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HEGEMONIE/1663: Mythos "Euro" ... Merkels Pläne für eine ökonomisch determinierte EU (SB)



In dankenswerter Offenheit hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im europapolitisch hochsymbolischen Rahmen der Verleihung des Internationalen Karlspreises das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie bestimmt. Anläßlich der Übergabe dieses Preises an den polnischen Premierminister Donald Tusk in Aachen am 13. Mai wies sie der Gemeinschaftswährung eine Bedeutung zu, die das Projekt der Wertegemeinschaft Europäische Union zu dem einer Verwertungsordnung transformiert:

"Der Euro ist unsere Währung. Und er ist doch mehr als eine Währung. Er ist der bisher weitreichendste Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Der Euro steht für die europäische Idee." [1]

Einst sollte der Euro als Schlußstein institutioneller Vereinheitlichung das Ende der politischen Integration markieren. Er wäre Ergebnis eines langfristigen konstitutionellen Prozesses gewesen, in den die Interessen der Bevölkerungen eingegangen wären, bevor die Mitgliedstaaten ihre währungspolitische Souveränität aufgegeben hätten. Die supranationale Angleichung sozialfreundlich zu gestalten, anstatt das Soziale als Beute des Kapitals freizugeben, hätte das Aufgehen souveräner Staatssubjekte in einem föderalen Bundesstaat EU vorausgesetzt. Dies wäre nur mit der demokratischen Einbindung aller Bürger möglich gewesen. Deren demokratische Beteiligung wurde durch das angebliche Diktat marktwirtschaftlicher Zwänge, das insbesondere geltend gemacht wird, seit die währungspolitische Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten an die Europäische Zentralbank (EZB) delegiert wurde, unterbunden.

Eine unter maßgeblicher Beteiligung der Bevölkerungen, die im Widerstand gegen den Verfassungsvertrag hinlänglich bewiesen haben, daß sie in der Lage sind, ihre Interessen wirksam zu artikulieren, erfolgte Integration hätte möglicherweise andere Ergebnisse gezeitigt als die Formation einer nach innen repressiven und nach außen aggressiven Entität. Die vage Chance auf eine solche Entwicklung hat die Regierungen der Mitgliedstaaten unter Führung Deutschlands dazu veranlaßt, das Projekt der Gemeinschaftswährung vorzuziehen. Dabei repräsentierte die mit dem Überfall auf Jugoslawien und der Besetzung neuer Protektorate initiierte Militarisierung der EU die harte Schale des nur scheinbar weichen Kerns zivilgesellschaftlicher Entwicklung. Der niemals eingelöste demokratische Anspruch der europäischen Integration wurde von der Zwangslogik des globalen Standortwettbewerbs überwölbt, um im gescheiterten Lissabon-Prozeß des Jahres 2000, die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, seinen expliziten Ausdruck zu finden.

Die Durchsetzung marktfundamentalistischer Politikkonzepte zementierte die Dominanz der Kapitalverwertung, so daß die Lebensinteressen der Lohnabhängigen und Erwerbsunfähigen zur Disposition der Kapitalisierung öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge und des programmatischen Sozialabbaus, der forcierten Senkung der Lohnkosten bei Steigerung der Arbeitseffizienz, einer investorenfreundlichen Steuerpolitik mit besonders ruinösen Flat-Tax-Auswüchsen sowie der Unterordnung zentraler Grundrechte unter die Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit gestellt wurden. Mit dem Angriff auf die Interessen arbeitender Menschen durch die Agenda 2010 der Bundesregierung unter Gerhard Schröder wurde ein Modell der Nötigung und Entrechtung in die Welt gesetzt, das als exemplarisches Beispiel für die Folgen der Entfachung von Kapitalinteressen als Triebkraft politischer Entwicklung genommen werden kann.

"Scheitert der Euro, dann scheitert nicht nur das Geld. Dann scheitert mehr. Dann scheitert Europa, dann scheitert die Idee der europäischen Einigung." [1]

Das von Merkel aufgerufene Krisenszenario resultiert nicht aus levantinischer Mißwirtschaft oder zu hohen materiellen Ansprüchen nicht über nennenswertes Vermögen verfügender Menschen, wie allenthalben versichert wird. Auch kann Geld als eine Ware unter vielen nicht scheitern, sondern sich lediglich für seine Eigner unzweckmäßig, für deren Konkurrenten aber um so zweckmäßiger erweisen. Die mythische Befrachtung des Euro mit Zwecken und Zielen, die ein Tauschwertäquivalent nicht befördern kann, dient der Verschleierung der Systemkrise. Der innere Widerspruch des Kapitalverhältnisses, der Produktivkraftentwicklung kein entsprechendes Wachstum an Erwerbsarbeit gegenüberzustellen, das die gesellschaftliche Reproduktion im beanspruchten Sinne allgemeiner Wohlstandsmehrung ermöglichte, wird systematisch ausgeblendet, weil seine Anerkennung die herrschende Ordnung unmittelbar bedrohte.

Da Kapital kein anderes Interesse hat als sich zu verwerten, fallen die Lebensansprüche immer weiter hinter den Rentabilitätszwang zurück. Die Kompensation dieses Widerspruchs durch finanzkapitalistische Expansion hat den Zeitpunkt, an dem die nichtvorhandene Deckung der Kapitalakkumulation durch produktive Arbeit aufflog, lediglich hinausgeschoben. Die Krise der Staatsfinanzen ist kein Produkt zwangsläufiger ökonomischer Logik, sondern des politischen Willens, das Finanzkapital zu Lasten der Staatshaushalte zu retten.

Mit der Beschwörung des Euro als zentrale Triebkraft der Integration appelliert die Bundeskanzlerin, kapitalistische Vergesellschaftung auch in Zukunft als Paradigma bürgerlicher Existenz und staatlicher Verfaßtheit zu nutzen. Das von Merkel postulierte "mehr", mit dem die Währung Euro, also die staatliche Garantie auf die Gültigkeit des Tauschäquivalents Geld, zur "europäischen Idee" überdeterminiert wird, bestimmt in seiner materialistischen Kehre den Verlust, den die Kapitalakkumulation in anwachsendem Maße produziert. Verlust an Lebensqualität, Verlust an natürlichen Ressourcen, Verlust an ökologisch wertvoller Substanz, Verlust an ökonomischer Subsistenz, Verlust an kultureller Autonomie, Verlust an demokratischer Einflußnahme - die verschiedenen Formen der allseits manifest werdenden Defizite humaner Reproduktion und der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen lassen sich als negative Produktion zusammenfassen, die die verheißene Schaffung von Reichtum ins Bild eines Brandes setzt, dessen Wärme so flüchtig wie seine Veraschung unumkehrbar ist. Selbst wenn man diese düstere Sicht durch die Hoffnung auf die alles immer wieder in Lebensprozesse einspeisende Natur aufhellen möchte, bleibt die individuelle Einspeisung in Arbeitsprozesse und Zwangsverhältnisse, die stets weniger hervorbringen als das, was den davon Betroffenen genommen wurde, das objektive Problem kapitalistischer Vergesellschaftung. Das gilt auch für die vermeintlich goldenen Zeiten des Kapitalismus, basierten sie doch auf kolonialistischer Ausplünderung und imperialistischer Kriegführung, so daß dem Postulat globalen Reichtumszuwachses nur unter Ausblendung erheblicher Entbehrungen vergangener wie zukünftiger Generationen in den Ländern des Südens Gültigkeit verschafft werden kann.

"Wir haben eine gemeinsame Währung, aber wir haben keine gemeinsame politische und wirtschaftliche Union. Genau das müssen wir ändern. Das zu schaffen, darin liegt die Chance dieser Krise. Wir müssen diese Krise zum Anlass nehmen, Versäumtes nachzuholen - Versäumnisse, die auch durch den Lissabon-Vertrag nicht behoben wurden." [1]

Merkels Behauptung, daß sich dieser allgemein auf längere Sicht als abgeschlossen erachtete Integrationsschritt schon wenige Monate nach seinem Inkrafttreten als unvollständig erweist, verheißt nichts Gutes. In Anbetracht des undemokratischen Zustandekommens des Lissabon-Vertrags, seiner neoliberalen und militaristischen Ausrichtung sowie der durch ihn zementierten Dominanz großer EU-Staaten sollen weitere Vertragsänderungen wohl kaum eine Rücknahme dieser Strukturmerkmale bewirken. Viel mehr verraten die Forderungen deutscher Politiker nach administrativen Eingriffen in die hoheitlichen Befugnisse überschuldeter Staaten, daß der nächste Integrationsschritt Voraussetzungen für die imperialistische Subordination der süd- und osteuropäischen Peripherie durch die hochproduktiven Zentralstaaten Westeuropas schaffen soll. "Kerneuropa" läßt grüßen - was Unionspolitiker bereits Anfang der 1990er Jahre gefordert haben und was vertraglich durch die Möglichkeit der Verstärkten Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten fixiert wurde, wird über die währungspolitische Vergemeinschaftung quasi als Produkt des Waltens numinoser ökonomischer Kräfte im Wortsinne erwirtschaftet.

Merkels Überhöhung des Euro zur "europäischen Idee" dementiert alles, was nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg an Visionen zur Aufhebung kriegerischer Überwältigungen und nationaler Differenzen entworfen und vorgedacht wurde. Der humanistische und aufklärerische Gehalt bürgerlicher Emanzipation seit der Französischen Revolution war stets mit der Idee eines Friedens verbunden, der die gewaltsame Unterwerfung anderer Völker und Aneignung ihrer Territorien zumindest für den eigenen europäischen Kulturraum ausschließen sollte. Die zivilisatorische Suprematie, den Rest der Welt zur Beute kolonialer Landnahme zu erklären, und die kapitalistische Transformation der gesellschaftlichen Produktivität als Mittel bürgerlicher Herrschaft führte zur Entstehung revolutionärer Bewegungen, deren Internationalismus neue Horizonte der Überwindung nationalstaatlicher Konkurrenz eröffnete, denen die Idee eines sozialistischen Europas selbstverständlich war.

Durch die Degradierung humaner Vielfalt zur sozialdarwinistischen Einfältigkeit des Homo oeconomicus wird die europäische Idee zu einem Herrschaftskonzept verkürzt, dessen Mechanismen der Ein- und Ausschließung an der Verwertung des Menschen über das ganze Spektrum vom Innersten seiner physischen Konstitution bis zum äußersten kultureller Expression orientiert sind. Humangenetisch auf Leistungs- und Risikopotentiale hin evaluiert, sicherheitsechnokratisch vom Kontostand über den Freundeskreis bis auf die Zellstruktur durchleuchtet, wissenstechnisch und beruflich durch die Anforderungen des Arbeitsmarktes fremdverfügt, sozial zur Monade schuldhafter Eigenverantwortung atomisiert, politisch auf den Konsens eines antiextremistisch formierten Pluralismus eingeschworen verkommt der postmoderne Europäer zum Werkstoff einer Produktivität, die die Gewalt des Kapitalverhältnisses im industriellen Output mörderischer Waffen und der sie einsetzenden Institutionen nach außen kehrt.

"Und jenseits des Ökonomischen wagen wir nach der gemeinsamen Währung vielleicht weitere Schritte, zum Beispiel den hin zu einer gemeinsamen europäischen Armee. Am Ende geht es um unsere Werte und Grundsätze: Demokratie, Wahrung der Menschenrechte, nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, eine stabile Währung, sozialer Frieden. Das 21. Jahrhundert kann Europas Jahrhundert werden." [1]

Mehr als die Aussicht auf neue Kriege hat die Bundeskanzlerin nicht zu bieten. Da es erst am Ende und nicht zu Beginn um das Bestimmende jedes Gemeinwesens, die sozialen und politischen Werte, die es konstituieren, gehen soll, wurde das Ergebnis vorweggenommen. Was als Projekt begann, die Bundesrepublik als Großmacht im Wartestand zu neutralisieren und zum antikommunistischen Frontstaat aufzubauen, mündet in eine nach außen wie innen imperialistisch organisierte Hegemonialordnung, die immer häufiger als "Schicksals-" und nicht mehr als "Wertegemeinschaft" bezeichnet wird. Die ökonomische Determination produziert all die Vorwände, derer es bedarf, im globalen Verteilungskampf als größerer Räuber erfolgreich zu sein und den "moral hazard" des von vornherein auf dieses Ziel abgestellten Kalküls als Produkt schicksalhaften Waltens darstellen zu können.

[1] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-13-karlspreis.html

14. Mai 2010