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STANDPUNKT/002: Neuer Kolonialismus - Dreiste Landnahme (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 27. April 2010

Dreiste Landnahme

Neuer Kolonialismus. Der US-Ökonom Paul Romer bezweckt
mit seinem Konzept der Charter Cities keine Entwicklungshilfe,
sondern Ausbeutung und Fremdherrschaft

Von Thomas Wagner


Nach der Intervention von 12000 US-Soldaten und einem Aufgebot internationaler Hilfsorganisationen im von einer Erdbebenkatastrophe heimgesuchten Inselstaat Haiti melden sich zunehmend Stimmen zu Wort, die dafür plädieren, die völkerrechtliche Souveränität von sogenannten Armutsstaaten aufzuheben. Ohne viel Federlesens wurde den Bewohnern der Karibikinsel qua Ferndiagnose das Recht auf Selbstbestimmung aberkannt. Zumindest für »eine Übergangszeit muß Haiti eine Art humanitäres Protektorat werden«, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Januar dieses Jahres. In Die Welt war acht Tage später zu lesen, daß weltweit »der Höhepunkt des Kampfes um eine abstrakte Unabhängigkeit schon vorbei« sei. In Port-au-Prince soll das Wort vom Neokolonialismus gar einen »positiven Beiklang« erhalten haben. Hier sei eine »Kolonie der Helfenden« entstanden, heißt es im Springer-Blatt weiter. »Geflissentlich wird dabei ausgeblendet, daß der Westen mit seiner Politik maßgeblich für die schreckliche Lage im Land verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Die US-amerikanischen und europäischen Architekten der Krise erteilen sich nun eigenmächtig das Mandat, eine >feindliche Übernahme< Haitis in die Wege zu leiten. Mehr noch, die Europäische Union mißbraucht darüber hinaus die Lage dazu, eine umfassende Militarisierung des Katastrophenschutzes auf den Weg zu bringen. Geschützt werden in Haiti aber die westlichen Interessen und nicht die dort lebenden Menschen«, stellen die jW-Autoren Sabine Lösing und Jürgen Wagner richtig (jW-Thema vom 8.2.2010). Denn nun bietet sich den USA und ihren Verbündeten eine komfortable Möglichkeit, im Windschatten der Hilfsmaßnahmen eine neue Bastion gegen den wachsenden Einfluß Venezuelas und Kubas in der Region aufzubauen und gleichzeitig die auf Haiti vermuteten Ölvorkommen im Auge zu behalten.

Angesichts neuer geostrategischer Optionen ist das zwischen den politischen Lagern mühsam erzielte Einverständnis, daß die koloniale Expansion der Europäer in der Neuzeit für die davon betroffenen Völker in Übersee zunächst vor allem Fremdherrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung und unsagbares Leid mit sich gebracht hat, brüchig geworden. Wer nach der Selbstbefreiung der kolonisierten Völker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine vermeintliche Überlegenheit der abendländischen Kultur beschwor und den »Weißen Mann« mit der Mission beauftragt sah, das Licht der Zivilisation über den ganzen Globus zu verbreiten, stellte sich damit außerhalb des politisch korrekten Meinungsspektrums und gab sich als Parteigänger der extremen Rechten zu erkennen.

Heute sind es vermeintlich liberale Stimmen, die für eine Neubewertung des Kolonialismus eintreten und beispielsweise für eine Entschuldigung europäischer Politiker in Sachen Kolonialpolitik überhaupt keinen Anlaß gegeben sehen. Der in der akademischen Welt weithin anerkannte Herausgeber des Monatsmagazins Merkur, Karl Heinz Bohrer, wertete zum Beispiel längst überfällige Vorstöße einiger Staatsmänner in diese Richtung als »gedanklichen Nonsens«. Die Kolonialethik des viktorianischen Zeitalters lasse sich nicht durch die Ethik unserer Epoche einholen, überholen oder revidieren, faßt er seine Position zusammen, die sich von der Idee verabschiedet zu haben scheint, daß Menschenrechte eine universale Gültigkeit beanspruchen.

Mit einer originellen neuen Variante der Totalitarismusdoktrin will seit einiger Zeit Gerd Held, ein Privatdozent für Stadt- und Raumplanung an der Technischen Universität Berlin, die Leser der Welt vom 8. Juli 2008 von ihrer möglicherweise noch negativen Einstellung gegenüber dem Kolonialismus abbringen. Ihm zufolge handelt es sich beim Antikolonialismus um eine Form von Ausländerfeindlichkeit. »Wenn die Europäer nur noch ihre kolonialen Sünden sehen und ihr >Nie wieder!< schwören, folgt bald ein zweites Nein, das sich gegen die fremden Migrantenwelten bei uns richtet. Zwischen der linken Kolonialkritik und der rechten Ausländerfeindlichkeit gibt es ein stilles Band.«


Neue Unbefangenheit

Der französische Philosoph Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen einen angeblichen europäischen Schuldkomplex der heutigen neuen Unbefangenheit im Umgang mit den Verbrechen der Kolonialzeit ideologisch den Weg bereitet. Er kam Anfang 2008 mit seinem Buch »Der Schuldkomplex« damit jenen Angehörigen der herrschenden Klasse entgegen, die im geheimen schon immer der Ansicht gewesen waren, daß am Kolonialismus der Väter und Großväter nicht alles falsch gewesen sein könne. Die Verbrechen des Kolonialismus sieht Bruckner schon dadurch relativiert, daß die neuen Eliten in den befreiten Nationen »im Laufe weniger Jahre zum Bestialitätsniveau ihrer ehemaligen Herren« aufgestiegen seien.

Bruckner entwickelte Argumente, mit deren Hilfe die aggressive Außenpolitik der europäischen Staaten in der Gegenwart gerechtfertigt wird. »Um glaubwürdig zu sein, muß man gefürchtet werden. Und um gefürchtet zu werden, muß man einem potentiellen Angreifer irreparable Schäden zufügen können.« Er will sich nicht damit abfinden, daß Europa »den großen Yankee-Bruder die Kohlen aus dem Feuer holen läßt, um ihn danach schonungslos zu kritisieren«. Bruckners deutsche Bewundererin Ulrike Ackermann stört sich in ihrem Buch »Eros der Freiheit« daran, »daß das politische Ansinnen des Westens, der restlichen Welt Demokratie zu bringen, heute wieder unter das Verdikt des bösen Kolonialismus fällt«.

In dieser Sichtweise erscheint Europa als Ursache allen Übels aber zugleich aller Wohltaten in der Welt. »Wie ein Kerkermeister, der dich erst ins Gefängnis wirft, um dir dann die Zellenschlüssel zuzustecken, brachte Europa der Welt den Despotismus und die Freiheit«, heißt es bei Bruckner weiter. Der eurozentristische Blick auf die internationale Politik sieht die Neubestimmung der Beziehungen von ehemaligen Kolonien und ihren einstigen Herrschern im Zeichen der Gleichberechtigung nicht vor. Das Schlimmste, was den postkolonialen Staaten heute blühe, sei nicht das erneute Diktat der ehemaligen Kolonialherren im Rahmen kapitalistischer Globalisierung, sondern vielmehr der Rückzug von Investoren aus den reichen Ländern, »ein Abbruch der Verbindungen, die sich über viele Jahrhunderte aufgebaut haben«. Um diese Beziehungen dauerhaft zu erhalten, werden nach Ansicht des Berliner Stadt- und Raumplaners Gerd Helds »Kolonien in unserer heutigen Welt dringend gebraucht: Dort, wo die Bedingungen so schwierig sind, daß die Forderung nach >Selbsthilfe< zur hohlen Phrase wird, müssen dauerhafte Brücken zwischen den starken und den prekären Nationen dieser Welt« geschlagen werden. Ein langfristiges Engagement mit hohem persönlichen Einsatz und großen finanziellen Vorleistungen brauche eigene Stützpunkte in der Fremde und sichere Bindungen ans Herkunftsland. »In allen schwierigen Regionen der Welt kann man heute neue Formen von >Kolonien< beobachten. Denn wo nur ein langfristiges internationales Engagement Entwicklung ermöglicht, braucht es Sicherheiten. Die eigene Siedlung wird zur Institution im fremden Land«, entwickelt Held seine Gedanken in Die Welt vom 27. Januar 2010.


Charter Cities

So werden vor allem in Afrika riesige Agrarflächen von Konzernen kapitalistischer Industrie- und Schwellenländer aufgekauft, um dort Lebensmittel oder Nutzpflanzen für deren heimische Märkte anzubauen, schreibt Tomasz Konicz am 13. März 2010 in der jungen Welt. Afrikanischen Staaten wie Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, Madagaskar, Somalia, Mali, dem Sudan und Tansania wurde angeboten, »ganze Landstriche an ausländische Konzerne, Investmentfirmen oder Regierungsorganisationen zu verkaufen oder auf 99 Jahre zu verpachten«. Seit 2006 sind nach Angaben der Vereinten Nationen bis zu 20 Millionen Hektar Anbaufläche von ausländischen Investoren aufgekauft oder langfristig gepachtet worden. Das entspricht einem Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche in der EU.

An die Seite des De-Facto-Kolonialismus der dominanten westlichen Staaten gegenüber den Ländern des Südens gesellt sich neuerdings ein öffentlich diskutiertes Kolonisierungskonzept, mit dessen Hilfe die ökonomische und politische Vorherrschaft der kapitalistischen Gesellschaften unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe in immer neuen Regionen der Welt dauerhaft institutionalisiert werden soll. Der weitreichende Entwurf stammt aus der Feder des 1955 geborenen US-Ökonomen und Unternehmers Paul Romer. Es geht um Industrie- und Handelsniederlassungen in armen Ländern des Südens, die von privaten Investoren finanziert und nach den Maßgaben einer aus mehreren Staaten zusammengesetzten ausländischen Schutzmacht regiert werden sollen. Diese Städte vom Reißbrett nennt der frühere Senior Fellow des konservativen US-Think Tanks »Hoover Institution on War, Revolution, and Peace« nach der kolonialen Gründungscharta des späteren US-Staates Pennsylvania aus dem Jahr 1683 »Charter Cities«. In dem Gründungsdokument der von William Penn ins Leben gerufenen Kolonie wurden Religions- und Handelsfreiheit garantiert, wodurch Einwanderer aus Europa angezogen wurden und sich Nachbarkolonien wie Massachusetts unter Druck gesetzt fühlten, ihren Bewohnern ähnliche Garantien zu geben.

Schon lange vor seiner »bahnbrechenden Idee«, so das Wirtschaftsmagazin Capital, war Romer kein unbeschriebenes Blatt unter den Wirtschaftswissenschaftlern. Er gilt als aussichtsreicher Kandidat für den Wirtschaftsnobelpreis und wurde für seine »Neue Wachstumstheorie« im Jahr 1997 vom Time Magazine zu einer der 25 einflußreichsten Personen der USA gewählt. Romer kommt aus einer prominenten und mächtigen Politikerfamilie. Sein Vater war zwölf Jahre lang Gouverneur des US-Bundesstaates Colorado und in den 90er Jahren Vorsitzender des obersten Parteiorgans der Demokratischen Partei, des Democratic National Comittee.


Rückeroberung Kubas

Romers Grundidee läßt sich wie folgt umreißen: Ein finanzschwacher Staat des Südens stellt westlichen Staaten aus freien Stücken eine nicht besiedelte Fläche seines Territoriums für die Neugründung einer Stadt zur Verfügung und tritt die Souveränitätsrechte an diesem Gebiet für eine vertraglich festgelegte Zeitdauer an diese Staaten ab. Diese steuern Gelder und administrative Leistungen bei. Eine Entwicklungsbehörde wird vereinbart, die für die Gesetzgebung und die Einhaltung der Ordnung zuständig ist. Sobald auf diese Weise für Rechtssicherheit und den Schutz des Eigentums gesorgt ist, können Privatleute in Handelsniederlassungen und industrielle Produktionsstätten investieren und Arbeiter aus den Armutsregionen des Gastgeberstaates in die neue Stadt zuwandern. Die dort tätigen westlichen Unternehmen profitieren von den Niedriglöhnen in der Region. Viele Bewohner von Charter Cities sollen dort ihren ersten regulären Job finden können. Worauf sie freilich verzichten müssen, sind elementare politische Rechte und Freiheiten. »Demokratisch soll es in den Reißbrettmetropolen nicht zugehen«, berichtete die Zeitschrift Capital, freilich ohne sich allzu sehr daran zu stören: »Die Bewohner dürfen nur mit den Füßen abstimmen. Und die Lokalpolitiker vor Ort sollen einen ähnlichen Spielraum erhalten, wie etwa Notenbanker ihn genießen.«(1)

Einen idealen Kandidaten für die Position einer westlichen Schutzmacht für eine Charter City sieht Romer in Deutschland. Zum einen unterhalte es heute gute Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien, sagte Romer im Gespräch mit der Deutschen Welle am 6. Januar 2010. Außerdem schleppe Deutschland ohnehin deutlich weniger koloniales Gepäck mit sich herum als andere europäische Staaten. Millionen Menschen würden sich nur darum reißen, in einem zweiten München in Afrika leben zu dürfen. Unter den heutigen Bedingungen hält Romer den afrikanischen Staat Kenia für eine Charter-City-Vereinbarung besonders geeignet, »denn dort ist es wegen der instabilen politischen Verhältnisse praktisch unmöglich, ein ausländisches Unternehmen anzuwerben, das eine langfristige Investition tätigt«, begründet Romer im letzten Oktober-Heft des Wirtschaftsmagazins Brand Eins.

Neben Kenia denkt er aber auch an eine erneute Kolonisierung Kubas durch westliche Staaten: »Ich überlege seit einiger Zeit, wie eine neue Stadt in Guantánamo Bay auf Kuba aussehen könnte. Dort läßt sich ideal die Vertragsstruktur durchspielen. Guantánamo ist bereits eine Sonderzone, die zu Kuba gehört, aber der Verwaltungshoheit der USA untersteht. Man stelle sich vor«, phantasiert Romer und offenbart ganz unverblümt die imperialistische Stoßrichtung seiner neokolonialen Konzeption: »Havanna spricht die kanadische Regierung oder ein Konsortium aus Kanada, Spanien und Brasilien an und überträgt ihnen die Verwaltung dieser Zone. So hätten Investoren Verlaß, daß dort eine langfristige Ordnung etabliert wird. Vielleicht ist das auch die Lösung, um Exilkubaner zur Rückkehr zu bewegen.«

Um für sein durch und durch imperialistisches Konzept der Charter Cities Unterstützer zu finden, jettet Romer heute unermüdlich um die ganze Welt. Um seiner nach eigenen Angaben in den westlichen Staaten bislang noch zögerlich aufgenommenen Idee zum Durchbruch zu verhelfen, hat der Träger des H.-C.-Recktenwald-Preises für Nationalökonomie 2002 seine Professur an der Stanford University in Kalifornien aufgegeben und die gemeinnützige Stiftung »Charter Cities« gegründet. Finanziert wird das Ganze nach eigenen Angaben aus dem Erlös, den er im Jahr 2007 durch den Verkauf seiner erfolgreichen Lernsoftwarefirma erzielte.


Neokoloniale Mission

Bei der Entwicklung seiner Idee hatte Romer nach eigenen Aussagen das historische Beispiel der britischen Kronkolonie Hongkong vor Augen. Gegenüber Brand Eins sagte er: »Die britische Regierung war die Garantiemacht, die dafür sorgte, daß ausländische Investoren sich in China ansiedelten, während chinesische Bürger dorthin ziehen und Arbeit finden konnten. Man darf allerdings nicht vergessen, daß Hongkong ursprünglich nicht auf einem freiwilligen Abkommen beruhte. Aber unterm Strich hat es enorm positive Konsequenzen für China gehabt. Das würden andere Länder heute gern nachahmen. China hat Hongkong benutzt, um das Modell Marktwirtschaft auszuprobieren. Sobald es funktionierte, konnte man es kopieren. Außerdem diente die Stadt als Einfallstor. China baute wirtschaftliche Sonderzonen in seinem Einzugskreis, und daraus erwuchs eine komplett neue Stadt, Shenzhen. Dort lassen Firmen aus Hongkong fertigen. So kamen chinesische Arbeiter in Berührung mit westlicher Technik und erhielten Zugang zu Hongkongs Infrastruktur als Finanzzentrum und Warenumschlagplatz. China konnte vom kommunistischen zum kapitalistischen Modell wechseln, indem es ein paar Standorte innerhalb seiner Grenzen schuf, an denen sich sogenannte Early Adopter versammeln - Leute, die gern etwas als Erste ausprobieren.«

Nicht um Hilfe für einen eigenständigen Entwicklungsweg ist es Romer also zu tun, sondern um die staatliche Forcierung der für private Unternehmen möglichst effektiven Implementierung kapitalistischer Strukturen in Gebieten, die bislang von der Alleinherrschaft des Prinzips der Gewinnmaximierung verschont geblieben waren. Dabei meidet Romer das Wort »Kolonialismus« wie der Teufel das Weihwasser und wehrt sich gegen den Vorwurf, selbst eine neokolonialistische Konzeption zu propagieren. »Erstens fehlt einer Charter City der Zwangscharaker einer imperialistischen Macht, die ihr Gegenüber zur Akzeptanz neuer Regeln nötigt. Ein solcher Vertrag wäre komplett freiwillig. Zweitens zeichnet sich Kolonialismus durch Verachtung aus - eine Gruppe von Menschen glaubt zu wissen, was gut für die anderen sei. Charter Citys schreiben keiner Seite etwas vor, sondern lassen den Leuten die Wahl, in eine neue Stadt zu ziehen und neue Regeln auszuprobieren. Momentan haben Entwicklungsländer nur wenige Optionen, um Investoren anzulocken, die ihnen Infrastruktur bauen. Für die Regierungen sind solche Verträge schwer auszuhandeln, denn Firmen fürchten immer das politische Risiko, daß der nächste Präsident oder Machthaber den Vertrag bricht. Diese Angst wirkt wie eine Steuer auf Auslandsinvestitionen, eine Steuer der schlimmsten Sorte, denn sie bringt dem Gastland null Einnahmen. Dagegen wirkt die Charter-City.«

Gegen diese Argumentation lassen sich freilich eine ganze Reihe von stichhaltigen Einwänden vorbringen. Denn mit der Freiwilligkeit der Entscheidung hoch verschuldeter und in vielerlei Hinsicht von ausländischen Investoren und der Kooperationsbereitschaft anderer Staaten abhängigen Regierungen in Ländern des Südens wäre es deutlich schlechter bestellt, als es Romer suggeriert. Noch mehr gilt das für die Arbeitskräfte, die vor der Wahl stünden zu verhungern oder ihre politischen Rechte gegen eine mehr oder weniger schlecht bezahlte Arbeit im Rahmen eines fremdbestimmten Wirtschaftskomplexes im eigenen Land anzunehmen. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß Romers Konzept der Charter Cities genau jenem überheblichen Geist entspringt, den er selbst als kolonialistisch bezeichnen würde. Er glaubt zu wissen, was gut für die anderen ist: Der Kapitalismus. Daß Romer dies selbst nicht zu bemerken scheint, hat womöglich damit zu tun haben, daß Menschen seines Schlags den Kapitalismus als einzig mögliche Form des Wirtschaftens zu denken gewohnt sind.

Legt man die von dem Historiker Jürgen Osterhammel 2006 in seinem Buch »Kolonialismus« vorgeschlagene Definition zugrunde, dann wird schnell deutlich, daß Romers Konzeption die wichtigsten Elemente eines kolonialen Herrschaftsentwurfs enthält: »Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.«


Anmerkung:

1 www.capital.de/politik/100026850.html

Literatur
Ulrike Ackermann: Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung, Stuttgart 2008
Pascal Bruckner: Der Schuldkompex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa, München 2008

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Quelle:
junge Welt vom 27.04.2010
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2010