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HEGEMONIE/1643: Von Afghanistan zum Iran? Erste Signale in Richtung Taliban (SB)



Auf der Afghanistankonferenz in London waren die Taliban und andere Gruppen des afghanischen Widerstands zwar nicht zugegen, doch letztlich drehte sich alles um sie. Wie das Land befrieden, ohne den Status quo ante wiederherzustellen, lautet die Frage, die die NATO-Regierungen seit Jahren umtreibt. Was Ende 2002 auf dem Petersberg bei Bonn mit einem von den Vereinten Nationen sanktionierten Fünfpunkteplan zur Demokratisierung des Landes begann, erweist sich Anfang 2010 als Debakel eines Kolonialkriegs, dessen Betreiber mit dem Vorhaben, den durch Eroberung des Landes bewirkten Sturz der Taliban-Regierung unumkehrbar zu machen, auf immer größere Schwierigkeiten stoßen.

Deutlichstes Eingeständnis des Problems, daß die Besatzungsgegner selbst mit den Mitteln des mächtigsten Militärbündnisses der Welt nicht zu besiegen sind, ist die Einrichtung eines 350 Millionen Euro starken Reintegrationsprogramms für sogenannte gemäßigte Taliban. Die dazu angebotene Erklärung, daß damit allein aus Erwerbsgründen für die Taliban kämpfende Afghanen auf die Seite der Kabuler Regierung gezogen werden sollen, ist zu kurzsichtig, als daß sie ernstgenommen werden kann. So steht es den Taliban offen, ihre Kämpfer noch besser zu entlohnen, zudem haben diese allen Grund, in Anbetracht der militärischen Erfolge der Besatzungsgegner auf eine Zukunft zu setzen, in der sie davon profitieren könnten, stets auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Vor allem jedoch wird mit dieser Spaltungsstrategie verkannt, daß es valide politische Gründe für die Besatzungsgegner gibt, an der Zurückerlangung nationaler Souveränität festzuhalten.

Der vom afghanischen Präsidenten Hamid Karzai in London vorgestellte Plan, die Reintegration "gemäßigter" Taliban parallel zu einem Verhandlungsprozeß zu betreiben, in dem die Führer und Feldkommandanten der diversen Widerstandsgruppen in den politischen Prozeß eingebunden werden, verrät, daß man über eine grundlegende Abkehr vom bisherigen Freund-Feind-Schema nachdenkt. Dies ist auch Aussagen führender US-Politiker und -Militärs zu entnehmen, die, wie etwa US-Verteidigungsminister Robert Gates und der NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, laut über Verhandlungen mit den Taliban nachdenken.

Da diese auf einen Abzug der Besatzungstruppen insistieren, während Karzai darauf besteht, daß die NATO das Land erst vollständig verläßt, wenn die eigenen Truppen ausreichend ausgebildet sind, um nicht gleich überrannt zu werden, dürfte es eine Frage des jeweiligen Preises sein, ob die Anerkennung der Taliban und anderer Widerstandsgruppen als Verhandlungspartner gelingt. Im Zweifelsfall befindet sich Karzai als Statthalter der Besatzer, dessen demokratische Glaubwürdigkeit durch das jüngste Wahldebakel stark angeschlagen ist, in der schlechteren Position. Sollte er sich aus eigennützigen Gründen der Bildung einer neuen Regierung unter Einbeziehung der Widerstandsfraktionen in den Weg stellen, dann wäre die Unterstützung, die er durch die NATO-Staaten genießt, akut in Frage gestellt.

Der gleichzeitig erfolgende Truppenaufbau in Afghanistan steht zu den Erwägungen Washingtons, nicht mehr auf die finale militärische Niederlage der Taliban zu bestehen, nur scheinbar im Widerspruch. Man will aus einer Position der Stärke heraus handeln, schließt Zugeständnisse aber nicht mehr völlig aus. Die "Afghanisierung" des Krieges wird, das wissen auch die NATO-Planer, mit dem bisher verfolgten Ziel der völligen Ausschaltung der Taliban und ihrer Verbündeten nicht gelingen. Was die US-Streitkräfte und NATO-Truppen in acht Jahren nicht vollbracht haben, wird eine von ihnen finanzierte Vasallenarmee erst recht nicht erreichen.

Als Lösung für dieses Problem bietet sich die Anerkennung der politischen Legitimität der Besatzungsgegner bei schrittweiser Reduzierung der NATO-Präsenz an. Dies würde jedoch nur funktionieren, wenn die NATO eine positive Bilanz vorzeigen könnte. Nach acht Jahren eines teuren Kriegs streicht man nicht einfach die Flagge, sondern verlangt nach einem vorzeigbaren Ergebnis.

Das wäre wohl nur zu erbringen, wenn sich alle an einer neuen afghanischen Regierung beteiligten Gruppen auf ein Minimum an Grund- und Menschenrechten einigten, für deren Durchsetzung die NATO angeblich seit Jahren kämpft. Zu einem solchen Ergebnis zählte auch die Festlegung auf eine Bekämpfung des Terrorismus, sprich der Aufgabe jeglicher Zusammenarbeit mit Al Qaida, die am Hindukusch zu besiegen der Hauptgrund für die Anwesenheit der NATO sein soll. Schließlich dürfte es der US-Regierung wichtig sein, daß Afghanistan in ein regionales Bündnissystem eingebunden würde, das für Pakistan wie für Indien akzeptabel wäre, während es Washington gegenüber dem Iran neue Handlungsmöglichkeiten verschaffte.

Die neuen Signale in Richtung Taliban könnten für den Fall einer Weigerung der Besatzungsgegner, sich auf einen Verhandlungsprozeß vor einem Abzug der NATO-Truppen einzulassen, auch zu deren Delegitimierung dienen. Dies wäre eine im Rahmen der Offensivstrategie, die die NATO-Staaten bisher am Hindukusch verfolgt haben, eher ungewöhnliche Volte, schien man in den westlichen Hauptstädten bislang doch der Ansicht zu sein, daß die afghanischen Besatzungsgegner als politische Kraft, mit der man auf Augenhöhe reden könnte, gar nicht existieren.

Auf jeden Fall verrät die neue Einbindungsstrategie, wie hohl die unterstellten Gründe der Kriegführung in Afghanistan sind und stets waren. Kriegsgegner haben immer wieder daran erinnert, daß die USA früher auf bestem Fuß mit den Taliban standen und daß viele der von Mujahedin in "Terroristen" umdeklarierten Kämpfer Produkte der verdeckten Kriegführung der CIA sind, an der die Sowjetunion in Afghanistan ausblutete. Dementsprechend irrelevant ist es für die Besatzer, wenn afghanische Exilanten vor dem Londoner Konferenzgebäude gegen jede politische Aufwertung der Taliban demonstrieren. Der moralische Hochsitz, den die Eroberer des Landes einnahmen, als sie behaupteten, afghanische Frauen mit Bomben und Granaten befreien zu wollen, wird für den Fall, daß sich eine günstigere Option anbietet, so schnell verlassen, daß niemand sich mehr daran erinnert, daß es ihn jemals gab.

Der Grund dafür, den Krieg in Afghanistan in absehbarer Zeit zuendezubringen, liegt nicht in der Friedfertigkeit der NATO-Staaten, sondern in ihrem Hegemonialstreben, dem mit dem am Hindukusch betriebenen Aufwand nur bedingt zugearbeitet wird. Viel wichtiger für die USA und die EU als ein Afghanistan ohne Taliban ist die Schwächung des Irans. Die Regierung in Teheran wurde durch die Ausschaltung des Iraks als regionaler Akteur aufgewertet und macht aus ihrer Ambition, die stärkste Kraft am Persischen Golf zu sein, kein Hehl. Mit den sunnitischen, von Saudi-Arabien und anderen arabischen Golfanrainern unterstützten Taliban war die mehrheitlich schiitische Islamische Republik Iran ohnehin verfeindet, so daß die NATO Teheran mit deren finaler Ausschaltung einen weiteren Gefallen täte. In der komplizierten Gemengelage des Mittleren Ostens profitiert der Iran von jeder Niederlage, die einem seiner regionalen Konkurrenten beigebracht wird, durch die Ausweitung des eigenen Einflusses.

In Anbetracht der sich zwischen den USA, der EU und Israel auf der einen und dem Iran auf der anderen Seite verschärfenden Eskalation und eines trotz starker innerer Opposition kaum in absehbarer Zeit gelingenden Regimewechsels in Teheran wollen die westlichen Regierungen ihre militärischen Kräfte nicht weiter in Afghanistan verbrauchen, sondern für den weit wichtigeren Gegner Iran freihalten. Hat US-Präsident Barack Obama den Fokus der kriegerischen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens vom Irak nach Afghanistan und Pakistan verlagert, so steht er nun davor, den nächsten Schritt in Richtung Iran zu tun. Um einen weiteren, dieses Mal für die Aggressoren viel gefährlicheren Feldzug führen zu können, ist es von Vorteil, wenn die bisherigen Kriege auf kleiner Flamme kochen.

29. Januar 2010