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FRIEDEN/1079: "Freiheit für Gilad Shalit" - Wulff kennt nur israelische Besatzungsopfer (SB)



Überraschend hat Bundespräsident Christian Wulff das Programm seines Besuches in Israel unterbrochen, um den Eltern des seit über vier Jahren in palästinensischer Haft befindlichen Soldaten Gilad Shalit sein Mitgefühl zu bekunden. Er traf Noam und Aviva Shalit in ihrem Zelt vor dem Jerusalemer Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, wo sie ihre Mahnwache so lange aufrechterhalten wollen, bis ihr Sohn wieder freigelassen wird. Zog Außenminister Guido Westerwelle Anfang November noch ein Treffen mit den Eltern Shalits in einem Hotel vor, so suchte Wulff mit seiner außerplanmäßigen Visite demonstrativ die Öffentlichkeit.

Dieses Engagement für einen Gefangenen, der in der Lesart der deutschen Presse als Geisel der Terrororganisation Hamas firmiert, macht sich in den Augen der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels zweifellos gut. Kaum begeistert dürften die Palästinenser darüber sein, daß Wulff nicht im gleichen Atemzug die Freilassung ihrer in israelischen Gefängnissen sitzenden Angehörigen verlangte. Schließlich handelt es sich dabei laut Angabe der israelischen Regierung um 5847 Personen, von denen sich 213 in Administrativhaft befinden, 147 festgehalten werden und 737 auf ihren Prozeß warten. Nicht enthalten in dieser Zahl sind Strafgefangene, die wegen eines konventionellen Verbrechens verurteilt wurden [1]. Als Opfer der israelischen Besatzungspolitik handelt es sich bei diesen Internierten nicht minder um politische respektive Kriegsgefangene, als es Gilad Shalit ist.

Wenn das Eintreten des Bundespräsidenten für Shalit in der deutschen Presse mit Schlagzeilen wie "Wulff kämpft für israelische Geisel" (Rheinische Post) gelobt wird, sollte nicht nur daran erinnert werden, daß die Leiden tausender palästinensischer Eltern, Kinder, Geschwister und Freunde nicht weniger wiegen als die der Angehörigen Shalits. In Anbetracht der hochgradig emotionalisierten Bedeutung, die die Gefangenschaft des inzwischen 24jährigen israelischen Soldaten für das politische Verhältnis zwischen Israelis und Palästinenser erlangt hat, sollten auch die Umstände seiner Gefangennahme in die Debatte um seine Freilassung einbezogen werden. Sie sind nicht minder signifikant für die Benachteilung palästinensischer Opfer dieses Konflikts durch eine deutsche Öffentlichkeit, die es vorzieht, die Drangsalierung des palästinensischen Widerstands gegen das israelische Besatzungsregime durch Freiheitsberaubung und Folterverhöre zu ignorieren.

Der Angriff palästinensischer Kämpfer auf einen israelischen Militärposten nahe dem an der Südgrenze des Gazastreifens gelegenen Grenzübergangs Kerem Shalom am 25. Juni 2006 erfolgte im größeren Rahmen der Boykottmaßnahmen, mit denen Israel, die USA und EU den Sieg der Hamas bei den palästinensischer Parlamentswahlen im Januar 2006 quittierten. Den "Demokratieverweigerern", wie das Springer-Blatt Die Welt die islamistische Partei anläßlich des Westerwelle-Besuchs in Gaza titulierte, wurde die Demokratie mit Hilfe der diplomatischen Isolierung und des Entzugs der Finanzmittel für die von ihr gebildete Regierung, der Verschleppung zahlreicher ihrer Abgeordneten und Regierungsmitglieder in israelische Haft und der schrittweise verschärften Wirtschaftsblockade Gazas gewaltsam verweigert. Die dazu vorgehaltenen Bedingungen, die die Hamas in ihrem Verhältnis zu Israel zu erfüllen hätte, bevor man ihr Regierungsmandat anerkennen wollte, waren in ihrer Israel nicht reziprok einbeziehenden Einseitigkeit ein allzu durchsichtiges Manöver, als daß sie dieses antidemokratische Vorgehen hätten legitimieren können. Auch die ideologische Fragwürdigkeit des politischen Programms der Hamas kann angesichts dessen, was rechte israelische Regierungspolitiker fordern und praktizieren, kaum als hinreichender Grund für so schwerwiegende Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht einer Bevölkerung erachtet werden.

Schon bald nach dem Angriff auf den israelischen Militärposten, bei dem zwei israelische Soldaten und zwei palästinensische Kämpfer starben, zeigte sich, daß die Vorbereitung dieses vermeintlich überraschend erfolgten Kommandounternehmens kaum unbemerkt geblieben war. Laut der israelischen Tageszeitung Haaretz (28.06.2006) hat eine Untersuchung der Israelische Streitkräfte (IDF) zu dem Vorfall erbracht, daß bereits zwei Wochen vor dem Angriff der acht Palästinenser, die sich dem Militärposten durch einen 600 Meter langen Tunnel genähert hatten, erhöhte Alarmbereitschaft befohlen worden war. Diese Maßnahme erfolgte aufgrund eines Hinweises des Inlandgeheimdienstes Shin Beth, der eigenen Angaben nach eine dezidierte Warnung herausgegeben hatte. Er ging konkret davon aus, daß der Angriff durch einen Tunnel vorgetragen würde, was dazu führte, daß Soldaten damit beauftragt wurden, mit Bohrungen und Grabungen nach einem solchen Bauwerk zu suchen.

Unmittelbar vor dem Angriff am Sonntag, den 25. Juni, hatte die IDF ihre Truppenpräsenz an der Grenze zum Gazastreifen deutlich erhöht, die Präsenz ungepanzerter Fahrzeuge in der Nähe der Grenzbefestigungen verboten und den Grenzübergang Kerem Shalom geschlossen. Die von der IDF-Führung bestrittene Angabe des Inlandgeheimdienstes, man habe den Streitkräften eine recht präzise Vorwarnung gegeben, wurde durch den Panzersoldaten Roi Amitai, der selbst an dem Gefecht mit den Palästinensern beteiligt war, bestätigt. Er sagte gegenüber der Untersuchungskommission aus, daß seine Einheit einen Tag zuvor die Warnung erhalten habe, daß die Palästinenser einen Tunnel grüben, um ihren Grenzposten anzugreifen.

Israelische Militärexperten gingen laut dpa (28.06.2006) davon aus, daß der Angriff "monatelang vorbereitet wurde". Angesichts der hochgradigen Durchdringung der palästinensischen Gesellschaft mit Informanten israelischer Sicherheitsbehörden, der Erklärung Shin Beths und der getroffenen militärischen Vorbereitungen war es kaum vorstellbar, daß die IDF-Führung den Grenzposten nicht weit wirksamer hätte schützen können. Daß es dem palästinensischen Kommando unter diesen Umständen gelang, nicht nur zwei israelische Soldaten zu töten und einen zu verletzen, sondern auch den damals 19jährigen Unteroffizier Gilad Shalit zu entführen, war im mindesten Fall auf ein eklatantes Versagen der israelischen Abwehrmaßnahmen zurückzuführen. In jedem Fall jedoch diente der offensive militärische Charakter des palästinensischen Angriffs dem Zweck, die von der Hamas angeblich ausgehende Gefahr in noch drastischeren Tönen zu beschwören. Daß dem palästinensischen Angriff einen Tag zuvor die Entführung zweier palästinensischer Zivilisten aus dem Gazastreifen durch eine israelische Kommandoeinheit vorausgegangen war, wurde kaum bekannt.

Ob es nun zutrifft, daß, wie die Fatah-Führung verlauten ließ, der politische Führer der Hamas, Khaled Meshal, für den Angriff verantwortlich war, oder ob der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der CDU-Abgeordnete Ruprecht Polenz, mit seiner Einschätzung richtig lag, daß die palästinensische Regierung unter Ministerpräsident Ismail Haniya keinen Einfluß auf die militante Fraktion der Hamas habe, die den Angriff auf den israelischen Militärposten durchführte, auf die gegen die politische Führung und die Bevölkerung Gazas gerichteten Blockademaßnahmen hatte dies keinen Einfluß. Sie wurden, durchaus mitgetragen von deutschen Politikern wie Polenz, ebenso verschärft wie die Angriffe der IDF auf das kleine Gebiet, mit denen, wie die in deutschen Medien vorherrschende Sprachregelung suggerierte, Israel auf den Angriff und die "Entführung" eines Soldaten "reagiert".

Zwischen Anfang Juni und dem Tag des Angriffs auf den Militärposten waren bei israelischen Angriffen auf Gaza 49 Palästinenser getötet und 170 verwundet worden. Zu diesen zählten auch die acht palästinensischen Zivilisten, die am 9. Juni 2006 bei einem israelischen Artillerieangriff am Strand von Gaza umkamen. Daraufhin kündigte die Hamas ihren seit 16 Monaten aufrechterhaltenen einseitigen Waffenstillstand auf und übernahm damit die Verantwortung für die von Gaza auf israelisches Gebiet abgefeuerten Kassamraketen. In den zehn Jahren, in denen diverse palästinensische Organisationen israelisches Gebiet mit mehreren tausend dieser selbstgefertigten Raketen beschossen, sind 23 Menschen in Folge dieser Angriffe gestorben. Da es sich dabei um einen der wichtigsten offiziellen Gründe für israelische Überfalle auf palästinensisches Gebiet wie die äußerst brutale "Operation Gegossenes Blei" handelt, belegt der vergleichsweise geringe Wirkungsgrad dieser Waffen, daß auch dies in erster Linie ein willkommener Vorwand ist, die eigene Annexions- und Besatzungspolitik mit angeblichem Terrorismus zu rechtfertigen.

Am 28. Juni begannen die IDF mit "Operation Sommerregen". Bei dieser großangelegten Militäroffensive wurde gleich am ersten Tag das einzige Elektrizitätswerk Gazas bombardiert und mit schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung außer Kraft gesetzt wurde. Offizielles Ziel des Überfalls war die Befreiung Shalits und die Verhinderung des Beschusses mit Kassamraketen. Die israelischen Angriffe zu Boden und aus der Luft wurden erst vier Monate später mit einem Waffenstillstand eingestellt. International wurden sie wegen des Libanonkriegs, dessen Kampfhandlungen vom 12. Juli bis zum 14. August 2006 andauerten und von der flächendeckenden Bombardierung des Nachbarlandes dominiert waren, kaum zur Kenntnis genommen. Während "Operation Sommerregen" - ein angesichts dessen, daß die ohnehin unzureichende Wasserversorgung der Palästinenser durch gezielte Angriffe auf ihre Zisternen noch mehr als ohnehin schon eingeschränkt war, mehr als zynischer Name - wurden laut UN-Angaben täglich zwischen 200 und 250 Artilleriegranaten in den mit 1,5 Millionen Menschen dicht besiedelten Streifen Landes gefeuert.

Auf israelischer Seite wurden dabei drei Soldaten, einer davon durch eigenen Beschuß, und sechs Zivilisten getötet. Die 402 offiziell bestätigten Todesopfer auf palästinensischer Seite sollen mehrheitlich Kämpfer gewesen sein, wiewohl dies häufig nicht klar zu bestimmen war. Rund 40 israelischen Verwundeten standen über 800 palästinensische Verletzte gegenüber. Die Einbußen an Lebensqualität der ohnehin auf niedrigem Niveau existierenden Zivilbevölkerung Gazas durch den mehrmonatigen Beschuß waren erst recht schwierig zu quantifizieren, sie übertrafen jedoch das, was Bürger Israels durch den Beschuß mit Kassamraketen zu erleiden hatten, bei weitem. Zudem demontierte Israel die politische Führung der Palästinenser, indem sie insgesamt 64 Abgeordnete und Regierungsmitglieder der Hamas einsperrte, von denen einige noch heute in Haft sind.

Die beherzte israelische Journalistin Amira Hass kommentierte damals die in den Medien ausgebreiteten Leiden ihrer von Raketen der Hisbollah betroffenen Landsleute in Nordisrael mit den Worten: "Nehmen Sie das, was die Einwohner des Nordens einen Monat lang durchgemacht haben, mal 1000 und zählen sie die Wirtschaftsblockade, die Unterbrechungen der Strom- und Wasserzufuhr sowie das Ausbleiben von Löhnen hinzu. Das ergibt, wie die Palästinenser im Gazastreifen in den letzten sechs Jahren 'gelebt' haben."

Die bereits erfolgten Versuche zur Befreiung Galid Shalits haben mithin zahlreiche Opfer auf palästinensischer Seite gefordert. Sein persönlich zweifellos leidvolles Schicksal wird im hegemonialen Diskurs der israelischen Regierungsparteien zudem auf eine Weise instrumentalisiert, die die Chancen auf seine Freilassung gerade nicht vergrößert. Zu diesem Ziel trägt auch die Resolution, die Bundespräsident Wulff seinen Eltern übergab, nicht bei. Sie wurde von den Bundestagsfraktionen der Union, SPD, FDP und Grünen verfaßt. Unter dem Titel "Freiheit für Gilad Shalit" wird dessen Freilassung sowie die Respektierung seiner humanitären Rechte durch die Hamas verlangt. In der Debatte am 11. November, in der die Resolution verabschiedet wurde, bezeichnete Ruprecht Polenz den Fall Shalit als "einen Lackmustest für die Anerkennung von Recht und Gesetz und des Völkerrechts durch die Hamas". Christian Lange forderte für die SPD-Fraktion, daß der Bundestag "diese menschliche Katastrophe" nicht einfach ignorieren dürfe, und Rainer Stinner wandte sich für die FDP mit den Worten an die Hamas, daß sie für die Belange des palästinensischen Volkes keine Unterstützung verlangen könne, "solange sie in dieser Weise Politik gegen Israel betreibt" [2]. Keiner der Redner schien es für notwendig zu erachten, darauf zu verweisen, daß die Rechte der Palästinenser permanent nicht nur hinsichtlich der Obstruktion, mit der die israelische Regierung jede Annäherung an eine Zweistaatenlösung torpediert, sondern auch hinsichtlich des ihnen alltäglich zugemuteten Elends mit den Füßen getreten werden.

Die Fraktion der Linkspartei war von den Beratungen zur Resolution ausgeschlossen worden und brachte daher einen eigenen, natürlich abgelehnten Antrag ein. Es blieb ihr überlassen, zumindest daran zu erinnern, daß nach wie vor zahlreiche palästinensische Abgeordnete in Israel inhaftiert seien, und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, "dass die Freilassung von Gilad Shalit auch als humanitäres Zeichen für die Freilassung palästinensischer politischer Häftlinge aufgenommen wird". Wie wortreich deutsche Politiker auch immer bekunden, in diesem zentralen Konflikt vermitteln zu wollen - die von ihnen mehrheitlich bevorzugte Mißachtung palästinensischer Interessen und die von ihnen praktizierte Unterstützung eines völkerrechtswidrigen und menschenrechtsverletzenden Besatzungs- und Annexionsregimes dokumentiert überzeugend, daß sie von anderen Motiven als dem Mitgefühl für das Schicksal ihrer Freiheit beraubter Menschen getrieben werden.

Fußnoten:

[1] http://www.btselem.org/english/statistics/Detainees_and_Prisoners.asp

[2] http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/46-47/EuropaWelt/32239507.html

30. November 2010