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FRIEDEN/1120: Irak und anderswo - Befreiung gelingt nur aus eigener Hand (SB)




Zehn Jahre nach Beginn des Irakkriegs am 20. März 2003 hat sich in der allgemeinen Bewertung dieses völkerrechtswidrigen Überfalls wenig getan. Zwar wird der widerrechtliche Charakter des Aggressionskrieges in Politik und Medien beim Namen genannt, doch ist man schnell bereit, den vermeintlichen Nutzen des Regimewechsels in Bagdad zur notdürftigen Legitimation dieses Übergriffs ins Feld zu führen. Fragen nach politischen und rechtlichen Konsequenzen aus einem Kriegszug, der ein ganzes Land bis heute in einen unterschwelligen Bürgerkrieg gestürzt, Hunderttausende Menschen das Leben gekostet und Millionen in Flucht und Armut getrieben hat, werden kaum gestellt, ansonsten träte die Unfähigkeit der zivilgesellschaftlichen Doktrin, die im Irak durchzusetzen erklärtes Ziel der Eroberer war, die von ihr selbst ausgehenden Gewalten der kriegerischen Zerstörung im Zaum zu halten, unabweislich hervor.

Um so weniger ist man bereit, Fragen nach den Kriegsgründen nachzugehen, die über vordergründige Hegemonial- und Raubinteressen hinausgehen. Auch diese könnten tief ins eigene Fleisch schneiden, erklärt sich die Nachhaltigkeit, mit der diverse US-Regierungen die kriegerische Zerstörung und ökonomische Isolation des Irak betrieben haben, doch aus der Logik eines Krisenmanagements, die der Erschließung neuer Verwertungssphären Vorrang vor den Regeln internationaler Friedenssicherung und des völkerrechtlichen Gewaltverbots gibt. Anders wäre kaum zu begründen, daß die politische und militärische Unterstützung des Iraks während der 1980er Jahre im Krieg gegen den Iran in die jähe Exposition Saddam Husseins als grausamer Diktator umschlug, allerdings ohne ihm die Waffen der Aufstandsbekämpfung aus der Hand zu schlagen, mit denen er die Erhebung der schiitischen Bevölkerung 1991 bekämpfte. Man scheute davor zurück, die berechtigten Ansprüche des unterprivilegierten Teils der irakischen Bevölkerung auf eine Weise zum Zuge kommen zu lassen, die nach dem möglichen Sturz des Baath-Regimes einen zu großen Kontrollverlust für den regionalen Hegemon mit sich gebracht hätte.

Die langjährige Belagerung und Aushungerung des Iraks im Rahmen des UN-Sanktionsregimes sicherte zum einen die militärische Schwächung des Landes in Sicht auf die später zu vollziehende Eroberung und verhinderte zum andern, daß sich in der Phase der globalen Totalisierung des neoliberalen Kapitalismus nach dem Ende der Blockkonfrontation in der Region des Persischen Golfs eigenständige Entwicklungsimpulse entfalteten, die wiederum aktiv hätten bekämpft werden müssen. Die Konsolidierung der imperialistischen Hegemonie der NATO-Staaten war getrieben von der dauerhaften Krise ihres Akkumulationsregimes, die im Aufmarsch zum Irakkrieg 2003 unter anderem in einem zentralen Entwurf US-amerikanischer Interessensicherung, der National Security Strategy (NSS) vom 17. September 2002, als Katalog apodiktischer Ziele nationaler Selbstbehauptung Gestalt annahm.

In ihr konstatierte die Bush-Regierung, daß die USA als einzige Supermacht der Welt keinen Versuch eines anderen Landes dulden werden, den eigenen Führungsanspruch in Frage zu stellen. Das galt nicht nur für die militärstrategischen Ziele der USA, sondern die NSS 2002 unterstrich die strategische Bedeutung der ökonomischen Interessen der USA anhand der Forderung, der neoliberalen Doktrin zu weltweiter Gültigkeit zu verhelfen. Die Etablierung einer "Rechts- und Regulationspolitik (...), die geschäftliche Investitionen, Innovation und unternehmerische Aktivitäten" fördert, sind dem Dokument ebenso zu entnehmen wie die Senkung der Grenzsteuersätze, die Stärkung des Bankensektors und die Deregulierung der Volkswirtschaften in aller Welt:

"Die Lektionen der Geschichte sind klar: Marktwirtschaften, nicht Kommando- und Kontroll-Ökonomien mit der starken Hand der Regierung sind der beste Weg, Wohlstand zu fördern und Armut zu reduzieren. Eine Politik, die weiterhin Marktanreize und Marktinstitutionen stärkt, ist für alle Wirtschaften relevant - industrialisierte Staaten, Schwellenländer und Entwicklungsstaaten."

Das auch in anderen Stellungnahmen der damaligen US-Administration und der ihr zuarbeitenden Institutionen der Politikberatung artikulierte Ziel, alle Ökonomien zu öffnen, die sich dem Anspruch auf ihre marktwirtschaftliche Durchdringung durch unwidersprochene Maßnahmen der Privatisierung und des Investitionsschutzes mit Handels- und Zollschranken, nationalen Monopolen, hohen Staatsquoten, Kapitalverkehrskontrollen und staatlicher Sozialfürsorge widersetzen, wurde in der Propaganda der Kriegführung zur Dichotomie einer keine Neutralität erlaubenden Konfrontation zwischen den Kräften der Freiheit und der Zukunft auf der einen und den Kräften der Unterdrückung und Vergangenheit auf der anderen Seite überhöht. Der Impetus der "kreativen Zerstörung", die mit der Wucht des Shock and Awe-Bombardements auf die irakische Bevölkerung losgelassen wurde, sollte alle Blockaden und Hindernisse, die sich der Transformation der irakischen Gesellschaft in eine aus atomisierten Marktsubjekten bestehende und nach den betriebswirtschaftlichen Doktrinen der Global Governance administrierte Zivilgesellschaft widersetzten, unumkehrbar beseitigen.

Das daraus keine blühenden Landschaften entstanden, sondern der Ausnahmezustand von Gewalt und Zwang zur alltäglichen Lebenswelt der Iraker und insbesondere Irakerinnen wurde, war durchaus im Rahmen eines Kalküls, das selbst die Vandalisierung antiker Kulturschätze als akzeptable Begleiterscheinung der neuen Ordnung guthieß. Auch heute haben weder die US-Regierung noch die EU-Staaten Interesse daran, daß der Irak unter verändertem Vorzeichen schiitischer Dominanz zu einem souveränen Akteur in der Region des Nahen und Mittleren Ostens aufsteigt, deren Neuordnung erklärtes Ziel des in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mit kriegerischen Mitteln entfesselten Transformationsdrucks war und ist. Zusätzlich angetrieben wird die machiavellistische Durchsetzung einer Verfügungsgewalt, die als unsichtbare Hand des Marktes scheinbar neutralen, alle Bevölkerungen gleichermaßen begünstigenden Regulationsprinzipien folgt, durch die seit 2008 vollends manifest gewordene Krise des kapitalistischen Weltsystems. Der von ihr entfachten Sachzwangdynamik ordnet sich alles andere nach, was sich unter anderem in der Fortsetzung der globalen Aufstandsbekämpfung gegen die emanzipatorischen Ansprüche eines arabischen Bürgertums als auch der kurdischen Befreiungsbewegung ausdrückt. In beiden Fällen laufen die Versuche, die staatsautoritären Fesseln zu sprengen, Gefahr, von einem Reformislam, der die Gewalten der kapitalistischen Modernisierung aufgesogen hat und sich seinerseits gegen tradierte Formen islamischer Religiosität wendet, ins Abseits gedrängt zu werden.

Die Fortsetzung der kriegerischen Transformation des Nahen und Mittleren Ostens in Libyen und Syrien folgt zwar den Maßgaben der Öffnung dieser Staaten für das westliche Kapital, bedient sich dabei aber jener Kräfte, die nach dem 11. September 2001 so delegitimiert wirkten, daß auch nur ihre befristete Instrumentalisierung für machtpolitische Zwecke ausgeschlossen erschien. Das vermeintlich widersprüchliche Vorgehen, in einigen Konflikten mit den Feinden von gestern eine informelle Kooperation zu betreiben, während man sie an anderer Stelle wie etwa Mali als Ausgeburt des Bösen bekämpft, belegt, daß die zentrale Stoßrichtung des regionalen Krisenmanagements in der entschiedenen Unterdrückung aller sozialen Revolten besteht, die Gefahr laufen, die Hegemonie der NATO-Staaten dauerhaft in Frage zu stellen. Die Entwicklung in Ägypten liefert die Blaupause für die Rekonstitution diskreditierter Stellvertreterregimes in anderem Gewand, aber mit gleicher Absicht, die Erschließung der im Umbau befindlichen Gesellschaften für die Produktionsweisen und Verwertungsinteressen des neoliberalen Kapitalismus zu sichern.

Was aus der Sicht des Jahres 2003 als kriegerische Aggression erschien, gegen den damals weltweit Millionen von Menschen auf die Straße gingen, hat sich 2013 als langfristige Strategie der imperialistischen Unterwerfung jeder Form von selbstbestimmter Gesellschaftsentwicklung überhaupt bestätigt. Was in der Region des Nahen und Mittleren Ostens in offener staatlicher wie terroristischer Gewalt in Erscheinung tritt, zerstört als finanzpolitisches Spardiktat auch diejenigen Gesellschaften, deren demokratisches Selbstverständnis längst nicht mehr so unbeschadet ist, daß die Ohnmacht der dort lebenden Bevölkerungen noch gänzlich unvertraut wäre. Wurde 2003 noch versucht, die oppositionellen Kräfte, die sich gegen die eigenen Regimes stellten, mit der Aussicht auf eine demokratische Nachkriegsentwicklung für die Aggressoren zu gewinnen, so beweist die unterschiedslose Bekämpfung all jener sozialen und säkularen Bewegungen, die das Versprechen auf eine eigenständige Entwicklung einlösen wollen, heute, daß es niemals um das Ziel der "Befreiung" ging.

Die Gesellschaft des Iraks befindet sich in einem dauerhaften, von sozialen, konfessionellen und ethnischen Konflikten befeuerten Ausnahmezustand, die Arabellion in Ägypten und Tunesien wurde in den Griff eines bourgeoisen Islamismus und neuer Finanzdiktate des IWF genommen, die reaktionären Golfmonarchien Saudi-Arabien und Katar fungieren als Wächter der Konterrevolution, in Libyen wurde ein staatsautoritäres System, das viel für die Eigenständigkeit afrikanischer Staaten getan hat und der eigenen Bevölkerung zumindest einen angemessenen Lebensstandard sicherte, durch ein den NATO-Staaten höriges, nicht minder mit Willkür regierendes Regime ersetzt, und in Syrien werden die Möglichkeiten, das Blutvergießen zu beenden und den säkularen Charakter der Gesellschaft über Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu retten, durch die NATO-Staaten systematisch hintertrieben. Die Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Besatzungspolitik erscheint unumkehrbarer denn je, und der Iran bleibt Ziel einer Bedrohung, die alles nur noch schlimmer machen könnte.

Eine Rückschau auf den Beginn des Irakkriegs, die den größeren Zusammenhang der Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens vor dem Hintergrund der Krise des kapitalistischen Weltsystems nicht in den Blick nimmt, bleibt notgedrungen auf dem Stand der Analyse stehen, die schon vor zehn Jahren daran scheiterte, den zentralen sozialen Konflikt, in den alle Akteure verstrickt sind, überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn im Sinne einer präziseren Fragestellung zu entwickeln. Die Klassenblindheit US-amerikanischer wie EU-europäischer Suprematie wird auch in Zukunft dafür sorgen, daß der antagonistische Charakter der globalen Krise unterschlagen und die zu ihrer Bewältigung gefaßten Entscheidungen die herrschenden Gewaltverhältnisse vertiefen werden. Eine emanzipatorische Gegenposition kann demgemäß nicht ignorieren, daß die Reichtümer und Privilegien der eigenen Produktionsweise nicht minder deren globalen Reichweite geschuldet sind als die zerstörerischen Auswirkungen, unter denen die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens seit Jahrzehnten leiden.

22. März 2013