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HEGEMONIE/1695: Die Achse der Stabilität ... in Ägypten zur Kenntlichkeit entstellt (SB)



Die große Zurückhaltung, mit der westliche Regierungen und bürgerliche Medien den Kampf der Ägypter um ihre Befreiung vom Joch des Regime Mubaraks begleiten, paßt so gar nicht zur massiven Unterstützung, die die iranische Protestbewegung letztes Jahr von den politischen und publizistischen Funktionseliten Europas und Nordamerikas erhielten. In Kairo wackelt der Thron ihres Verbündeten, den man im Ernstfall zwar wie eine heiße Kartoffel fallenläßt, dabei allerdings Schadensbegrenzung hinsichtlich der eigenen Glaubwürdigkeit wie der künftigen Entwicklung in Ägypten betreiben muß. Als vorrangiges Instrument der Widerspruchsregulation fungiert der Begriff der Stabilität. In der Wertigkeit politischer Handlungsmotive rangiert er weit über Demokratie und Menschenrechten, die in ihrer legitimativen Funktion zum Lippenbekenntnis verkommen, wenn sie nicht operativ in Stellung gebracht werden, um Regimewechsel in Ländern zu bewirken, die sich der Durchsetzung westlicher Hegemonialinteressen widersetzen.

Stabilität gereicht imperialistischen Akteuren dann zum Vorteil, wenn sie im Sinne demokratischer und sozial gerechter Verhältnisse nicht vorhanden ist. Die postkoloniale Ära des Nahen und Mittleren Ostens bietet eine Vielzahl von Beispielen für die Praxis einer regionalen Befriedung, die für die betroffenen Bevölkerungen als ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung in Erscheinung tritt. Die vielen Defizite in der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung, unter denen diese Region leidet, sind Produkt einer neokolonialistischen Politik, die diese in ihrer modernen Staatlichkeit erst nach dem Ersten Weltkrieg auf Betreiben Britanniens und Frankreichs formierte Weltregion zum Ressourcenlieferanten, zum Absatzgebiet und zur verlängerten Werkbank westlicher Metropolengesellschaften degradiert. Auch wenn diese Unterordnung niemals ohne Beteiligung der Betroffenen zustandekommt, liegt die Hauptlast der Verantwortung für den Entwicklungsrückstand der arabischen Staatenwelt in ihrer paternalistischen Bevormundung und imperialistischen Zurichtung durch die Zentren kapitalistischer Produktivität in Westeuropa und Nordamerika.

Um den dem Nahen und Mittleren Osten zugewiesenen Status einer bloßen Peripherie der Ver- und Entsorgung zu erhalten, bedienen sich EU und USA einer Politik der programmatischen Destabilisierung, die allein ihren Nutznießern als Stabilität erscheint. Ein exemplarisches Beispiel dafür bietet die jüngere Geschichte des Irak, in dem mit Saddam Hussein ein Modernisierer westlichen Zuschnitts herrschte, der ebenso als Verbündeter im Krieg gegen den Iran nützlich sein konnte, wie er als Feind des westlichen Vormachtsanspruchs zu stürzen war. Wie andere Vertreter der in den 1950er und 1960er Jahren zu politischer Macht gelangten Generation panarabisch gesonnener, häufig aus den Militärschulen der Kolonialherren hervorgegangener Offiziere zerstörte der irakische Präsident die Glaubwürdigkeit seines staatssozialistischen Modernisierungsprograms durch ein despotisches, von dynastischen und oligarchistischen Eigeninteressen korrumpiertes Regime.

Dies erfolgte in Tateinheit mit äußeren Akteuren, die es verstanden, die arabischen Autokraten gegeneinander auszuspielen. Dabei erfüllte und erfüllt der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern die Funktion eines Katalysators konfliktträchtiger Eskalation, der die Tür des Interventionismus sperrangelweit aufstieß. Dies gilt insbesondere für die Ära nach dem Verschwinden der Sowjetunion als globalhegemonialer Kontrahent der NATO-Staaten, bedienen sich diese Israels seitdem um so unverhohlener als Vorwand zur Durchsetzung einer regionalen Ordnungspolitik, die im Kern die Interessen der EU und USA absichert. Ohne dieses Handlungsdispositiv hätte sich das zionistische Projekt nicht auf die bekannte Weise behaupten und Bündnisse stiften können, die die arabische Welt nicht nur zwischen einzelnen staatlichen Akteuren, sondern auch innerhalb ihrer Gesellschaften inklusive der der Palästinenser selbst zutiefst spalten.

Wenn nun neokonservative US-Politiker das Menetekel einer Entwicklung Ägyptens nach dem Vorbild des Iran an die Wand malen und in Kairo amerikafeindliche Parolen auf Transparenten auftauchen, dann ist das dem neokolonialistischen Charakter der westlichen Stabilitätsdoktrin geschuldet. Sie betreibt im Kern die Qualifizierung administrativer und kapitalistischer Verfügungsgewalt über die verelendeten Massen der arabischen Welt, die mit symbolpolitischen Legitimationsakten immer weniger zufriedenzustellen sind. Sie haben allen Anlaß zur Revolte, hat sich zur jahrzehntelangen politischen Unterdrückung in den letzten Monaten doch die akute Bedrohung ihres materiellen Überlebens durch massiv angestiegene Nahrungsmittelpreise gesellt, die den sozialen Charakter der Erhebungen in diversen arabischen Staaten unterstreicht.

So ist die hierzulande hypertrophierte Bedrohung durch eine Islamisierung der politischen Verhältnisse in den widerständigen Gesellschaften der Region vor allem dem eigenen Versäumnis geschuldet, in diesen Ländern für lebenswerte Verhältnisse zu sorgen, anstatt sie zum Büttel eigener Interessenpolitik zu machen. Der politische Islam hätte es ohne die Diskreditierung der westlich geprägten Modernisierungsprojekte Libyens, Tunesiens, Algeriens, Ägyptens, Syriens, des Iraks und des Jemens weit schwerer gehabt, überhaupt in die Nähe einer hegemonialen Ideologie zu gelangen. Hinzu kommt die aktive Instrumentalisierung islamistischer Militanz durch westliche Akteure nicht nur in Afghanistan, sondern als universale Waffe im Kampf gegen sozialistische Emanzipationsbestrebungen, die in der Epoche der Dekolonisierung auch in vielen arabischen Staaten ihren Anfang nahmen. Die Degeneration des Sozialkampfs innerhalb dieser Staaten und ihres Widerstands gegen die imperialistische Offensive zu einem globalen Kulturkrieg erfolgte nicht von ungefähr kurz nach der Ausschaltung der Sowjetunion als geostrategischer Kontrahent der USA und Westeuropas. Der kulturalistische Tenor, mit dem nun versucht wird, die politische Zukunft auf neoliberale Akteure der bürgerlichen Mitte zu eichen, dient zu nichts anderem als der Fortsetzung des westlichen Hegemonialstrebens, das mit der 2001 als Agenda des Terrorkriegs formulierten Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens im Morast eigener Widersprüche steckengeblieben ist.

Faktisch gäbe es durchaus praktikable Lösungen, die die von außen aufoktroyierte Befriedung der Region in eine emanzipatorische Entwicklung verwandelte, die mit der Etablierung demokratischer Selbstbestimmung einen ersten Schritt zu einem sozialen Ausgleich vollzöge. Das Drängen der israelischen Regierung auf Unterstützung des ägyptischen Präsident Hosni Mubarak durch die US-Regierung ist symptomatisch für den reaktionären Charakter der Behauptung, arabische oder mehrheitlich islamische Gesellschaften seien zur Demokratie schlicht unfähig. Wenn die Menschen dieses Anliegen selbst in die Hand nähmen und, wie für Ägypten belegt, nicht einmal die gutorganisierte oppositionelle Kraft der Muslimbrüder Anlaß für die hierzulande gehegten Ängste vor einer Islamisierung des politischen Wandels bietet, sondern eine breite Erhebung der verelendeten und unterdrückten Bevölkerung stattfindet, dann spricht sich ein Land, das sich rühmt, die einzige Demokratie in einer Region von Diktaturen zu sein, aus naheliegenden Interessen dagegen aus.

Dabei könnte die Regierung Netanjahu mit einem großzügigen Zugeständnis an die Palästinenser gerade in einer Situation, die tiefgreifende Veränderungen des strategischen Umfelds Israels ankündigt, für gute Beziehung zu seinen Nachbarn sorgen. Wenn sie den völkerrechtlichen Forderungen, die seit 1967 an jede Regierung Israels gestellt werden, Genüge täte, könnte die gesamte Region einen großen Schritt nach vorne tun. US-Präsident Barack Obama hätte nach der in seiner Kairoer Rede vor zwei Jahren in Aussicht gestellten Aufwertung arabischer Interessen allen Grund dazu, auf dieses Ziel hinzuwirken. Das gleiche gilt für die Bundesregierung, der auf dem Feld der Außenpolitik angeblich nichts wichtiger ist als das Wohl Israels.

Schon diese theoretische Möglichkeit zeigt, daß die Rechnung des Friedens im Krieg aufgemacht wird, den zu beenden man in der EU wie den USA nur dann bereit wäre, wenn die neue Ordnung durch das Primat eigener Interessensicherung versiegelt wäre. Dieser Krieg manifestiert sich nicht nur in militärischer Gestalt, sondern wird seit jeher auf sozialer Ebene geführt, wie die Verelendungsstrategien belegen, unter denen die arabischen Bevölkerungen leiden. Die Achse der Stabilität, repräsentiert durch die größten imperialistischen Akteure USA, Britannien, Frankreich und Deutschland, will nicht davon lassen, die politische und gesellschaftliche Entwicklung in einem geo- und ressourcenstrategisch zentralen Gebiet zu kontrollieren. Die Bevölkerungen arabischer Staaten stehen mithin vor dem Problem, nicht nur gegen ihre eigenen Despoten aufstehen zu müssen, sondern auch deren äußere Garanten davon abzuhalten, eine selbstbestimmte Entwicklung zu sabotieren. Die größere Aufgabe, die Eigentumsfrage zu stellen, um das soziale Elend wirksam zu beenden, sollte trotz ihres utopisch wirkenden Charakters nicht aus den Augen verloren werden.

2. Februar 2011