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FRIEDEN/1082: Unruhen in Tunesien - Folge des permanenten Sozialkampfs (SB)



Solange Vorteilsstreben das Verhältnis der Menschen untereinander bestimmt, gründet sich Reichtum, Wohlstand und Lebensqualität von wenigen auf der Verarmung und existentiellen Not von vielen. Mit den Ordnungskategorien Krieg und Frieden wird dieser weltweit tobende permanente Sozialkampf verschleiert. An manchen Stellen und zu manchen Zeiten hebt sich allerdings der Nebel, dann gehen Menschen auf die Barrikaden und bekommen die volle Wucht des Repressionsapparats zu spüren, der erbittert die alte Ordnung verteidigt.

In Tunesien, einem bis vor kurzem als friedlich geltenden Land, das viele Touristen anzulocken vermochte, brachen vor kurzem schwere Unruhen aus. Dutzende Menschen starben. Als sich die Protestierenden nicht aufhalten ließen, mußte der autokratische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Weite suchen. Nun bemüht sich das alte Regime um Schadensbegrenzung, damit die Wucht der Rebellion aufgefangen und in kontrollierte Kanäle gelenkt wird. Dazu gehört in erster Linie der Versuch des tunesischen Ministerpräsidenten Mohammed Ghannouchi, die Opposition zu spalten und deren genehmen Vertreter an der Macht zu beteiligen.

Möglicherweise geht die Taktik in diesem Fall auf, doch der Keim der Rebellion könnte sich an anderer Stelle erneut Bahn brechen. Zumal ein mangelnder Zugang zu Lebensmitteln mit im Spiel ist. Sowohl in Algerien, wo es ebenfalls heftig brodelt, als auch Tunesien waren Preissteigerungen bei Lebensmitteln einer von mehreren Gründen für die Ausschreitungen, und zu den ersten Eingeständnissen der unter Druck geratenen Regierungen beider Länder gehörte die Senkung der Lebensmittelpreise. Nichts fürchten die Herrschenden mehr als Aufständische, die sich nicht in die alte Ordnung einbinden lassen - und Unruhen aufgrund von Hunger sind aus Herrschersicht am gefährlichsten, weil die Betroffenen nichts mehr zu verlieren haben.

Nun fürchtet sich auch der Präsident Senegals, Abdoulaye Wade, vor einem möglichen Aufstand und ordnete an, die hohen Lebensmittelpreise zu senken. Gleiches gilt für den Sahelstaat Mauretanien. Dort hatte die Opposition am 13. Januar in der Hauptstadt Nouakchott eine Demonstration gegen Armut abgehalten. Am selben Tag forderte Präsident Mohamed Ould Abdel Aziz "dringende Maßnahmen" zur Stabilisierung der Lebensmittelpreise und kündigte an, daß die Preise für Zucker, Milchpulver, Speiseöl und andere Grundnahrungsmittel reduziert werden. Außerdem werde die Regierung Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit ergreifen und helfen, daß die Menschen feste Häuser erhalten, versprach er mit offensichtlich besorgten Blick auf die Proteste in den Maghrebstaaten.

Libyens Staatsführer Muammar al-Gaddafi muß ebenfalls Aufstände in seinem Land fürchten. Deshalb hat seine Regierung vor rund zehn Tagen die Steuern auf Grundnahrungsmittel, zum Beispiel Milch für Kleinkinder, aufgehoben. Ägyptens Regierung wiederum hatte vor rund zwei Jahren Hungeraufstände nur durch eine Senkung der Brotpreise und den Betrieb von Bäckereien durch Soldaten eindämmen können. Wie brisant die Lage im Land der Pharaonen nach wie vor ist, zeigte sich am heutigen Montag, als sich vor dem ägyptischen Parlament ein Mann mit Benzin übergoß und anzündete. Er protestierte dagegen, daß er für sein Restaurant keine Brotzuteilung bekam. Der Mann wurde gerettet.

Vor einigen Wochen brachen in der westsaharischen Stadt El-Aaiún schwere Unruhen aus. Obgleich in diesem Fall die spezifischen Umstände berücksichtigt werden müssen - Marokko war 1975 in Westsahara einmarschiert ist und hält das Land seitdem besetzt -, sind bestimmte Parallelen zu den Unruhen in Tunesien und Algerien nicht zu leugnen: Die Verarmung großer Bevölkerungsteile, im Falle Marokkos gilt dies vor allem für die unterdrückten Sahrauis. Es spricht einiges dafür, daß sie Marokko weniger als Besatzungsmacht ansähen, wenn sie nicht marginalisiert und entrechtet, also als Menschen zweiter Klasse behandelt würden. Deshalb haben die Unruhen in El-Aaiún neben dem politischen vor allem einen sozialen Hintergrund.

Nach jüngsten Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen sind die Preise für Grundnahrungsmittel noch nie so hoch wie bisher gewesen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß der aktuelle Verteuerungstrend noch lange nicht sein Maximum erreicht hat. Der Aufstand in Tunesien könnte den Auftakt zu weltweiten Unruhen aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise bilden. Die Bemühungen der europäischen Politiker und Presse, der revolutionären Bewegung den Titel "Jasmin-Revolution" oder "WikiLeaks-Revolution" zu verleihen, stellt einen Versuch der Einordnung, Befriedung und letztlich Leugnung des revolutionären Potentials dar, das in Tunesien wachgerufen werden könnte.

Wenn in Zeiten des sogenannten Friedens viele hundert Millionen Menschen weltweit hungern und täglich mehr als zehntausend aufgrund von Nahrungsmangel sterben, dann entlarvt sich Frieden als besonders hinterhältige Variante jenes fortgesetzten Vernichtungskriegs, der von einem Teil der Menschheit gegen den Rest der Welt geführt wird. Noch ist in Tunesien offen, ob sich die Aufständischen darin bescheiden, einen Potentaten vom Thron gestoßen zu haben, oder ob sie den Herrschersitz anschließend zertrümmern, sein Fundament zerschlagen und das ganze Gebäude drum herum so gründlich niederreißen, daß es nicht wieder errichtet werden kann.

17. Januar 2011