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HEGEMONIE/1607: Fischer stellt Verfassungsrichter unter Gesinnungsverdacht (SB)



Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Reformvertrag der Europäischen Union hat, wiewohl es linke Kritiker dieses Integrationsschrittes nicht zufriedenstellen kann, einen gewichtigen Vorteil: Erstmals findet in der Bundesrepublik überhaupt so etwas wie eine kontroverse Debatte um die Folgen des Übertrags souveräner Rechte auf supranationale Institutionen statt. Das zeigt sich auch an der Schelte, mit der der ehemalige Außenminister Joseph Fischer die Karlsruher Richter überzieht. Als früher Verfechter einer zügigen Ausbildung zentraler exekutiver Handlungsgewalt der EU in kerneuropäischer Dimension - Stichwort "Gravitationszentrum" seiner europapolitischen Grundsatzrede an der Berliner Humboldt-Universität 2000 - paßt es dem Grünenpolitiker ebensowenig wie vielen CDU-Politikern ins Konzept, daß das Verfassungsgericht die demokratische Legitimation der europäischen Gesetzgebung für unzureichend hält und daher ein stärkeres Mitsprachrecht der nationalen Legislative anmahnt.

Besonders erbost ist Fischer über die Kritik des Gerichts an der Möglichkeit, daß die weitere europäische Integration auf einen Bundesstaat hinausliefe, was dem Urteil der Verfassungsrichter zufolge nur möglich wäre, wenn zuvor in Deutschland eine Volksabstimmung durchgeführt würde. Fischer greift tief in die Kiste polemischer Bezichtigungen, um das grundsätzliche Problem des Übergehens der Bundesbürger bei der Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU nicht anerkennen zu müssen:

"Vor lauter »Bundesstaat« meint man gegen Ende der Lektüre, man befände sich in einer Fraktionssitzung der britischen Konservativen. Solche abwegigen Überzeichnungen waren bisher das alleinige Privileg der Euroskeptiker gewesen, denen sich nun unser höchstes deutsches Gericht anschließt."
(Zeit-Online, 09.07.2009)

Fischers Behauptung, daß es "weder beim Verfassungsvertrag noch beim Vertrag von Lissabon (...) jemals um einen europäischen Bundesstaat, auch nicht schleichend oder verdeckt" gegangen wäre, ist nur in einer Hinsicht zutreffend. Die Ausbildung weitreichender Handlungsgewalt auf EU-Ebene insbesondere in Hinsicht auf die globale Bedeutung der Union, aber auch zur Durchsetzung eines den Interessen des Kapitals zuarbeitenden gemeinsamen Wirtschaftsraums sollte so weit wie möglich ohne die Berücksichtigung demokratischer Prozeduren und Prinzipien erfolgen, wie sie für einen Bundesstaat zwingend wären. Als der Ermächtigungscharakter dieser Strategie noch nicht durch die mit dem Entwurf zum EU-Verfassungsvertrag aufgekommene Kritik deutlich geworden war, gehörte Fischer selbst zu den Verfechtern eines EU-Bundesstaats. "Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" lautete der Titel seiner programmatischen Rede an der Humboldt-Universität, in der er sich für einen parlamentarisch kontrollierten und zentral administrierten Föderalismus auf EU-Ebene stark machte.

Für den damaligen Außenminister war das Drängen auf beschleunigte europäische Integration weniger der Verwirklichung demokratischer Träume geschuldet denn als Mittel zum Zweck der Expansion der EU nach Osteuropa gedacht. Der geostrategische Charakter seines Werbens für mehr Union und weniger Nationalstaat erschloß sich unter anderem aus dem Manöver, mit der Forderung nach einer im wesentlichen aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten bestehenden europäischen Avantgarde der Integration an die Kerneuropakonzeption nationalkonservativer Revanchisten anzukoppeln, die in der dominanten Stellung Deutschlands innerhalb der EU die Chance auf Verwirklichung früherer Großmachtpläne witterten. Dies spiegelt sich auch in einer Rede Fischers vor dem Bundesrat am 21. Dezember 2000 wieder:

"Heute sind wir dabei, mitten in einem sich vereinigenden Europa zu leben. Das gab es in der deutschen Nationalgeschichte noch nie. Allein diese Tatsache wäre jeden Preis wert, meine Damen und Herren. Das heißt nicht, daß man die Augen verschließt vor vernünftiger Kalkulation. Aber diese Tatsache, daß Deutschland in einem sich vereinigenden Europa zum erstenmal seine Mittellage nicht als Last, sondern wirklich als historischen Gewinn sieht, das muß man doch begreifen, was dieses tatsächlich heißt."

Mit geradezu verschwörerischem Impetus unterbreitete der damalige Außenminister der Länderkammer das Angebot, die EU als Transformationsriemen einer historischen Entwicklungslogik zu verstehen, der sich auch nationalkonservative Kräfte nicht verschließen können. In seinem aktuellen Meinungsbeitrag spiegelt sich dieses Kokettieren mit den alten Ambitionen deutscher Eliten in der Behauptung, die Expansion der EU sei eine sicherheitspolitische Erfordernis ohne Alternative gewesen:

"Die Geschichte hatte vor zwanzig Jahren nicht nur die deutsche, sondern auch die europäische Wiedervereinigung auf ihre Tagesordnung gesetzt. Ohne die Osterweiterung von Nato und EU wäre in Europa nach 1989 zwischen der EU und Russland eine große Zone der Unsicherheit und Instabilität entstanden, die zukünftig Konflikte und Bedrohungen für die EU und ihre Mitglieder hervorgebracht hätte.

Wo stünden wir als Deutschland und Europa heute mit unserem Kontinent, wie wäre es um unsere Sicherheit bestellt, wenn diese große Erweiterung der EU nicht stattgefunden hätte und ein wieder erstarkendes Russland dabei wäre, seine Einflusszone erneut nach Westen auszudehnen, so wie es Moskau gegenwärtig mit dem von ihm sogenannten näheren Ausland (Ukraine, Georgien et cetera) versucht?"
(Zeit-Online, 09.07.2009)

Hier gibt sich Fischer als kompromißloser Atlantiker zu erkennen, der Westeuropa nach wie vor gegen Rußland definiert und sich die Welt nur als System miteinander konkurrierender Großräume vorstellen kann. Daß das Vordringen der NATO und EU gerade produziert, was seiner Ansicht nach damit verhindert werden soll, entzieht sich weniger seiner Vorstellungskraft, als daß es seinem Drang widerspricht, sich als Verfechter einer Politik großmächtiger Stärke einen Namen zu machen. Für Fischer folgt die Entwicklung der EU zu einem imperialen Akteur im Konzert der Weltmächte einer geopolitischen Zwangslogik, laut der die Erfordernis effizienterer EU-Institutionen aus dem Walten numinoser Kräfte, zum Beispiel "die Geschichte", resultiert.

Sein Versäumnis, die die Osterweiterung der EU und NATO treibenden Kräfte beim Namen zu nennen, kompensiert Fischer mit dem Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht betreibe nationale Restauration, indem es die weitere Integration behindere. Zwar trifft es zu , daß die Karlsruher Richter nicht bereit waren, den Lissabon-Vertrag über die Kategorien des Souveränitäts- und Demokratieverlusts hinaus in seinen inhaltlichen Unvereinbarkeiten mit der Verfassung der Bundesrepublik zu verwerfen, doch der gegen sie erhobene Gesinnungsverdacht eines ideologisch determinierten Festhaltens am Primat des Nationalstaats resultiert aus dem größeren Übel eines globalistischen Ermächtigungsstrebens, von dem jene Kräfte profitieren sollen, die ihre oligarchische Kapitalmacht auf EU-Ebene rekonfigurieren und erweitern möchten.

Um den antidemokratischen Charakter seines Werbens für den Primat EU-europäischer Imperialität zu verbergen, propagiert Fischer ein Konzept der europäischen Integration, das in der Summe zur Etablierung autoritärer Verfügungsstrukturen führen muß, weil ein solches staatsrechtliches Novum nur mit erheblichen Einbußen an demokratischer Legitimation etabliert werden kann:

"Die Grundlage des Verfassungs- wie des Lissabon-Vertrags ist der Staatenverbund mit integrativen und demokratischen Elementen in seinen Institutionen. Mehr Transparenz und demokratische Repräsentanz nach innen und mehr Geschlossenheit und Effizienz nach außen zur Wahrung der gemeinsamen Interessen von Mitgliedstaaten und Bürgern zu schaffen sind die zentralen Ziele beider Verträge."

Fischer vermeidet es tunlichst, den grundgesetzlichen Primat des Volkssouveräns zu erwähnen oder gar basisdemokratische Partizipation der deutschen wie EU-europäischen Bevölkerung einzufordern. Allein das Wort von "integrativen und demokratischen Elementen" tut kund, daß das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Demokratiedefizit der EU nicht behoben, sondern ausgebaut werden soll. Fischer argumentiert ausschließlich von oben nach unten, und zwar nach der zentralen Maßgabe vermeintlicher Interessen aller EU-Bürger an "mehr Geschlossenheit und Effizienz nach außen". Gemeint ist nichts anderes als die im Lissabon-Vertrag festgelegte Aufrüstung der EU und ihre Aufwertung als militärischer Akteur im Rahmen jenes imperialistischen Szenarios, das der frühere Kabinettskollege Fischers, Verteidigungsminister Peter Struck, am 3. Juni 2004 vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU ganz unverhohlen entwarf:

"Denn das Gewicht Europas, seine Ressourcen und seine Interessen, aber auch die Erwartungen seiner Partner lassen eine Beschränkung auf den Status eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes oder einer 'Zivilmacht' nicht mehr zu. Noch ist die EU kein globaler sicherheitspolitischer Akteur. Aber sie ist dabei, sich zu einem wirklichen strategischen Partner der USA und der NATO zur Stärkung der globalen Sicherheit zu entwickeln."

Es versteht sich von selbst, daß die Planung neuer Kriege, die damit einhergehende Militarisierung der Zivilgesellschaft und der durch terroristische Bedrohungen, deren Genese auf abenteuerliche Weise auf den Kopf gestellt wird, legitimierte Sicherheitsstaat nicht mit demokratischen Rechten konform gehen kann, die die EU-Bürger ermächtigten, ihr Veto gegen eine solche Politik einzulegen. Was Fischer als Interesse aller EU-Bürger und EU-Staaten verallgemeinert, ist ein Projekt herrschender Kräfte, das in zunehmendem Maße in Widerspruch zu den drängenden sozialen Fragen steht, die zu thematisieren dem grünen Bourgeois kein müdes Achselzucken wert sind.

Daß der kleine Schritt, mit dem die Karlsruher Richter den Gegnern des von Fischer nicht von ungefähr stets miterwähnten Verfassungsvertrags und Reformvertrags entgegengekommen sind, als "rückwärtsgewandt und realitätsfremd" gegeißelt wird, gereicht ihnen durchaus zur Ehre. Wer sich wie der ehemalige Außenminister darüber echauffiert, daß die machtopportunen Kreise der Eliten auch nur vorsichtig gestört werden, beweist, daß es viele gute Gründe gibt, im Widerstand gegen supranationale Ermächtigungspolitik nicht nachzulassen.

17. Juli 2009