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THEORIE/179: Begrenzte Weltbilder (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 156/Juni 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Begrenzte Weltbilder

Politische Theorie muss gegen Vereinfachungstendenzen für Komplexität werben

von Roland A. Römhildt


Kurz gefasst: Orientierungssuche und die Zuflucht in statischen Grenzvorstellungen sind verbreitete Reaktionen auf die Komplexität der modernen Gesellschaft. Bei einem als populistisch gekennzeichneten Denken geht es meist um nationale Grenzen, bei Nachhaltigkeitskonzepten um globale Wachstumsgrenzen. Politische Theorie hat die Aufgabe, solche Vereinfachungen zu hinterfragen, den Sinn für Komplexität zu schärfen und damit eine andere Sicht auf die Potenziale demokratischer Politik zu befördern.


Der Begriff der "Grenzen des Wachstums" ist seit dem gleichnamigen Buch von 1972 aus der öffentlichen Diskussion nicht wegzudenken. Nachhaltigkeitskonzepte sind eine Reaktion auf diese und andere Grenzen, auf das Ende einstiger Selbstverständlichkeiten. Die Vereinten Nationen etwa haben sich im Jahr 2015 mit den Nachhaltigkeitsentwicklungszielen einen "Weltzukunftsvertrag" (so die Diktion der Bundesregierung) mit 17 Ober- und 169 Unterzielen gegeben, der ökonomischen, ökologischen und menschlichen Grenzen Rechnung tragen soll. Doch auch von anderen Grenzen ist in jüngerer Zeit vermehrt die Rede; nicht globaler Natur und zum Wohle einer angeblichen Weltgemeinschaft, sondern konkret-national gedacht: Nationalismen und Populismen haben einmal mehr Konjunktur.

Nachhaltigkeit und Populismus - beide Phänomene scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Ihre Plausibilität und Verbreitung können aber als Folgen einer Grundsituation gelesen werden: Tradierte Deutungs- und Handlungsmuster werden mit einer alle Grenzvorstellungen radikal relativierenden Weltgesellschaft konfrontiert. Diese Gesellschaft ist durch Komplexität gekennzeichnet, also die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster, sich häufig widersprechender, in sich geschlossener Weltbilder und ihrer Handlungslogiken. Alte Gestaltungs- und Vergemeinschaftungsideale stehen somit in Frage und mit ihnen viele vormalige Gewissheiten wie Lebensstandard, Sicherheit, Identität.

Bei allen Nachhaltigkeitskonzepten werden Grenzen betont: Grenzen der Ressourcen, der menschlichen Belastbarkeit und vieler anderer Faktoren. Begrenztheit braucht Mitte und Maß, so das Mantra des globalen Nachhaltigkeitsdiskurses. Es zieht aus ideengeschichtlichen Bezügen mindestens bis Aristoteles seine Plausibilität. Die Präambel der UN-Nachhaltigkeitsentwicklungsziele formuliert, dass jeder ökonomische, soziale und technische Fortschritt mit der Natur harmonieren muss. Harmonie aber erfordert ein eingegrenztes Gleichgewicht. Noch die radikalsten Nachhaltigkeitskonzepte - etwa die Umkehrung von Wachstum, also degrowth - setzen voraus, dass Komplexität gemeinwohlorientiert hin zu einem stimmigen Ganzen aufgelöst werden soll. Selbst Nachhaltigkeitskritik wird meist im Horizont dieser Prämisse entfaltet.

Ähnlich funktionieren neuere Populismen. 2015 erregte eine Studie Aufsehen, die zeigte, dass bei weißen US-Amerikanern zwischen 45 und 54 Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung ab- und Krankheitsfälle zugenommen haben - ein einmaliger Trend in reichen Industrieländern. Als Ursache machen Anne Case und Angus Deaton die Angst vor sozialem Abstieg und deren sozialstrukturelle Folgen - zum Beispiel Medikamenten- und Drogenmissbrauch - aus. Für den Wahlerfolg Donald Trumps spielten nach Meinung vieler Beobachter solche Ängste eine entscheidende Rolle. Eine europäische Vergleichsstudie sprach jüngst eine ähnliche Sprache: Ängste vor den Folgen der Globalisierung, konkret vor allem vor Migration und einer Entfremdung im eigenen Land, sowie wirtschaftliche Sorgen seien die stärksten Antriebe für die Wahl populistischer Parteien linker und mehr noch rechter Couleur. Bei aller Vorsicht vor einer vermeintlichen Eindeutigkeit von Zahlen zeigen beide Studien: Unübersichtliche gesellschaftliche Entwicklungen destabilisieren Lebensentwürfe und rufen Ängste vor sozialem Abstieg hervor, besonders bei der unteren Mittelschicht. Entscheidend sind dabei weniger letztlich nicht prüfbare tatsächliche Gefühlslagen, sondern die kommunizierte und damit sozial anschlussfähige Chiffre der Angst. Sie fungiert als wesentliche Basis populistischer Formeln nationalgemeinschaftlicher Renaissance. Der Bezug auf das Wahlvolk (populus) und seine Belange ist für demokratische Politik Gebot, auch wenn er oft floskelhaft wirkt. Populismus reduziert dies jedoch auf Politik mit und durch Angst und tritt ihr nicht inhaltlich entgegen. Indem er diffuse Ängste und Überforderungen auf das Außen einer begrenzt gedachten Gemeinschaft leitet, überdeckt er die Brüchigkeit eigener Identität, die Verwobenheit vermeintlich eigener Größe mit äußeren Faktoren und historischen Zufällen.

Der Vergleich zeigt, dass die Attraktivität von Nachhaltigkeitskonzepten wie von populistischen Argumentationen offensichtlich in ihren radikal schematisierenden Komplexitätsverkürzungen liegt. Gegen scheinbare Beliebigkeit spiegeln sie Begrenz- und Kontrollierbarkeit vor. Sie bieten klare Orientierung. Vorstellungen von klar geordneter, überschaubarer Sozialität werden also nicht einfach unzeitgemäß, wenn die Verhältnisse komplexer werden - im Gegenteil. Der Philosoph Carlo Strenger beklagte kürzlich in einem Essay, Glück werde zunehmend als selbstverständliches Recht begriffen und nicht als abenteuerliches Ringen um Freiheit. Nüchterner formuliert: Nach wie vor dominiert die Denkweise, Menschen könnten mit dem richtigen Wissen und Willen gerüstet ambivalente oder bedrohlich wirkende Entwicklungen gemeinschaftlich immer zu ihrem Vorteil gestalten. Seien es ökologische Schäden durch menschliche Aktivität, die Verhinderung extremistischer Gewalt, der Abbau sicherer Arbeitsplätze oder die Herausforderungen globaler Migrationsströme: Komplexität ist von dieser Warte aus eine Unannehmlichkeit, die sich, zumindest prinzipiell, beheben lässt. Implizit schwingt dabei die tradierte Idee mit, dass das gute Leben - prosaischer: das Gemeinwohl - einzulösende Pflicht einer Gemeinschaft sei. Was aber, wenn dies nicht gleichbleibend und garantiert umsetzbar ist? In Ermangelung überzeitlicher Wahrheiten einer schlechthinnigen Vernunft muss Gemeinwohl eine offene Kategorie bleiben. Nachhaltigkeitskonzepte und Populismen verkörpern ein dieser Erkenntnis entgegengesetztes Weltbild. Es suggeriert selbst Wandel als kontrollier- und auf einen stabilen Status quo fixierbar. Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat dieses Denkmuster bereits vor 60 Jahren im Motto der Protagonisten seines Romans "Der Leopard" zusammengefasst: "Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert." Selbstverständlich setzt die Bildung von Sozialsystemen und alltäglichen Orientierungsmustern eine gewisse Stabilität trotz kontinuierlichen Wandels voraus. Diese kann heute jedoch nicht dauerhaft-statisch und eindimensional gedacht werden. Vielmehr muss von einer dynamisch-evolutiven Grundsituation ausgegangen werden, in der Bestandsgarantien oder garantiert stimmige Ergebnisse höchstens die Ausnahme bilden.

Gerade dieser Mangel an Kontinuität und Konsistenz ist offensichtlich und zugleich ernüchternd. Wenn er weder mit ideologischen Verkürzungen à la Neoliberalismus oder Multikulti belegt noch bloß resignativ aufgenommen werden soll, bleibt zu erkunden, inwiefern Begrenzung in gesellschaftlichen Prozessen erfolgt und Orientierung möglich ist. Dass die genannten Begrenzungsbestrebungen weitgehend an die Politik dirigiert werden, wirft gewichtige Fragen zur Problemlösungskapazität demokratischer Politik auf. Politische Theorie ist folglich besonders herausgefordert, Einordnungshilfen in der Unübersichtlichkeit anzubieten. Doch auch für sie gilt die Unmöglichkeit einheitlicher Lösungen. Sie muss demgemäß die vielfachen Grenzkomplexe in ihrer Ambivalenz herausarbeiten. Beispielsweise kann sie vor zu eindeutigen Erwartungen an Politik warnen: Seit ihrer Entstehung bei den Griechen bedeutet demokratische Politik, also nicht bloß machtbasierte Herrschaft, das Management von Nichtwissen. Sie kennt keine letzte Gewissheit, beseitigt Komplexität nicht, sondern reduziert sie temporär. Demokratische Entscheidungen sind vorläufig, das heißt zukunftsoffen. Sie können daher nie letztgültig das Gemeinwohl für alle festsetzen oder gar garantieren. Statische Grenz- und Wahrheitskonzepte vertragen sich nicht mit dieser Offenheit, in der nur die Alternativität aller Denkmuster wirklich alternativlos ist. Eine heroische Auffassung von Politik, die aufs große Ganze zielt, ist zudem nicht nur inkompatibel mit der Demokratie. Sie zerbricht auch an den multiplen Vernünften der Moderne. Dieser Plural impliziert weder Prinzipienlosigkeit noch Beliebigkeit. Er bildet vielmehr die heutige Vielzahl von Denk- und Handlungslogiken ab, in denen eine Absicht nicht per se richtig ist. Die Herausforderung ist deshalb, Komplexität nicht einfach als Bedrohung zu verstehen, sondern als ambivalente Kraft, als Bedingung der Strukturvielfalt und Freiheiten moderner Gesellschaft, die erst noch richtig zu entdecken und zu nutzen wäre. Hierfür bedarf es neuer Beschreibungsansätze.

Ralf Dahrendorf formulierte treffend: "Mit Komplexität leben zu lernen - das ist vielleicht die größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung." Wissenschaft ist nicht gleich Bildung, trägt aber dazu bei, auf den ersten Blick gefällige vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen, indem sie einen hinterfragenden zweiten Blick wirft. Als "Verunsicherungswissenschaft" (Holger Zapf) kann Politische Theorie insofern auf die Begrenztheit jeder (politischen) Grenzvorstellung hinweisen, ob global, national, theoretisch oder empirisch. Sie sollte darauf bestehen, dass mehr und nicht weniger differenziert werden muss, bevor dann, im Bewusstsein der Revidierbarkeit, entschieden und gehandelt wird. Die Qualität von Handlung ist an den Konsequenzen für Strukturen und nicht an der Motivation messbar: Eröffnen sich neue Anschlussoptionen? Ermöglichen die Strukturen, dass weiter demokratisch entschieden und von der Autonomie Einzelner ausgegangen werden kann? So nachvollziehbar es daher ist, eindeutige politische Gesten und Taten des Kümmerns zu fordern, so sehr verkürzt es. Denn dabei wird vorschnell von der Illusion ausgegangen, die Welt müsse doch, wenn man nur lange genug hinschaue und an den richtigen Schrauben drehe, einer letzten, für alle ersichtlichen Vernunft gehorchen.

Eine unheroische Absage an eindeutig ein- und begrenzende Politik und Patentlösungen ist nicht gefällig, aber gerade das ist ihr Potenzial: Die nüchtern-ehrliche Abkehr von Reduktionismen kann ein besseres Verständnis und größere Ehrlichkeit in Bezug auf Pluralität in Zeiten der globalen Moderne bedeuten. Es wäre nämlich fatal, sich angesichts der Dämpfer, die Populismen hier und da derzeit erleiden mögen, in Sicherheit zu wiegen und zu glauben, alte Vernunft in neuem Gewand sei die Lösung. Gleiches gilt für Nachhaltigkeit. Veröffentlichungen wie der lazy person's guide to saving the world der UN gaukeln scheinbar einfache Rezepte nach dem Muster tradiert eindimensionaler Lösungen vor: Es müssen nur alle mitmachen, dann wird alles gut. Beide Male werden nur Symptome angegangen, die bedenkliche Potenziale bleiben.

Stattdessen ist bei der Reaktion auf ökologische Krisen, Klimawandel, Artensterben, Wohlstandsverlust oder -gefälle, Migration, Terror und in unzähligen weiteren Fällen mit der Komplexität - also auch Widersprüchlichkeit - von Gesellschaft zu rechnen. Ein kollektives Zusammenraufen in festgesteckten Grenzen auszurufen, schiebt Ernüchterung oder gar Enttäuschung und Wut nur auf.

Deshalb ist die Arbeit an Übersetzungen zwischen multiplen Vernünften und Weltbildern dringend nötig, auch wenn solche Übersetzungen sicher nie eins zu eins möglich sind. Demokratietheorie, die Komplexität ernst nimmt, muss entsprechende Konzepte zu erkunden beginnen, statt normativ zu pauschalisieren. Die große Herausforderung ist, solch komplexe Überlegungen zu Komplexität möglichst attraktiv, zumindest aber plausibel und breit anschlussfähig zu machen. Doch bevor die Sozialwissenschaften und auch andere Wissenschaftsgebiete Alltagstaugliches hierzu beitragen können, müsste wohl vielfach auch in ihnen zunächst ein Umdenken einsetzen.


Roland A. Römhildt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Global Constitutionalism. Er promoviert in Politischer Theorie am Geschwister-Scholl-Institut München zu einer Untersuchung der Anschlussfähigkeit von Nachhaltigkeitsfiguren in der Politik und wird von der Hanns-Seidel-Stiftung aus Mitteln des Bundes gefördert.
roland.roemhildt@wzb.eu


Literatur

Benson, Melinda Harm / Craig, Robin Kundis: "The End of Sustainability". In: Society & Natural Resources, 2014, Vol. 27, No. 7, S. 777-782.

Case, Anne / Deaton, Angus: Rising morbidity and mortality in midlife among white non-Hispanic Americans in the 21st century. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015, Jg. 112 H. 49, S. 15078-15083.

Dahrendorf, Ralf: Acht Anmerkungen zum Populismus. 18.9.2007. (Zuerst publiziert in Transit 25, 2003.)
Online: http://www.eurozine.com/ acht-anmerkungen-zum-populismus/
(Stand 15.05.2017).

Nassehi, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann 2015.

Schimank, Uwe: "Nur noch Coping: Eine Skizze postheroischer Politik". In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2011, Jg. 21, H. 3, S. 455-463.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 156, Juni 2017, Seite 35-37
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2017

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