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FRIEDEN/1127: Düstere Zukunftsaussichten für die Bevölkerung des Gazastreifens (SB)




Wie könnte die strategische Agenda der israelischen Regierung nach vier Wochen massiver Angriffe auf den Gazastreifen aussehen? Zweifellos markiert der Abzug der meisten Bodentruppen aus dem Gebiet nicht das Ende des Krieges, hat Premierminister Benjamin Netanjahu doch das Ziel der Entwaffnung der Hamas ausgegeben und dazu Zehntausende von Reservistinnen und Reservisten zu den Waffen gerufen. Auch wenn die militärische Infrastruktur der islamistischen Partei erheblich geschwächt sein dürfte, ist dieses Ziel, als dessen erste Phase die Zerstörung sogenannter Terrortunnel genannt wurde, alles andere als erreicht. Dementsprechend ziehen sich die israelischen Truppen in grenznahe Bereitstellungspositionen zurück, von denen aus sie den Artilleriebeschuß des Gazastreifens aufrechterhalten und jederzeit wieder vorrücken können.

Das offenkundige Ziel der Hamas, mit dem Raketenbeschuß Israels, vereinzelten Kommandooperationen und einem erheblichen Blutzoll in der palästinensischen Bevölkerung so viel direkten und mittelbaren Druck auf die israelische Führung auszuüben, daß dieser Krieg in die Aufhebung der seit sieben Jahren währenden Blockade des Gazastreifens mündete, scheint in weiter Ferne zu liegen. Die Empörung über mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte mag hohe Wogen schlagen, doch ändert das nichts an der Bereitschaft der Regierungen der NATO-Staaten, Israel das Recht auf Selbstverteidigung gegen die Angriffe einer terroristischen Organisation zu attestieren. Hier von einer unheiligen Allianz auszugehen, der die israelische Kriegführung ein Labor zur Entwicklung neuer Formen der Aufstandsbekämpfung in asymmetrischen Kriegen ist, liegt schon aufgrund der Tatsache nahe, daß die US-Regierung den Nachschub an Panzergranaten für das israelische Heer sicherstellt, daß viele NATO-Staaten permanent mit eigenen Militärdelegationen in Israel präsent sind und einen intensiven militärstrategischen Austausch mit den israelischen Streitkräften pflegen.

Selbst die in Anbetracht der Ungleichheit der politischen und militärischen Voraussetzungen abwegige Äquidistanz, von zwei ebenbürtigen Konfliktparteien auszugehen, beläßt Israel in der vorteilhaften Position, als etablierter Staat Bedingungen eines Friedens durchsetzen zu können, der am Status quo des Gazastreifens als eines großen Freiluftgefängnisses nichts änderte. Dies entspräche der Absicht der israelischen Regierung, den Krieg ohne eine Übereinkunft mit der Hamas zu beenden. So schickte sie keine Emissäre zu Waffenstillstandsverhandlungen nach Kairo und verfolgt die Absicht, in enger Absprache mit dem ägyptischen Militärregime dafür zu sorgen, daß die Grenze des Gazastreifens zum Sinai hermetisch abgeriegelt bleibt.

Zur geringen Unterstützung seitens der NATO-Staaten kommt für die Palästinenser erschwerend hinzu, daß die Fürsprache der arabischen Welt für die Schaffung palästinensischer Eigenstaatlichkeit fast vollständig weggebrochen ist. Saudi-Arabien steht aufgrund des eigenen Konflikts mit dem Iran eher auf der Seite Israels, die Regierungen Syriens und des Iraks sind isoliert und mit eigenen Bürgerkriegen beschäftigt, Libyen ist ein zerfallender Staat ohne jeden außenpolitischen Einfluß, und die ägyptische Militärregierung ist ihrerseits an der Schwächung der Hamas als eines Ablegers der von ihr verfolgten Muslimbrüderschaft interessiert. Katar, das sich als Vermittler anbietet, finanziert islamistische Kampfgruppen aller Art, was sein internationales Ansehen mindert. Als potentielle Unterstützer bleiben nur noch die nichtarabischen Staaten Iran, dessen Regierung derzeit die Annäherung an die USA vollzieht, und Türkei, dessen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zwar politischen Profit aus der Unterstützung der Palästinenser ziehen will, der aller feindseligen Rhetorik zum Trotz aber auch als NATO-Mitglied strategische Beziehungen zu Israel unterhält.

Wenn die Hamas nach so einer verlustreichen Auseinandersetzung keine Verbesserung zum Status quo ante für die notleidende Bevölkerung vorweisen kann, droht sie jeglichen Rückhalt unter den Palästinenserinnen und Palästinensern zu verlieren. Damit rückte auch das Ziel der israelischen Regierung, den Gazastreifen in ein wehrloses Protektorat zu verwandeln, in Reichweite. Ob das Gebiet künftig von der Autonomiebehörde in Ramallah ohne Beteiligung der Hamas verwaltet oder unter internationale Aufsicht gestellt würde, brächte die Lebensumstände seiner Bevölkerung bestenfalls auf das Niveau des Westjordanlands, wo außerhalb der kleinen Elite, die von der internationalen Unterstützung profitiert, große Armut herrscht.

Da die Möglichkeit, Israel zur Beendigung der Besatzungspolitik nach Maßgabe seit Jahrzehnten uneingelöster UN-Resolutionen zu nötigen, praktisch nicht gegeben ist, sieht die Zukunft für die Bevölkerung des Gazastreifens düster aus. Dies wäre um so mehr der Fall, wenn die israelische Regierung den Plan umsetzte, einen drei Kilometer breiten Streifen an der Grenze innerhalb des Gazastreifens vollständig zu räumen, um künftige Tunnelbauten und Raketenabschüsse zu erschweren. Eine solche Maßnahme liefe auf die Reduzierung des Territoriums um etwa ein Drittel hinaus, so daß die ohnehin schon bedrückende Enge für seine 1,8 Millionen Bewohner noch unerträglicher würde.

Stellt man zudem in Rechnung, daß die schweren Angriffe der israelischen Streitkräfte nicht nur gegen Stellungen der Hamas gerichtet sind, sondern auch Wohngebiete, UN-Einrichtungen, Krankenhäuser, das einzige Elektrizitätswerk und weitere Einrichtungen der zivilen Infrastruktur etwa zur Versorgung mit Trinkwasser zerstört haben, dann tut sich auch noch die Möglichkeit eines Bevölkerungstransfers auf. Sollten die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung über längere Fristen so schwerwiegend beeinträchtigt werden, daß ihr Überleben im Gazastreifen überhaupt in Frage gestellt wäre, dann könnte Netanjahu Sachzwänge postulieren, die nach drastischeren Lösungen verlangen. Entwickelte sich die humanitäre Katastrophe aufgrund der weiteren Abschottung des Gebiets bei immer wieder aufflammenden israelischen Angriffen aus der Luft, von See und vom Land her zu einem unhaltbaren Dauerzustand, dann könnte eine Evakuierung der palästinensischen Bevölkerung nach dem Vorbild früherer Vertreibungen in arabische Nachbarstaaten als Lösung des Problems plausibel gemacht werden.

Die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme sind in Anbetracht der für Israel günstigen internationalen Lage und der hochgradigen Unterstützung, die die bekundete Absicht der Regierung Netanjahu, das Problem ein für allemal zu lösen, aus der eigenen Bevölkerung erhält, durchaus gegeben. Scheitert die Hamas mit ihrer Strategie, einen Abnutzungskrieg gegen Israel zu führen, der sich in Form einer politischen Veränderung der eigenen Lage auszahlte, dann fällt die Initiative, Tatsachen aus Blut und Not zu schaffen, die tiefgreifende Maßnahmen erzwingen, an die israelische Regierung. Daß diese aufgrund internationaler Proteste und Boykotte so sehr in die Defensive gerät, daß eine solche Politik verhindert würde, erscheint angesichts der vielen sozialen und politischen Krisen, die die Welt erschüttern, eher unwahrscheinlich.

3. August 2014