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FRIEDEN/1067: EU-Politiker "entdecken" die Not der Bevölkerung Gazas ... (SB)



"EU hofft auf Lockerung der Gaza-Blockade" ... Spiegel Online (14.06.2010) bringt das ganze Ausmaß EU-europäischer Verlogenheit ungewollt in einem Titel seiner aktuellen Berichterstattung unter. Kaum hat der Einsatz beherzter internationaler Aktivistinnen und Aktivisten für die Bevölkerung Gazas weltweite Aufmerksamkeit für die mehrjährige Verwandlung Gazas in ein großes Gefängnis erregt, drehen die EU-Außenminister ihr Fähnchen in den Wind der öffentlichen Meinung und erwecken den Eindruck, als hätte ihnen das Schicksal der Palästinenser schon immer am Herzen gelegen. Der Beauftragte des Nahostquartetts, Tony Blair, dem es seit dem Überfall Israels auf Gaza die Sprache verschlagen hat und der auch vorher nicht dafür bekannt war, sich für die Notlage der Bevölkerung Gazas einzusetzen, lobte die Möglichkeit, statt der Tunnelökonomie bald ein normales Wirtschaftsleben in Gaza einziehen zu lassen. Sein einziger Beitrag zur Verbesserung der Lage in Palästina bestand und besteht darin, neoliberale Grundsätze auf eine politische Zwangslage anzuwenden. Mit seinem Credo, die Freiheit des Kapitals bedinge alle anderen Freiheiten, hat er in Britannien ein sicherheitsstaatliches Überwachungsregime etabliert, mit dem sich jedes Protektorat der Neuen Weltordnung unter Kontrolle halten läßt.

Warum "hoffen" die EU-Außenminister im Falle Israels, wenn sie an anderer Stelle nicht rasch und hart genug handeln können? Wieso hießen sie den Überfall der NATO auf Jugoslawien gut, obwohl die angeblich zu befreienden Kosovo-Albaner nur ein Bruchteil der Unterdrückung und Entrechtung, die den Palästinenser seit Jahrzehnten angetan wird, zu erleiden hatten? Die EU hat sich an der Bundesrepublik Jugoslawien vergangen, weil es der größten Militärallianz der Welt leichte Beute und ein gutes Übungsfeld war. Im Falle Israels sorgen die USA als wichtigster Mitgliedstaat der NATO dafür, daß nicht einmal Sanktionen erwogen werden, um die Durchsetzung von UN-Resolutionen zu erzwingen. Die Regierungen der EU fallen nur wenig hinter diese unverbrüchliche Parteinahme zurück, wie die deutsche Regierung zeigte, als sie weder die Bombardierung des Libanon noch den Überfall auf Gaza verurteilte, dafür aber das Existenzrecht Israels, sprich seine militärische und politische Dominanz, zur Staatsräson erklärte, seine Streitkräfte mit hochwertigen Rüstungsgütern belieferte und das israelische Kabinett im Januar nach Berlin zu gemeinsamen Beratungen einlud.

EU-Außenministerin Catherine Ashton, die bei ihrer letzten Stippvisite in Gaza im März peinlich darauf bedacht war, jeden Kontakt mit der dort regierenden Hamas zu vermeiden, stellte für den Fall, daß die israelische Regierung einverstanden sei, europäische Hilfe bei den Grenzkontrollen zu akzeptieren, in Aussicht, sich daran wieder zu beteiligen. Die EU hatte diese Aufgabe 2005 nach dem Abzug der israelischen Truppen und Siedler aus Gaza übernommen und mit der Überwachung des Grenzübergangs Rafah in erster Linie dem Interesse Israels an umfassender Kontrolle über das Gebiet entsprochen. Konsequenterweise setzte sie diese Beteiligung nach der Machtübernahme der Hamas 2007 mit der Begründung aus, mit der Regierungspartei trotz deren demokratischer Legitimation nicht zusammenarbeiten zu wollen, und ermöglichte so die weitreichende Blockade Gazas auch durch Ägypten.

Dies ist nur eine der Entscheidungen der großen EU-Staaten, die belegen, daß die Blockade Gazas nicht notgedrungen akzeptiert, sondern mit der Begründung, man müsse die Hamas isolieren, politisch unterstützt wurde. Vom Wahlsieg der Hamas Anfang 2006 an hat die EU der palästinensischen Partei abverlangt, gegenüber der israelischen Regierung einseitige Vorleistungen zu erbringen, um überhaupt als legitime Regierung der Palästinenser anerkannt zu werden. Gleichzeitig hieß sie die Annexionsansprüche Israels durch Untätigkeit gut. Die EU setzte diese Politik fort, als die israelische Regierung Dutzende palästinensischer Regierungsmitglieder und Parlamentarier verhaftete und damit den demokratischen Konsens aufkündigte, auf den europäische Politiker sich stets berufen, wenn sie Israel trotz der zahlreichen Verstöße gegen internationales Recht, die sich seine Regierungen leisten, unterstützen.

Kurz nach Bildung der demokratisch gewählten palästinensischen Regierung veröffentlichte die britische Tageszeitung The Guardian (31.03.2006) einen Beitrag des palästinensischen Ministerpräsidenten Ismail Haniya, in dem dieser die Mißachtung der demokratischen Entscheidung der Palästinenser und die Bevorzugung Israels durch die USA und EU scharf verurteilte. Die völkerrechtswidrigen Annexionspläne Israels provozierten keinerlei ähnlich geartete Reaktion des Westens, dennoch würden den Palästinensern Vorleistungen abverlangt:

"Kein Plan wird jemals ohne eine Garantie funktionieren, die im Austausch für ein Ende der Feindseligkeiten auf beiden Seiten gewährt wird: Den vollständigen Rückzug Israels aus dem 1967 besetzten Territorium inklusive Ost-Jerusalems; die Entlassung all unserer Gefangener; den Abzug aller Siedler aus allen Siedlungen; und die Anerkennung des Rechts aller Flüchtlinge auf Rückkehr."

Darin, so Haniya, seien sich alle Palästinenser und insbesondere die PLO einig, deren Wiederbelebung als Interessenvertretung der Palästinenser er als essentiell bezeichnete, womit er unterstrich, keiner isolierten islamistischen Agenda zu folgen. Hamas sei für Frieden und wolle ein Ende des Blutvergießens, das zeige sich auch in der Einhaltung ihres einseitigen Waffenstillstands für über ein Jahr, während man auf israelischer Seite weitere Angriffe durchgeführt habe. Daher sollten die USA und die EU von ihren Forderungen abrücken, die sie an die Hamas-Regierung erheben, denn für die Palästinenser ändere sich nichts, wenn sie zuließen, daß die israelische Regierung ihre Annexionspläne durchsetze:

"Wir werden unserem Kampf, unsere Gebiete und unsere Freiheit zurückzuerlangen, verpflichtet bleiben. Friedliche Mittel werden eingesetzt, wenn die Welt willens ist, sich in einem konstruktiven und gerechten Prozeß zu engagieren, in dem wir und die Israelis gleich behandelt werden. Wir sind krank und müde von der rassistischen Herangehensweise des Westens an den Konflikt, in dem die Palästinenser als niedrigstehender betrachtet werden. Obwohl wir die Opfer sind, bieten wir unsere Hände in Frieden an, aber nur einen Frieden, der auf Gerechtigkeit gründet. Wenn die Israelis jedoch damit fortfahren, unsere Bevölkerung anzugreifen und umzubringen, ihre Häuser zu zerstören, Sanktionen zu verhängen, uns kollektiv zu bestrafen und Männer und Frauen dafür einzusperren, daß sie ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen, haben wir jedes Recht, darauf mit allen verfügbaren Mitteln zu reagieren."

Dies sei "eine gute Zeit, Frieden zu schließen - wenn die Welt Frieden will", schrieb Haniya abschließend. Bezeichnenderweise erfahren die Bundesbürger, gegenüber denen die Kollektivbestrafung der Bevölkerung Gazas mit der Einstufung der Hamas als terroristische Organisation legitimiert wird, von den Friedenssignalen hochrangiger Hamas-Politiker so gut wie nichts. Auch deshalb achtet die Bundesregierung darauf, keine Politiker dieser Partei einreisen zu lassen, wie im aktuellen Fall einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Bad Boll, zu der der Gesundheitsminister der Hamas-Regierung in Gaza, Dr. Basem Naim, eingeladen war [1].

Obwohl die Bringschuld im Friedensprozeß im völkerrechtlichen Sinne auf Seite Israels liegt, insistiert die EU bis heute darauf, daß die Hamas der israelischen Regierung Zugeständnisse macht. Schon über ein Jahr vor der Entmachtung der Fatah-Funktionäre in Gaza, die im Vorgriff auf einen erwarteten, von den USA miteingefädelten, gegen die Hamas-Regierung gerichteten Umsturzversuch erfolgte [2], beteiligte sich die EU an der Demontage der palästinensischen Regierung. Sie strafte sie mit einem Finanzboykott ab und schürte den allgemein als innerpalästinensischen Machtkampf betrachteten Konflikt zwischen Fatah und Hamas durch einseitige Parteinahme für erstere kräftig.

Bereits 2006 kam es zu schwerwiegenden Angriffen Israels auf die Bevölkerung Gazas, die im Schatten des Libanonkriegs allerdings kaum wahrgenommen wurden. Bei der Operation "Sommerregen", die vom 25. Juni, dem Tag der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit durch ein Palästinenserkommando, das den häufigen Übergriffen israelischer Soldaten mit einem eigenen Angriff entgegengetreten war, bis Anfang August 2006 durchgeführt wurde, starben mehr als 260 Palästinenser, darunter 64 Kinder und 26 Frauen. 1200 Palästinenser wurden durch israelischen Waffeneinsatz verwundet, davon ein Drittel Kinder. Zwei Elektrizitätswerke, zwei Ministerien und mindestens 120 Gebäude, darunter Produktionsanlagen und Gewächshäuser, wurden durch israelische Granaten und Bomben zerstört. Die Mehrheit der Bevölkerung Gazas hatte keinen Zugang zu fließendem Trinkwasser mehr. Laut UN-Angaben wurden täglich zwischen 200 und 250 Artilleriegranaten in das dicht besiedelte und schon damals fast vollständig abgeschlossene Gebiet hineingefeuert und mindestens 220 Bombenangriffe geflogen. Die israelische Journalistin Amira Hass schrieb angesichts der in den Medien beklagten Leiden ihrer Landsleute in Nordisrael:

"Nehmen Sie das, was die Einwohner des Nordens einen Monat lang durchgemacht haben, mal 1000 und zählen sie die Wirtschaftsblockade, die Unterbrechungen der Strom- und Wasserzufuhr sowie das Ausbleiben von Löhnen hinzu. Das ergibt, wie die Palästinenser im Gazastreifen in den letzten sechs Jahren 'gelebt' haben."
(www.informationclearinghouse.com, 16.08.2006)

Diese Politik wurde von der Europäischen Union und der Bundesrepublik aktiv unterstützt. Kritische Zwischentöne, zu denen es auch in europäischen Regierungskreisen kam, lösten niemals eine öffentliche Debatte über die Kollaboration der EU mit der israelischen Besatzungs- und Annexionspolitik aus. Die damit verbundene Doppelbödigkeit eigener Wertansprüche sollte nicht thematisiert und die Generallinie einer fast bedingungslosen Akzeptanz israelischer Politik nicht in Frage gestellt werden. Nun also hofft die EU auf eine Lockerung der Gaza-Blockade. An schlechten Gründen dafür mangelt es nicht ... um schlimmeres wie eine völlige Aufhebung und die Forderung nach Erfüllung der legitimen Ansprüche der Palästinenser durch Israel zu verhindern, um sich Rückendeckung für die aggressive Linie zu verschaffen, die die EU gegenüber dem Iran einschlägt, um die Kriegführung in Afghanistan zu legitimieren, um nur einige zu nennen.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/frie1062.html

[2] http://www.vanityfair.com/politics/features/2008/04/gaza200804

15. Juni 2010