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HEGEMONIE/1634: Evo Morales löst Bolivien aus dem Griff der USA (SB)



Lateinamerika - von den Vereinigten Staaten in einer Mischung aus Raubgier und Verachtung zum eigenen "Hinterhof" erklärt, in dem kein Rivale wildern darf - hat im zurückliegenden Jahrzehnt die Ketten der Hegemonie auf beispiellose Weise gelockert und ist heute in gewisser Hinsicht weniger abhängig von Washington als die Europäer. Wenngleich an militärischer Stärke hoffnungslos unterlegen und damit der Gefahr bellizistischer Drangsalierung keinesfalls entronnen, nimmt doch eine ökonomische Absetzbewegung und nicht zuletzt ideologische Ablösung Gestalt an.

War die Region in den Zeiten des Kalten Krieges durchaus ein Schlachtfeld der Auseinandersetzung im Ringen der Blöcke und Gesellschaftsentwürfe, so hat sich der Fokus US-amerikanischer Zugriffsentwicklung inzwischen in den Mittleren Osten verlagert. Die Ökonomie der Kriegsführung brachte zwangsläufig eine Vernachlässigung des globalstrategisch in den zweiten oder dritten Rang abgerutschten Lateinamerika mit sich, die dort den Würgegriff tendentiell lockerte, so daß nicht jedes Aufbegehren sofort erstickt und abgestraft werden konnte.

Aufschlußreich war in diesem Zusammenhang die überschaubare Strategie George W. Bushs, der den lateinamerikanischen Ländern vor seiner ersten Amtszeit hoch und heilig versprach, sie stünden ganz oben auf seiner außenpolitischen Agenda. Nichts davon wurde eingelöst, und nach dem 11. September 2001 verlangte die US-Regierung bedingungslose Vasallentreue ohne Gegenleistung. Der Versuch, den "Hinterhof" mit leeren Versprechen abzuspeisen und mit Drohgebärden im Zaum zu halten, ging schief: Als Bush schließlich abgewirtschaftet hatte, war sein Name weithin zu einem Schimpfwort geworden und der Einfluß der USA beträchtlich geschrumpft.

Wenngleich das keineswegs die Quelle der emanzipatorischen Bestrebungen war, erleichterte es ihre Entfaltung doch enorm, weil Millionen Menschen vor Augen geführt werden konnte, daß die USA nicht der Heilsbringer, sondern das Verhängnis Lateinamerikas sind. Barack Obama versucht, den Scherbenhaufen zu kitten, den der Elefant im Porzellanladen hinterlassen hat. Da er jedoch geostrategisch das Werk seines Vorgängers ungebrochen fortsetzt, bedenkt auch er den südlichen Teil der Hemisphäre mit wortreichen Versprechen, denen er keine nennenswerten Taten folgen läßt, welche die in Aussicht gestellte neue Herangehensweise bestätigen würden.

Daß man ohne die US-Amerikaner besser fährt als mit ihnen, unterstreicht das Beispiel Bolivien. Dort hat Staatschef Evo Morales nicht nur die Präsidentenwahl mit etwa 63 Prozent klar gewonnen, sondern mit seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) auch eine Zweidrittelmehrheit im Senat errungen, nachdem ihm eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus ohnehin sicher war. Der frühere Kokabauer war im Dezember 2005 mit 53,7 Prozent der Stimmen zum ersten indígenen Präsidenten des südamerikanischen Andenstaats gewählt worden. Sein Zugewinn von rund 10 Prozent beim gestrigen Urnengang wie auch der gewaltige Rückstand des zweitplazierten Manfred Reyes Villas, der mit rund 24 Prozent weit abgeschlagen rangierte, unterstreichen, wie fest Morales im Sattel sitzt.

Hatte ihm der Senat während seiner ersten Amtszeit das Leben schwergemacht, so erlauben es die künftigen Mehrheitsverhältnisse dem 50jährigen Präsidenten und der Regierungspartei, den Entwurf der "demokratischen Revolution" weitere fünf Jahre und diesmal gegen eine deutlich geschwächte konservative Opposition umzusetzen. Wie Morales schon vor der Wahl unterstrichen hatte, sei das Reformprojekt keineswegs abgeschlossen. Er wolle für eine weitere Amtszeit Präsident sein, um die Reformen und die industrielle Nutzung der Bodenschätze, die man 2006 begonnen habe, zu vollenden.

Als sich in den Prognosen der Wahlnacht ein klarer Erfolg des Präsidenten und der MAS abzeichnete, kündigte Evo Morales vor Tausenden jubelnden Anhängern in der Hauptstadt La Paz an, er werde die in Angriff genommenen Reformen fortan beschleunigen: "Dieses Programm ist schon nicht mehr das einer einzigen Partei, sondern des ganzen bolivianischen Volkes. Wir tragen jetzt eine enorme Verantwortung für Bolivien. Nachdem wir mehr als zwei Drittel der Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat erobert haben, müssen wir den Prozeß der Veränderungen beschleunigen." (www.zeit.de 07.12.09)

Evo Morales und die MAS verdanken diesen Zugewinn ihrer Glaubwürdigkeit bei einer deutlichen Mehrheit der Wählerschaft, da die propagierte "Politik des Wandels" kein leeres Versprechen blieb. Neben beachtlichen Sozialprogrammen, die in der Geschichte des Landes beispiellos sind und großen Teilen der mittellosen Bevölkerung zugute kommen, trieb die Regierung die industrielle Erschließung der weltweit größten Lithiumvorkommen voran und nahm den Ausbau der Infrastruktur in Angriff. Bolivien blieb von der weltweiten Wirtschaftskrise weitgehend verschont und weist in diesem Jahr mit 3,2 Prozent das höchste Wirtschaftswachstum in Lateinamerika auf, was selbst dem Internationalen Währungsfonds ein ausdrückliches Lob entlockte.

Möglich wurde diese bemerkenswerte Entwicklung des ärmsten Landes Südamerikas, in dem mehr als 60 Prozent der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze leben, durch eine grundsätzliche Neuausrichtung der Politik im Kontext der engen Partnerschaft mit Venezuela und der Wirtschaftsgemeinschaft ALBA. Zu nennen ist auch die rückhaltlose Unterstützung seitens der Union Südamerikanischer Nationen, als die sezessionistischen Bestrebungen der reichen Tieflandprovinzen Bolivien in einen Bürgerkrieg zu stürzen drohten.

Die bolivianische Regierung wies die hegemoniale Einflußnahme der Vereinigten Staaten entschieden zurück. Im Konflikt mit ihren reaktionären Gegnern in Santa Cruz erklärte sie den US-Botschafter Philip S. Goldberg zur unerwünschten Person, da dieser wiederholt mit führenden Sezessionisten zusammentraf und offenbar mit ihnen paktierte. Auch die US-Drogenbehörde (DEA) mußte Bolivien verlassen, nachdem ihr Intrigen und Spionagetätigkeit zur Last gelegt worden waren. Und schließlich sah sich auch USAID genötigt, die Zelte abzubrechen, da dessen Unterstützung des Aufruhrs in den oppositionellen Ostprovinzen offenkundig war.

Natürlich bestritt Washington sämtliche Vorwürfe und strich Bolivien diverse Hilfsgelder, wovon sich Evo Morales jedoch nicht beeindrucken ließ. Da die Mehrheit seiner Landsleute Armut, Hunger und Erniedrigung am eigenen Leib erfahren hat, ist die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu den alten Verhältnissen, als US-amerikanische Dienste und Organisationen in Bolivien ein und aus gingen, während die Regierung es als ihre vornehmste Aufgabe ansah, die Taschen einer elitären Minderheit zu füllen, nicht mehr allzu groß.

7. Dezember 2009