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FRIEDEN/1100: Weder Land noch Frieden für die Palästinenser (SB)



Ein menschenwürdiges Leben der Palästinenser setzt eine Friedenslösung im Nahostkonflikt voraus. Daß ein Friedensschluß alles sei, was den Menschen in den besetzten Gebieten zu ihrem Glück fehlt, ist indessen eine jahrzehntelang praktizierte Doktrin der Delegitimierung palästinensischen Widerstands und Rechtfertigung der Okkupation. In Aussicht gestellte Friedensverhandlungen hängen den Palästinensern eine Karotte vor der Nase, mit der man sie hinhält und in jede gewünschte Richtung lenkt. Während man ihnen diktiert, daß Friedensgespräche nur ohne Vorbedingung möglich seien, geht Israel von nicht verhandelbaren Positionen aus und schafft mit dem Siedlungsbau unablässig Fakten auf dem Boden.

Als Mahmud Abbas bei den Vereinten Nationen den Antrag auf Aufnahme des Palästinenserstaats als Vollmitglied stellte, suchten dies Israel und seine Verbündeten unter Druck und Drohungen zu verhindern. Nur bilaterale Verhandlungen könnten eine Friedenslösung herbeiführen, hielt man den Palästinensern entgegen, während jeder einseitige Schritt kontraproduktiv sei und Sanktionen nach sich ziehe. Da der spektakuläre Akt nicht zu verhindern war, bemüht man sich nun um Schadensbegrenzung und setzt auf die Mühlen der UN-Administration, die das Vorhaben drehen, wenden und schließlich zermahlen sollen. So ließe sich aus der Not palästinensischer Unbotmäßigkeit die Tugend ihrer um so nachhaltigeren Befriedung und Schwächung machen: Sie haben ihren Auftritt gehabt, und nichts ist passiert. Das sollte geeignet sein, sie auf Jahre hinaus zu lähmen.

Wenn Angela Merkel in einem Telefonat mit dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu dessen Vorgehen in ungewohnt scharfen Worten kritisiert, so nicht deshalb, weil die Bundeskanzlerin plötzlich ein Herz für die Palästinenser entdeckt hätte. Bedingungslose Unterstützung Israels ist und bleibt Bestandteil deutscher Staatsdoktrin. Das schließt im Zweifelsfall die Rüge nicht aus, die Regierung in Jerusalem möge den Sack, in den man die palästinensischen Anliegen gerade steckt, nicht auch noch triumphierend schütteln und damit das Befriedungsmanöver gefährden.

Wie die Kanzlerin laut Regierungssprecher Steffen Seibert deutlich machte, fehle ihr "jegliches Verständnis" für die Genehmigung eines Bauprojekts im Jerusalem. Beide Konfliktparteien müßten "Abstand von provokativen Handlungen" nehmen. Die Genehmigung des Baus von mehr als tausend neuen israelischen Wohnungen in Jerusalem habe Zweifel daran geweckt, daß Israel an ernsthaften Verhandlungen interessiert sei. Diese Zweifel müßten nun ausgeräumt werden. Die Kanzlerin habe Netanjahu aufgefordert, so rasch wie möglich Verhandlungen mit Mahmud Abbas über eine Zweistaatenlösung aufzunehmen. [1]

Da sich die Bundesregierung in der Regel um besonders vorsichtige Worte im Umgang mit Israel bemüht, unterstreicht diese ungewohnt deutliche Kritik, wie ungehalten die Verbündeten über die Unverfrorenheit der israelischen Regierung sind, die Zurückhaltung mit Schwäche gleichsetzt, die man sich um keinen Preis gegenüber den Palästinensern leisten dürfe. Der Schritt sei "kontraproduktiv für unsere Bemühungen" hatte zuvor schon die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton gesagt. "Die Siedlungsaktivitäten bedrohen die Durchführbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung", kritisierte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Sie sei "zutiefst enttäuscht", der Plan sollte "rückgängig" gemacht werden. Der britische Außenminister William Hague warnte, der Siedlungsausbau untergrabe "das Grundprinzip Land für Frieden". [2]

In dem fadenscheinigen Zeitplan des Nahostquartetts aus UNO, Europäischer Union, USA und Rußland für direkte Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern ist von einem Baustopp keine Rede. Dieser wird explizit für nachrangig erklärt, da es ohnehin zu einem Gebietstausch kommen müsse und werde. Damit ist die vorgebliche Verhandlungsinitiative deckungsgleich mit den diesbezüglichen Interessen Israels, während sie der von palästinensischer Seite geforderten Einstellung des Siedlungsbaus eine Absage erteilt. Statt den frischen Leim dieses Täuschungsmanövers für eine gewisse Frist stillschweigend aushärten zu lassen, leitet die israelische Regierung daraus den Freibrief ab, unverzüglich fortzusetzen, was sie ohnehin seit Jahren macht: Den Siedlungsbau zu genehmigen und zu subventionieren, um die Enteignung und Verdrängung der Palästinenser voranzutreiben.

So wurde vor wenigen Tagen der Bau von 1100 neuen Wohneinheiten in der Ortschaft Gilo genehmigt, die am Rand des südlichen Teils von Ost-Jerusalem unweit der palästinensischen Stadt Bethlehem liegt. Die harsche internationale Kritik veranlaßte die israelische Regierung, gegenüber ausländischen Journalisten offensiv für die absurde Sichtweise zu werben, wonach Gilo ein "Teil des jüdischen Jerusalems" sei und neue Wohnungen daher kein Problem darstellten. Diese Auffassung wird von niemandem geteilt: Nicht nur für die Palästinenser, sondern auch die UNO und die westlichen Staaten ist Gilo Teil des palästinensischen Ostjerusalems, weshalb jüdische Siedlungen dort als illegal angesehen werden.

Jenseits der "Grünen Linie" von 1967 leben heute rund 500.000 jüdische Siedler in illegalen Siedlungen. Die Siedlung Gilo entstand 1967 im besetzten Ostjerusalem und wurde völkerrechtswidrig annektiert. Saeb Erekat von der Palästinensischen Autonomiebehörde bezeichnete die Baumaßnahme als einen "Schlag ins Gesicht" internationaler Vermittler, die den Frieden in der Region bewahren wollten. Die Regierung Netanjahu habe "alle blamiert", die Israel für einen "Partner für den Frieden" hielten. In der Tat konnte sich das israelische Kabinett bislang nicht auf neue Friedensgespräche einigen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte in der Jerusalem Post, er denke nicht daran, den Palästinensern einen Siedlungsstopp anzubieten, um sie wieder an den Verhandlungstisch zu holen.

Netanjahu setzt offenbar darauf, daß seine Landsleute mehrheitlich mit der Ausgrenzung der Palästinenser durchaus leben können. Das jedenfalls legt eine vielbeachtete Umfrage nahe, deren Ergebnisse zum jüdischen Neujahrsfest am Mittwoch veröffentlicht wurden. Demnach waren zwei Drittel der Befragten der Auffassung, daß es nie Frieden mit den Palästinensern geben werde. Rund 45 Prozent fürchteten um das Überleben Israels als jüdischer Staat. Zugleich bejahten jedoch 88 Prozent die Frage, ob Israel ein guter Ort zum Leben sei. [3] Offenbar hat sich die Doktrin von der unablässigen existentiellen Bedrohung Israels, der man nur mit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen begegnen könne, zum allgemeinen Lebensgefühl verfestigt. Wozu Frieden, wenn es sich auch und gerade so gut leben läßt!

Die für September angekündigte Katastrophe ist ausgeblieben, der "diplomatische Tsunami" fand nicht statt. Premierminister Netanjahu kehrte aus New York mit der Genugtuung zurück, die Gefahr abgewendet zu haben. Die USA haben ihr Veto zugesagt, sollte es den Palästinensern überhaupt gelingen, die erforderlichen neun Stimmen im Sicherheitsrat zusammenzubekommen. Dort ist der palästinensische Antrag an einen Ausschuß weitergeleitet worden, der sich aus Vertretern aller 15 Mitgliedsstaaten des Rates zusammensetzt. Endloser Streit ist vorprogrammiert und wird die Entscheidung auf unabsehbare Zeit hinauszögern.

Überdies herrscht in der israelischen Öffentlichkeit inzwischen das Gefühl vor, US-Präsident Obama wieder voll und ganz im Boot zu haben. Die Abschnitte seiner Rede vor den Vereinten Nationen, die sich auf den Nahostkonflikt bezogen, hätten von einem Vertreter der Regierung in Jerusalem geschrieben sein können. Kein Wort von den Siedlungen, den Grenzen von 1967, der Besatzung oder dem Leid der Palästinenser, statt dessen ausschließlich auf die Sicherheitsinteressen Israels fokussiert. Wie Außenminister Avigdor Lieberman in seltener Einmütigkeit versicherte, könne er Obamas Rede freudig "mit beiden Händen" unterschreiben.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,789487,00.html

[2] http://www.jungewelt.de/2011/09-29/059.php

[3] http://www.nytimes.com/2011/09/29/world/middleeast/surveys-show-israelis-two-sides-pessimistic-but-happy.html

1. Oktober 2011