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FRIEDEN/1114: Einmal Gaza und zurück - Investition in größere Gewinne (SB)




Laut einer Meinungsumfrage lehnt die Bevölkerung Israels den Waffenstillstand mit den Palästinensern mehrheitlich ab. Der Krieg sei nicht zu seinem notwendigen Ende geführt worden, scheint auch Israels Außenminister Avigdor Liebermann zu meinen, hatte er doch am lautesten für eine Bodenoffensive der Israelischen Streitkräfte in Gaza getrommelt. Dennoch wurde der Waffenstillstand beschlossen, und das via der ägyptischen Vermittlungsmission, die die Hamas zu einer Gesprächspartnerin der israelischen Regierung machte. Allem Anschein nach erforderte die labile Bündnissituation im Nahen und Mittleren Osten einen opportunistischen Frieden, wäre ansonsten doch die arabische Front gegen Syrien und den Iran in Frage gestellt gewesen.

Der auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gerichtete Fokus hat die maßgebliche Konfrontation in der Region zwischen den NATO-Staaten und dem Iran vorübergehend in den Hintergrund gerückt. Daß das gegen Teheran aufgebaute Bündnis zwischen den arabischen Golfstaaten und der NATO inklusive der Türkei hält, ist der hauptsächliche Grund für die Konzilianz, mit der sich die israelische Regierung und die Hamas handelseinig geworden sind. Hätten die Zerstörungen in Gaza die Ausmaße des Krieges 2008/2009 erreicht oder wären sogar darüber hinausgegangen, dann wäre die Region in die alte, um den Nahostkonflikt zentrierten Frontstellung zwischen Israel und seine westlichen Verbündeten auf der einen Seite und den mehrheitlich muslimischen Staaten auf der anderen Seite zurückgefallen.

Eben daran haben die Regierungen der NATO-Staaten nicht das mindeste Interesse, verringert es doch ihre Handlungsfähigkeit in der Region und verleiht dem Aufstand, der Ende 2010, Anfang 2011 in Tunesien und Ägypten gegen die postkolonialen Despoten Ben Ali und Hosni Mubarak losgebrochen ist, neue Brisanz. Indem der soziale Charakter der Revolte durch die geostrategischen Ambitionen der NATO in Libyen und Syrien in den Dienst des neoliberalen Demokratismus gestellt wurde, wurde auch der Boden für den Aufstieg der Muslimbrüder als neue Sachwalter westlicher Interessen in der Region gelegt. Das zumindest potentiell vorhandene Interesse der tunesischen und ägyptischen Bevölkerung an einer Umwälzung der bürgerlichen Eigentumsordnung und kapitalistischen Produktionsverhältnisse wäre das einzige Bewegungsmoment gewesen, daß den Einfluß imperialistischer Kräfte auf ihre Gesellschaften unumkehrbar hätte beseitigen können.

Die soziale Revolution schon in ihrem ungeborenen Keim zu ersticken war denn auch erste Pflicht der humanitären Interventionisten, um die Hegemonie der NATO-Staaten über die Region zu sichern. Der Versuch des ägyptischen Präsident Mohammed Mursi, sich als Freund Israels für die vorübergehende Befriedung des Nahostkonflikts unentbehrlich zu machen, findet seinen tieferen Sinn in der Ermächtigung zum neuen Pharao in Kairo. Mursi hält den sozialen Widerstand in Ägypten, das als bevölkerungsreichster Staat der arabischen Welt Katalysator für Veränderungen in der ganzen Region sein könnte, in Schach und nötigt die bürgerliche Opposition ihrerseits, sich mit den NATO-Staaten gutzustellen. Die Aufforderung Mohammed El Baradeis an die US-Regierung, Mursi die Unterstützung zu entziehen, kann nur dann Erfolg haben, wenn er sich seinerseits zum Garanten westlicher Hegemonie in Ägypten und darüberhinaus macht, also jegliches Bündnis mit revolutionären, antikapitalistischen wie antiimperialistischen Kräften aufkündigt.

Indem sich die Hamas von Syrien und dem Iran ab- und Katar und Saudi-Arabien zuwendete, beschreitet sie einen ähnlichen Weg wie die ägyptischen Muslimbrüder, aus denen sie hervorgegangen ist. Der Kredit ihrer Glaubwürdigkeit als Verfechterin palästinensischer Interessen ist inzwischen weit größer als der der Fatah unter Präsident Mahmud Abbas, und er kann dafür eingesetzt werden, sich als Verfechterin einer bürgerlich-islamischen Ordnung nach dem Vorbild der türkischen AKP-Regierung gegenüber den NATO-Staaten zu empfehlen. Diesen sind autokratische Muslimbrüder eine weit verläßlichere Größe als eine von Schülern, Studenten und Arbeitern getragene soziale Bewegung, die nicht nur alle vier Jahre ihr Kreuz an der Wahlurne, sondern die eigene Oligarchie wie deren internationale Partner für das soziale Elend im eigenen Land haftbar machen will.

So wurde dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu zwar ein Bauernopfer abverlangt, doch das verhilft ihm zumindest dazu, gegenüber rechtsnationalistischen Revanchisten in der eigenen Partei wie in der Knesset eine gute Figur zu machen. Im größeren Entwurf der Formation antagonistischer Kräfte wird die israelische Regierung auch in Zukunft die Rolle eines Jokers einnehmen, von dem man nie genau weiß, wann und zu welchem Zweck er ausgespielt wird. Als Variable in der empfindlichen Kräftekonstellation der Region ist ein solcher Trumpf von nicht geringem Wert, denn er kann jederzeit dazu eingesetzt werden, eine der europäischen und US-amerikanischen Hegemonie ungünstige Entwicklung zu torpedieren. Zwei Jahre nach Beginn der Arabellion ist es gelungen, den unberechenbaren Charakter dieser Entwicklung zurück ins Gleis geopolitischer Spaltungsstrategien und Tauschgeschäfte zu führen. Wie unübersichtlich künftige Versuche sein werden, die Machtfrage auf der Straße zu stellen, belegt die an einen Bürgerkrieg grenzende Situation in Ägypten. Sie wurde erfolgreich zurück in die Hände der Herrschenden gelegt, die sie längst in ihrem Sinne beantwortet haben und sich nicht nehmen lassen wollen, was Oligarchen und Funktionseliten ganz unabhängig davon, unter welcher ideologischer Fahne sie segeln, zusteht.

26. November 2012