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HEGEMONIE/1665: Gaza Freedom-Flottille verschärft Spannungen zwischen Israel und Türkei (SB)



Rund 5000 Unterstützer versammelten sich am Samstag im Hafen von Istanbul, um die Seefähre Mavi Marmara feierlich zu verabschieden, die sich als größtes der aus insgesamt neun Schiffen bestehenden Freedom-Flottille an der Lieferung von Hilfsgütern in das von Israel hermetisch abgeriegelte Gaza beteiligen wird. Sie stach zuerst in Richtung Antalaya in See, um dort mit zwei weiteren türkischen Schiffen zusammenzutreffen. Über 500 Aktivisten befinden sich allein an Bord der Mavi Marmara, um dafür zu sorgen, daß ihre aus Hilfsgütern, darunter viel medizinisches Material, im Wert von 20 Millionen Dollar bestehende Fracht die vorgesehenen Empfänger erreicht.

Das türkische Frachtschiff Gaza transportiert über 2000 Tonnen Zement, 600 Tonnen Armiereisen und 50 Tonnen Kachelkleber für den Wiederaufbau des Gebiets, in dem die vor anderthalb Jahren durch den Überfall der israelische Streitkräfte angerichteten Kriegsschäden aufgrund der geringen Mengen an Gütern, die Israel passieren läßt, immer noch nicht behoben sind. Drei Viertel der zerstörten Häuser liegen laut UN-Angaben aufgrund von Materialmangel brach. Das ebenfalls aus der Türkei stammende Frachtschiff Defne Y soll 150 Tonnen Baumaterial, 100 Geräte für die Energieversorgung, Material für 16 Kinderspielplätze, 50 Fertighäuser und dringend benötigtes medizinisches Gerät liefern.

Der türkische Beitrag zur Versorgung der notleidenden Palästinenser ist neben zwei britischen, einem irischen, einem griechischen, einem kuwaitischen und einem algerischen Schiff der größte und erhält dementsprechend viel Beachtung in den Medien des Landes. Schon durch die Spendenaktion für die Hilfsgüter ist das Projekt in der türkischen Bevölkerung, die den Überfall auf Gaza nicht anders als die Menschen in der arabischen Welt als Gipfel des den Palästinensern zugefügten Unrechts beklagt, bekannt geworden. Die Aktion wird maßgeblich von der Menschenrechtsorganisation IHH organisiert, einer Nichtregierungsorganisation, die allerdings von der Regierungspartei AKP unterstützt wird und auch sonst gute Kontakte zur türkischen Administration zu unterhalten scheint. So hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die israelische Regierung aufgefordert, die Flottille passieren zu lassen, wohl wissend, daß er damit einen diplomatischen Konflikt riskiert. Da Israels Regierung bereits angekündigt hat, die Flottille aufzuhalten, steht in den nächsten Tagen eine Belastungsprobe der Beziehung zwischen Israel und der Türkei von womöglich folgenschwerer Art bevor.

Schon der letzte große Transport mit humanitären Gütern für die Bewohner Gazas, der zur Jahreswende unter großer Beteiligung türkischer Aktivisten über Land erfolgte, hatte zu einem Eklat geführt. Ägypten verweigerte in Unterstützung Israels 16 Abgeordneten der AKP die Einreise nach Gaza, wogegen die Regierung in Ankara Protest einlegte. Da der nun erfolgende Versuch, die Blockade Gazas mit friedlichen Mitteln zu durchbrechen, noch größere Ausmaße hat und dementsprechend mehr Aufmerksamkeit erhält, bietet er Politikern wie Erdogan eine willkommene Gelegenheit, seine etwa durch den Kampf der Tekel-Arbeiter gegen die neoliberale Politik seiner Regierung in Frage gestellte Unterstützung durch die Bevölkerung zu stärken.

Das Konfliktpotential dieser Entwicklung geht jedoch weit über innenpolitische Beweggründe hinaus. Als die Türkei 1996 einen Vertrag über die militärische Zusammenarbeit mit Israel unterzeichnete und den Handel mit Israel durch ein Freihandelsabkommen intensivierte, nahm eine strategische Achse im Nahen Osten Gestalt an, die insbesondere die Hegemonialinteressen der USA repräsentierte. In Washington trat man so den Interessen antagonistischer regionaler Akteure wie Syrien, Irak und Iran entgegen, allerdings auf der höchst instabilen Grundlage eines reinen Zweckbündnisses, das größeren Belastungsproben kaum standhalten kann. Spätestens mit der Eroberung des Iraks und der nichtgewährten Nutzung türkischen Territoriums für den Aufmarsch der US-Streitkräfte verschlechterten sich auch die Beziehungen zu Israel, das in der Türkei weitgehend mit US-Interessen identifiziert wird.

Während die militärische Unterdrückung der Kurden respektive Palästinenser, die schlechten Beziehungen zum Iran und die Leugnung des Armeniergenozids Schnittmengen gemeinsamen Interesses aufwiesen, schürte die von den USA unterstützte Autonomie der Kurden im Nordirak einen neuen Konflikt, der die hegemonialen Interessen Ankaras direkt herausforderte. Seit der Machtübernahme durch die AKP-Regierung 2002 und dem Amtsantritt Erdogans 2003 hat in Ankara eine außenpolitische Neuorientierung stattgefunden, die den Einfluß der USA auf die türkische Politik und damit die Bedeutung der strategischen Zusammenarbeit mit Israel minderte. Die türkische Regierung hat seitdem die Beziehungen zu den regionalen Nachbarn und dabei insbesondere zum Iran verbessert, ohne dabei durch die einst so mächtige Generalität in die Schranken gewiesen zu werden. Wurde der erste Ministerpräsident einer islamistischen Partei, Necmettin Erbakan, noch wegen des Versuchs einer außenpolitischen Neuaufstellung durch einen kalten Putsch gestürzt, so hat Erdogan es verstanden, die Militärs und kemalistischen Eliten auf eine Weise in Schach zu halten, die einem ideologischen Paradigmenwechsel im politischen Selbstverständnis der Türkei gleichkommt.

Diese Entwicklung wird durch äußere Faktoren wie der ablehnenden Haltung führender EU-Staaten gegen eine Aufnahme des Landes in die Union und die Probleme der USA in anderen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens begünstigt, was diesem wichtigen Bindeglied zwischen Ost und West neue Handlungsmöglichkeiten im Feld der internationalen Politik eröffnen. Wenn der Ministerpräsident des NATO-Staats mit den personell größten Streitkräften nach den USA den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmedinejad ungestraft als "Freund" der Türkei bezeichnen und sich damit direkt gegen die Interessen der USA stellen kann, dann spricht daraus ein Selbstbewußtsein, daß sich deutlich von den Zeiten des Kalten Krieges unterscheidet, als dem südostlichen Eckpfeiler der NATO eher der Rang einer äußeren Grenzmark zukam.

Der jüngste gemeinsam mit Brasilien erzielte diplomatische Erfolg im sogenannten Atomstreit mit dem Iran ist in Washington auf so wenig Gegenliebe gestoßen, daß Erdogan um so mehr herausgefordert ist, die außenpolitische Eigenständigkeit seines Landes zu bekräftigen. Davon kündet auch sein seit dem Überfall auf Gaza zumindest auf öffentlicher Bühne demonstrativ kritisches Verhältnis zu Israel. Der Eklat auf dem Weltwirtschaftsforum Davos 2009, auf dem Erdogan nach einer emotionalen Rede, in der er Israels Vorgehen in Gaza scharf verurteilte, aus dem Saal stürmte, hat ihm nicht nur in der Türkei viele Sympathien eingebracht. Seit die Türkei gegenüber Israel eine zusehends selbstbewußte Politik an den Tag legt, die unter anderem zu einer Ausladung der israelische Streitkräfte von gemeinsamen Militärmanövern geführt hat, verbessern sich die traditionell kühlen Beziehungen des Nachfolgestaats des Osmanischen Reichs zur arabischen Welt. Damit vergrößert die Türkei ihr Gewicht als Vermittlerin in den regionalen Konflikten, unterhält sie doch Beziehungen zu Akteuren, die so verfeindet sind, daß sie kaum miteinander reden können.

Dieser Bedeutungszuwachs ist auch für die Regierungen der EU und dabei insbesondere der Bundesrepublik problematisch, läßt sich die Türkei doch immer weniger in eine mit dem Begriff der "privilegierten Partnerschaft" höchst durchsichtig überspielte Subordination drängen. Die Strategen in Brüssel und Berlin müssen befürchten, so sehr die Kontrolle über diesen Aktivposten europäischer Hegemonialpolitik zu verlieren, daß eines Tages aktive Anstrengungen etwa in Form eines Angebots zum beschleunigten EU-Beitritt erforderlich werden könnten, um den drohenden Verlust an Einflußnahme im Nahen und Mittleren Osten abzuwenden. Zweifellos ist man in Berlin nicht gerade erfreut darüber, durch die entschiedene Parteinahme für Israel und die USA immer mehr strategische Verluste zu erleiden, die die Abhängigkeit der Bundesrepublik von Washington weiter vergrößern.

Die anstehende Konfrontation zwischen den Blockadebrechern der Freedom-Flottille und der israelischen Marine stellt die Regierung in Tel Aviv angesichts dieser komplizierten Gemengelage vor ein nicht leicht zu lösendes Problem. Setzt sie das beanspruchte hoheitliche Recht auf die Küstengewässer vor Gaza trotz des offenkundigen Widerspruchs, die Besetzung des Gebiets angeblich beendet zu haben, mit Gewalt durch, dann riskiert sie eine Belastung der Beziehungen zur Türkei, die sogar zu der offiziellen Aufkündigung der strategischen Kooperation zwischen Israel und der Türkei führen könnte. Läßt sie die Schiffe passieren, dann nimmt sie eine Niederlage in Kauf, die die harte Linie gegenüber der Bevölkerung Gazas generell in Frage stellt. Zwar hat die israelische Regierung nicht wirklich viel zu verlieren, schlimmstenfalls müßte sie in einen Friedensprozeß einwilligen, in dem die Zweistaatenlösung unter zumindest indirekter Beteiligung der Hamas-Regierung doch noch verwirklicht würde. Da die politische Klasse in Israel bislang nicht den Eindruck erweckt, zu einem solchen Schritt bereit zu sein, ist jedoch zu befürchten, daß nicht einmal die Rückendeckung durch Ankara eine Eskalation vor der Küste Gazas verhindern wird.

27. Mai 2010