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HEGEMONIE/1677: Autoritärer Demokratismus in Afghanistan und Deutschland (SB)



Den afghanischen Wählerinnen und Wählern zu ihrem Mut zu gratulieren, inmitten eines Bürgerkriegs, in dem die ausländischen Besatzer Partei für eine Seite ergreifen, ihre Stimme abzugeben kommt blankem Zynismus gleich. Wenn die Regierungen der NATO-Staaten einen der Legitimation ihrer Kriegführung zugutekommenden Urnengang, der von 300 bis 400 Angriffen der Besatzungsgegnern begleitet wurde, zur Heldentat hochstilisieren, dann dokumentiert das die Rücksichtslosigkeit eines Liberalismus, der über Leichen geht. Freiheit und Demokratie zu propagieren, ohne die Erfüllung minimaler Sozial- und Sicherheitsstandards zu gewährleisten, ist jedoch nicht nur ein Affront gegenüber den Lebensinteressen der afghanischen Bevölkerung. Es stellt eine Entwertung dieser politischen Ideale dar, die auch die Bevölkerungen in den NATO-Staaten betrifft. Die machtpolitische Degradierung dieser Ansprüche auf bloße Ideologeme entspricht der Zementierung massiver sozialer Widersprüche durch die Propagierung hehrer Werte, die als von orientalischen Horden bedroht apologetisch aufgerüstet werden.

Um das Recht auf Privateigentum auf eine Weise verabsolutieren zu können, daß kleine Notdiebstähle wie den einer mittellosen Mutter, die ihrem Kind einmal etwas zum Geburtstag bieten wollte, mit aller Härte abgestraft werden, während kapitalistische Landnahme im wortwörtlichen wie übertragenen Sinne Millionen Menschen dem Hungertod preisgibt, bedarf es der Entkopplung der Wertevermittlung von der politischen und sozialen Realität der Gesellschaften. Der Schein souveräner Selbstbestimmung wird vorgegaukelt, um den Mangel daran vergessen zu machen. Als der ehemalige US-Kriegsminister Donald Rumsfeld kurz nach der Eroberung Bagdads auf die vielen Plünderungen, die zum Teil unersetzliche Kulturgüter betrafen, angesprochen wurde, machte er den Leitsatz Thomas Jeffersons geltend, demzufolge "der Preis der Freiheit in ewiger Wachsamkeit" bestehe. Rumsfeld illustrierte die anhaltend schlechte Lage der irakischen Bevölkerung mit der Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten. Auch in den ersten Jahren der amerikanischen Republik nach ihrer Gründung 1776 hätten "Chaos und Konfusion" geherrscht. Die Wirtschaft habe unter "stürmischer Inflation und einer instabilen Währung" gelitten, und die daraus resultierende Unzufriedenheit habe "Aufstände" und "wütende Mobs" erzeugt.

Rumsfeld vergaß zu erwähnen, daß seine Analogie, die auf die angebliche Befreiung der Iraker vom Joch Saddam Husseins durch die Invasoren gemünzt war, ebensogut die Sache des irakischen Widerstands hätte legitimieren können. Diese waren Opfer eines völkerrechtswidrigen Überfalls, dessen verheerende soziale und politische Folgen heute so unbewältigt sind wie im Jahre 2003. Den eigenen antikolonialen Gründungsmythos zur Rechtfertigung neokolonialistischer Besatzungsregime zu verwenden belegt die Perfidie einer herrschaftsförmigen Wertevermittlung offen, die alles andere bezweckt, als daß ihre Adressaten auf den Gedanken kämen, die ihnen versprochene Freiheit und Souveränität vollständig und konsequent zu verwirklichen. Das in den Weltordnungskriegen der NATO zur Anwendung gebrachte Prinzip der schöpferischen Zerstörung überantwortet stets diejenigen dem Feuer seiner angeblich transformativen Kraft, die im Sinne kapitalistischer Verwertungslogik ohnehin überflüssig, weil nicht verfügbar und verwertbar sind.

Die vielen negativen Umstände, die die demokratische Glaubwürdigkeit der Parlamentswahlen in Afghanistan erschüttern, sind ebenfalls einem andauernden Krieg geschuldet, mit dem der Bevölkerung des Landes die Möglichkeit genommen wurde und wird, ihre Situation aus eigenem Antrieb heraus zum Besseren zu verändern. Allein die nichterfolgte Einbindung der Besatzungsgegner in den demokratischen Prozeß delegitimiert die daraus zu schaffende Gesellschaftsordnung und belastet sie mit einem Konfliktpotential, das durch die gewaltsame Durchsetzung des Nation Building nicht geringer wird. Die schwerwiegenden sozialen Probleme einer Bevölkerung, die zu einem Drittel hungert und mit einer Lebenserwartung unter 50 Jahren geschlagen ist, werden durch die Bündnispolitik der NATO, Warlords und Stammesführer auf ihre Seite zu ziehen, die mit den Taliban und anderen Besatzungsgegnern verfeindet sind, zum Spielball machtpolitischer Ranküne. Not und Mangel werden instrumentalisiert und nicht bekämpft, denn zufriedene Menschen lassen sich nicht beherrschen.

Das Projekt der Demokratisierung Afghanistans wurde von deutschen Politikern in jüngerer Zeit niedriger als je zuvor gehängt. Man ist sich der Haltlosigkeit der Washingtoner Befreiungsrhetorik durchaus bewußt und begleitet den Versuch, einer mit westlichen Staaten in ihrer kulturellen und sozialen Eigenart nicht zu vergleichenden Gesellschaft das eigene Entwicklungmodell aufzuoktroyieren, mit wachsender Skepsis. Je pragmatischer und profaner die Motive der deutschen Kriegführung werden, desto mehr verfällt die ohnehin geringe Zustimmung der Bundesbürger zu ihr. Um diesen Krieg dennoch führen zu können und sich gegenüber der US-Regierung, die zusehends zum Mittel eines von Spezialkommandos und Drohnen geführten Geheimkriegs greift, nicht als unzuverlässiger Kantonist zu erweisen, macht sich die Bundeswehr mit jedem Tag, den sie in Afghanistan bleibt, an den menschenfeindlichen Folgen einer Besatzungspolitik schuldig.

Diese Entwicklung trägt dazu bei, auch hierzulande mit demagogischer Feindbildproduktion und sicherheitsstaatlicher Repression die Handlungsfähigkeit der Exekutive zu gewährleisten. Dem blutigen Charakter der Befriedungspolitik der NATO entspricht der Sozialrassismus im eigenen Land, den die neokonservativen Eliten zum Wesensmerkmal ihrer Freiheitslyrik erhoben haben. In diesem Sinne ist Afghanistan der Bundesrepublik weit näher, als die meisten ihrer Bürger wahrhaben wollen. Aufgebrochen, um die Freiheit Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen, kehrt man zurück, um die damit gemeinten Interessen auch gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen. Deren geringe Bereitschaft, den militärischen Demokratismus der NATO mit der neoliberalen Ideologie zusammenzudenken, bietet beste Voraussetzungen dafür, beide Herrschaftsmittel weiter auszubauen.

20. September 2010