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THEORIE/172: Internationale Arbeitsteilung und Globale Gerechtigkeit (ROSA)


ROSA:37 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - September 2008

Internationale Arbeitsteilung und Globale Gerechtigkeit

Von Nikita Dhawan


Der Fokus auf die Situation postkolonialer Migrierten birgt die Gefahr die prekären Verhältnisse Subalterner zu verdecken. Deren Unzulänglichkeit zu politischen Diskursen stellt dadurch auch die Frage der Solidarisierung neu.


Das akademische Interesse bezüglich postkolonialer Theorie im deutschsprachigen Raum liegt gegenwärtig bei Themen wie eurozentrischer Migration, Rassismus, kritischer Weissseinsforschung und Multikulturalismus mit hauptsächlichem Fokus auf die Bedingungen postkolonialer Migrierten.

Die koloniale Kontinuität der Migrationspolitik im europäischen Raum oder Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, die Teil des Alltags von Migrierten darstellen, sind Themen, die dringend angesprochen werden müssen. Die Verbindung von postkolonialer Kritik und Migrationsforschung zeigt sich vor diesem Hintergrund als äusserst bedeutend. Anschliessend an W.E.B. Du Bois, der ausführte, dass das Problem des 20. Jahrhunderts das Problem der color-line(1) ist, haben sich besonders Denker wie Edward Said, Paul Gilroy, Stuart Hall und Homi Bhabha auf Themen des postkolonialen Rassismus und der kulturellen Differenz fokussiert.

Die postkoloniale Feministin Gayatri Chakravorty Spivak verkompliziert die augenscheinliche Beziehung zwischen postkolonialer Kritik und antirassistischer Politik, indem sie davor warnt, die Frage der Postkolonialität generell und der Subalternität im Besonderen auf metropolische Räume zu beschränken. Sie betont, dass migrantischer Aktivismus zwar sehr wichtig ist (zum Beispiel untersucht sie selber die Subalternisierung nicht dokumentierter Migrierten im Norden), gleichzeitig warnt sie jedoch davor, den gegenwärtigen Neokolonialismus im Wesentlichen über die Kolonisierung der postkolonialen Migrierten innerhalb der Metropolen zu betrachten, da dadurch die Frage der internationalen Arbeitsteilung ausgeblendet wird. Interessanterweise revidiert Du Bois später seine Äusserung und fügt hinzu, dass es ein grösseres Problem als das der color-line gibt, ein Problem, das diese gleichzeitig verschleiere und implementiere, nämlich die Arbeitsfrage. Spivak ergänzt diese Aussage, indem sie argumentiert, dass die Geschlechtergrenze das grösste Problem des einundzwanzigsten Jahrhunderts darstellt.


Postkoloniale Diasporas und die Frage der Subalternität

Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe(2), sind die oft gestellten Fragen bezüglich der Relevanz postkolonialer Theorie im deutschsprachigen Kontext redundant, da sie eine der fundamentalsten Prämissen der postkolonialen Theorie übersehen, nämlich dass nicht nur Länder wie Bangladesch und Brasilien postkolonial sind. Auch Länder wie Thailand und Iran, die nie (formell) kolonialisiert wurden, sind von Kolonialismusprozessen tief durchdrungen. Aufgrund unserer, wie Shalini Randeria sie nennt, "entangled histories", ist es unmöglich postkoloniale Analysen auf nationale Grenzen zu beschränken, da diese Grenzen selber ein Produkt kolonialer Diskurse sind. Deshalb leugnet beispielsweise die blosse Frage: "Spricht die Subalterne Deutsch?"(3) die Funktionsweise der internationalen Arbeitsteilung, indem versucht wird, die postkoloniale Kritik im Globalen Norden zu verorten - und dabei darauf zu reduzieren. Gleichzeitig festigt der Rahmen dieser Frage einmal mehr einen methodischen Nationalismus und dadurch nationale Grenzen. Das oft (einfache) Verständnis der 'Migrierten-als-Subalterne' riskiert Spivaks nuancierten Begriff der 'Subalterne' zu vereinfachen:

"Es geht um Menschen, die keine Kenntnis darüber haben dürfen, dass es einen öffentlichen Raum gibt und dieser ihnen als BürgerInnen etwas schuldig ist. Wenn Menschen für ihre Rechte eintreten, sind sie nicht subaltern."(4)


Entwicklungspolitiken und Neo-Kolonialismus

Spivak warnt, dass die ruralen und indigenen Subalternen heute zu ignorieren eine unwissentliche Fortsetzung des imperialistischen Projekts bedeutet. Die gegenwärtige internationale Arbeitsteilung ist eine Verlagerung des territorialen Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Mit der sogenannten Dekolonialisierung und dem Wachstum eines multinationalen Kapitals - anstelle des Transferierens von Rohmaterial zur Metropole - dient die Beibehaltung internationaler Arbeitsteilung der Bereitstellung günstiger Arbeitskraft in der Peripherie. Eine internationale Lohnverarbeitung und minimale Subsistenzansprüche der Arbeitenden stellen sicher, dass die Arbeit in der 'Dritten Welt' billig bleibt.

Nicht gewerkschaftlich organisierte und andauernd informelle Frauenarbeit ist die Hauptstütze des gegenwärtigen Welthandels. Diese Struktur der Überausbeutung ist des Weiteren an patriarchale soziale Beziehungen gebunden. Die zwei deutlichsten Schauplätze, die auf Frauen im globalen Süden abzielen, sind Hausarbeit als internationales Phänomen und Biopolitik im Namen der Bevölkerungskontrolle. Darüber hinaus sind rurale und indigene Subalterne immer mehr der Fokus von handelsbezogenem geistigen Eigentum. Dieses bildet die Basis der Ausbeutung in den Arenen der Biopiraterie, die es transnationalen Unternehmen ermöglicht im Norden Eigentumsrechte über natürliche Ressourcen des Südens zu fordern. Mit dem grossen Plan die Welt der ländlichen Armen unter die Herrschaft des Finanzkapitals zu bringen, wird die Überschneidung zwischen Kolonialismus und Kapitalismus einmal mehr im Namen der Entwicklung fortgeführt.

Zugang zu globaler Telekommunikation und das Recht auf Mikrokredite werden mit politischer Ermächtigung von 'Dritt-Welt'-Frauen gleichgesetzt. Ohne Ansätze die infrastrukturellen Bedingungen, welche die ökonomische Verarmung dieser ländlich situierten Frauen aufrechterhalten, zu ändern, scheinen Grundsätze der Entwicklungspolitik leer und zynisch gegenüber den gegenwärtigen globalen Ungleichheiten. TheoretikerInnen des 'Post-Development' legen offen, wie Entwicklung als Alibi für Ausbeutung dient und dadurch kapitalistische Strukturen und patriarchale Ausbeutung festigt, die der Kolonialismus im Namen der Modernisierung einführte. Die Rolle von transnationalen Unternehmen der EU in diesen 'neuen' Formen des Neokolonialismus und Ökokolonialismus ist kein Geheimnis! Das macht postkoloniale Kritik im deutschsprachigen Raum dringend notwendig.


Die (Un)Möglichkeit von Solidarität?

Gleichzeitig hat sich Spivak deutlich gegen die Tendenz von AkademikerInnen ausgesprochen, Globalisierung mit Migrationsprozessen und Diaspora gleichzusetzen(5) und beharrt darauf, dass die ländlichen Gebiete durch Samen- und Düngerkontrolle, Bevölkerungskontrolle und Mikrokredite für Frauen zur neuen Front der Globalisierung geworden sind.(6) Dies zeigt einen Interessenskonflikt auf, bei welchem es kein offensichtliches 'natürliches' Bündnis zwischen dem Aktivismus von Migrierten im Norden und den ruralen und indigenen Subalternen im globalen Süden gibt. Diese 'interne Kritik' innerhalb des metropolitanen Postkolonialismus legt die Herausforderung für die Postkoloniale Kritik gegenüber der internationalen Arbeitsteilung und globaler Gerechtigkeit frei. Denn die Privilegierung grossstädtischer Räume innerhalb der postkolonialen Kritik riskiert das zu verdecken, was Saskia Sassen die 'Feminisierung des Überlebens' im globalen Süden nennt.

Spivak verkündet, dass die neuen Immigrierten die Kampflinien überdenken müssen. Auf das Dominante zu reagieren, ist nicht mehr der einzige Anspruch. Unsere Selbstrepräsentation als Marginalisierte im Norden kann die Verleugnung eines dominanten Status gegenüber den ruralen und indigenen Subalternen im Süden bedeuten. Es überrascht nicht, dass Mitglieder einer indigenen Elite die Sprache der Bündnispolitik attraktiv finden. Die Glaubwürdigkeit globaler Bündnispolitik wird von westlichen wie auch postkolonialen Feministinnen, die an einem 'internationalen Feminismus' interessiert sind, immer höher bewertet. Nach Spivak kann die 'Dritte Welt' aber auf ein Widerstandsprogramm der Bündnispolitik nur eingehen, wenn sie sich auf die 'Dritt-Welt' Gruppen beschränkt, die der 'Ersten Welt' direkt zugänglich sind. Sie warnt explizit davor, dass dieser 'Süden-im-Norden', der auf Migrationskämpfe in der 'Ersten Welt' begrenzt ist, gegen die globale Gerechtigkeit wirken kann. Ihr zufolge ist der Dekolonisierungsprozess unvollständig, solange die metropolischen Migrierten ihre Komplizenschaft in der internationalen Arbeitsteilung nicht reflektieren. Nach Marx, der die Fabrikarbeitenden auffordert sich selber als AkteurInnen der Produktion und nicht als Opfer des Kapitalismus zu denken, ruft Spivak postkoloniale Migrierte auf (vor allem die privilegierteren unter ihnen) sich als potentiell dem Kapitalismus dienliche AkteurInnen zu denken, und nicht nur als seine Opfer.

Für Spivak existiert subalternes Schweigen folglich nicht nur auf der Ebene des Mikropolitischen. Vielmehr resultiert es aus strukturellen Effekten der internationalen Arbeitsteilung, Überausbeutung von 'Dritt-WeIt'-Frauenarbeit, sowie Kasten- und Klassenhierarchien, in welchen die Stimme der subalternen Frau (begraben) liegt. Mit dem Fokus auf grossstädtische Räume und Subjekte stellt sich die reale Gefahr, dass vernachlässigt wird, wie neokoloniale Diskurse auf jene abzielen, die sich zuvor ausserhalb der Reichweite des Finanzkapitalismus befanden. Spivak zeigt auf, wie die ruralen und indigenen Subalternen am 'stärksten' globalisiert werden, indem der vergeschlechtlichte Körper zur Zielscheibe multinationaler Unternehmen wird. Für Spivak bleibt die subalterne Frau 'ausserhalb' des organisierten Widerstandes, der in der kapitalistischen Logik gefangen ist. Denn die vergeschlechtlichte Subalterne ist gleichzeitig vom Dominanten, wie auch von den widerständigen Gegendiskursen ausgeschlossen. Subalterne Frauen sind weder Teil einer zusammengeschlossenen 'Dritt-Welt-Frauen-Widerstandsbewegung' noch einer globalen Bündnispolitik. Im Anschluss an eine Untersuchung bezüglich der Möglichkeiten von Nord-Süd Allianzen mahnt Spivak, dass transnationale "Solidarität durch Feudalität ohne Feudalismus produziert wird."(7) Sie lehnt 'organisierte' Bündnisse ab und erklärt: "wenn tatsächliche Solidarität passiert, wird es unerwartet sein. Man kann nicht nach Solidarität suchen gehen."(8)

"In diesem Geschäft der Solidarität mit den Ärmsten der Armen im globalen Süden macht persönliches Wohlwollen nichts wett. Es ist christlich zu denken, dass man Tausende Jahre von Unrecht wieder gut machen kann, indem man einfach freundlich ist."(9)


Anmerkungen

(1) Du Bois, WEB: The Souls of Black Folk, New York 1996 (1903), S. 13.

(2) Bezieht sich auf das letzte Unterkapitel: Castro Varela, Maria do Mar, Dhawan Nikita: Interessenskonflikte. Migrantischer Aktivismus versus Internationale Arbeitsteilung, in: Dies: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005.

(3) Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Steyerl, Hito (Hg.): Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003.

(4) Spivak, Gayatri Chakravorty: Die Macht der Geschichte. Subalternität, hegemoniales Sprechen und die Unmöglichkeit von Allianzen (InterviewerInnen Sushila Mesquita and Vina Yun), in: Frauensolidarität 104 (2008), S. 1-27, hier S. 26.

(5) Zudem darf nicht vergessen werden, dass obwohl migrantischer Aktivismus eine wichtige politische Bewegung im globalen Norden ist, die letzten Erhebungen des Bevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) sagen, dass trotz "der gegenteiligen Wahrnehmung die proportionalen Zahlen der internationalen Migrierten relativ tief geblieben sind. Sie sind von 2,5 Prozent der gesamten Weltbevölkerung in 1960 auf 2,9 Prozent im Jahr 2000 gestiegen." UNFPA, State of World Population 2006. A Passage to Hope. Women and International Migration, 2006 URL: http://www.unfpa. org/upload/lib_pub_file/650_filename_sowp06-en.pdf.

Wenn wir also auf die Situation der Migrierten im globalen Norden fokussieren, müssen wir den Fokus auch auf jene richten, die von den Mobilitätslinien abgeschnitten sind.

(6) Spivak, Gayatri Chakravorty, A conversation with Gayatri Chakravorty Spivak. Politics and the Imagination, (InterviewerIn Jenny Sharpe), in: Signs 28: 2 (2002). URL: http://www.journals.uchicago. edu/SIGNS/journal/issues/v28n2/280208/280208.web.pdf.

(7) Spivak, Gayatri Chakravorty: Die Macht der Geschichte, S. 27.

(8) Ebd.

(9) Ebd.


Literatur

Spivak, Gayatri Chakravorty: Outside in the Teaching Machine, New York/London 1993.

Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak?, in: Patrick Williams/Laura Chrisman (Hg): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A Reader, New York 1994, S. 66-111.

Spivak, Gayatri Chakravorty: Discussion: An Afterword on the New Subaltern, in: Partha Chatterjee/Pradeep Jeganathan (Hg): Subaltern Studies XI: Community, Gender and Violence, New Delhi 2002: S. 305-334.


Zur Autorin:
Nikita Dhawan, Promovierte Philosophin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Interkulturelle Philosophie, Postkoloniale Theorie, Queer Theorie, Cultural Studies.
nikitadhawan@web.de

Übersetzung aus dem Englischen: Jovita dos Santos Pinto


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Quelle:
ROSA:37- Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe September 2008, S. 26-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2009