dem bedrängten Diktator Ben Ali die Waffenhilfe Frankreichs anzubieten, ließ sich der britische Premierminister Tony Blair nicht die Urlaubsfreuden im Badeort Sharm el-Sheikh dadurch vergällen, daß zur gleichen Zeit drei Bürgern seines Landes in einem ägyptischen Gefängnis das Leben zur Hölle gemacht wurde. Reza Pankhurst, Maajid Nawaz und Ian Nisbett berichteten 2006 nach ihrer Rückkehr nach Britannien, daß sie in den vier Jahren in ägyptischer Haft, in die sie wegen eines Gesinnungsdelikts, der Verbreitung islamistischer Propaganda, geraten waren, aufs schwerste gefoltert wurden. Das führte keineswegs dazu, daß dem Regime Mubarak die Unterstützung der europäischen Wertegemeinschaft entzogen worden wäre, sondern bewirkte im Falle der Bundesrepublik die Ausweitung der Lieferung polizeilicher Repressionsinstrumente.

In Deutschland, wo Regierungspolitiker bis vor kurzem allergisch darauf reagierten, wenn die ägyptische Regierung als Diktatur bezeichnet wurde, machte sich derweil der ehemalige SPD-Innenminister Otto Schily um die europäische Flüchtlingsabwehr verdient. Die Errichtung von Lagern für Asylbewerber, in denen mit Gutheißung nordafrikanischer Despoten die Spreu sogenannter Armutsflüchtlinge vom Weizen politischer Flüchtlinge getrennt werden soll, um letzten Endes so viele Migranten wie möglich am Zutritt zur EU zu hindern, kam in seiner Amtszeit in gutes Stück voran. Wer in diesen Ländern unter politischer Verfolgung litt und dies vor deutschen Gerichten geltend machte, dem wurde mitunter zur Last gelegt, was sich nun, da die Entwicklung in Tunesien und Ägypten nicht mehr aufzuhalten zu sein scheint, des Lobes von höchster Stelle erfreut:

"Zudem ist es extrem unglaubwürdig, wenn er (der Asylantragsteller) einerseits vorträgt, den Tod zu befürchten, andererseits aber dennoch angeblich nicht von der Politik lassen zu können. Jemand, der um sein Leben fürchtet, tut alles, um dies sich zu erhalten, auch wenn er dabei auf seine politische Tätigkeit verzichten müsste." [3]

Realpolitik vom Feinsten, könnte man die in Ländern, die politisch oppositionellen Menschen allen Anlaß zur Flucht geben, etablierte "Flüchtlingsabwehr" der EU nennen. Realpolitik auch in den Medien - der einst als Kritik an institutionalisierter Menschenfeindlichkeit geprägte Begriff wird heute im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ohne jeden ironischen Unterton zur Adressierung exekutiver Maßnahmen verwendet. Cohn-Bendit ist mit seiner wachsweichen Haltung, die er auch noch als Akt demokratischen Mutes zu inszenieren versteht, alles andere als allein. Wie wenig sich seine Position von der Ashtons unterscheidet, bleibt nur deshalb unentdeckt, weil sich in den oberen Etagen der EU allmählich die Erkenntnis durchsetzt, daß der Wind des Wandels am besten genutzt wird, wenn er in die eigenen Segel bläst. Das offenkundige Zögern, vorhandene Machtoptionen möglicherweise zu verspielen, wenn man sich zu früh auf eine Seite stellt, und die schicke Pose, die den Frühling der Revolution in den Herbst des Konters umschlagen läßt, unterscheiden sich lediglich in der Art und Weise des favorisierten Krisenmanagements.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1382245/

[2] http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/MB08Ak01.html

[3] Pro Asyl, Infoservice Nr. 91, Juni 2004

7. Februar 2011