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REDE/874: Westerwelle - Regierungserklärung zum Umbruch in der Arabischen Welt, 16.03.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, zum Umbruch in der Arabischen Welt vor dem Deutschen Bundestag am 16. März 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Nordafrika und die arabische Welt erleben eine historische Zäsur. Die Freiheitsbewegung, die als Jasmin-Revolution auf den Straßen Tunesiens begann, hat viele andere Staaten erreicht. Als Demokraten stehen wir an der Seite von Demokraten. Wir Deutschen haben das Glück, eine friedliche Revolution im eigenen Land erlebt zu haben, die zur Einheit unseres Landes und zur Vereinigung Europas geführt hat. Unser Land ist auf den Werten der Freiheit gebaut. Es sind diese freiheitlichen Werte, nach denen jetzt Millionen Menschen im nördlichen Afrika und in der arabischen Welt verlangen. Wir werden diese Völker dabei als Bundesrepublik Deutschland unterstützen.

Die Sehnsucht nach Freiheit ist nicht begrenzt auf eine Kultur, auf eine Region oder gar auf eine Religion. Es ist ein Irrglaube, es gebe Kulturen, in denen der Mensch auf Dauer unfrei sein müsse. Es gibt keine Kultur der Unfreiheit. Unfreiheit ist Ausdruck von Unkultur. Eine weitere Erkenntnis können wir aus dieser Entwicklung gewinnen: Nicht eine autokratische Regierung macht ein Land stabil, sondern eine stabile Gesellschaft ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Landes. Wir wollen stabile Demokratien und demokratische Stabilität.

In Marokko hat König Mohammed VI. vor wenigen Tagen eine Verfassungsreform eingeleitet, die viele Forderungen aus der Gesellschaft aufgreift. Das macht Mut, aber es werden die Taten zählen. Das Beispiel Marokko zeigt, wie eine Regierung den Weg zur Öffnung und zur Demokratisierung der Gesellschaft einschlagen kann.

Mit großer Sorge blicken wir nach Jemen, wo ein von breiten Schichten der Gesellschaft getragener Protest immer gewaltsamer niedergeschlagen wird. Bereits vor einem Jahr, bei meinem Besuch im Jemen, habe ich Präsident Salih eindringlich darauf hingewiesen, wie notwendig der friedliche gesellschaftliche Ausgleich für die Stabilität des Jemen ist. Heute müssen wir feststellen: Die Zeit wurde nicht genutzt, und die Lage im Jemen hat sich dramatisch verschlechtert.

Mit Sorge verfolgen wir auch die alarmierenden Nachrichten aus Bahrain. Wir rufen alle Beteiligten im Land selbst zum Dialog auf, und wir rufen die Länder in der Region zur Zurückhaltung auf. Die Eskalation der Gewalt muss ein Ende haben und einem ernsthaften Dialog, einem nationalen Dialog zwischen Regierung und Opposition Platz machen. Eine Lösung muss im Land selbst gefunden werden.

Im Iran geht die Führung in diesen Tagen erneut mit äußerster Härte gegen die Opposition vor. Die iranische Regierung will mit diesem Vorgehen Stärke demonstrieren, sie offenbart aber nur Schwäche. Wir fordern die iranische Führung auf, die Unterdrückung der Opposition unverzüglich zu beenden und dem iranischen Volk die ihm zustehenden Freiheitsrechte zu gewähren.

Die Sehnsucht nach Freiheit und Teilhabe, nach Würde und Gerechtigkeit wächst auch in vielen anderen Ländern des Mittleren Ostens von Tag zu Tag und bricht sich Bahn. Die Lage in der Region ist von Land zu Land verschieden. Deshalb brauchen wir maßgeschneiderte politische Antworten. Eines aber haben alle diese Aufbrüche gemeinsam: den unbedingten Willen zu Freiheit, zu Teilhabe und zu neuen Chancen.

Ich danke den Frauen und Männern der Bundeswehr, den Angehörigen des Auswärtigen Dienstes und den vielen Hilfsorganisationen für ihre Leistung bei der Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen und für ihren Beitrag, zahlreiche ägyptische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zu ihren Familien zu bringen. Wenn alles gut gegangen ist, denkt man, dass es einfach war. Aber ich weiß, dass es alles andere als einfach war. Deswegen möchte ich vor diesem Hohen Hause - ich hoffe, in Ihrer aller Namen - diesen Dank ausdrücklich aussprechen.

In Libyen führt ein Diktator Krieg gegen das eigene Volk. Im Angesicht dieses Verbrechens ist sich die internationale Staatengemeinschaft einig: Der Diktator muss gehen. Mit seinen Taten stellt sich Oberst Gaddafi außerhalb der Völkergemeinschaft. Er hat jede Legitimation verwirkt. An dieser frühzeitig eingenommenen eindeutigen und entschiedenen Haltung der Bundesregierung ändern auch vergiftete Freundlichkeiten des Diktators nichts.

Wir haben mit unserer Forderung nach raschen Sanktionen breite Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in der Europäischen Union erhalten. Die Auslandsvermögen der Herrscherfamilie wurden eingefroren. Reiseverbote sind in Kraft. Wir sind uns im Sicherheitsrat, in der Europäischen Union und auch unter den G8-Staaten - das hat gestern das Treffen der Außenminister gezeigt - einig, dass der Diktator für diesen Feldzug gegen sein eigenes Volk zur Verantwortung gezogen werden muss. Das wird Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs sein. Wir setzen uns in New York dafür ein, den politischen Druck weiter zu erhöhen, bis dieses Ziel erreicht ist. Wir werden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen heute und in den kommenden Tagen das weitere Vorgehen abstimmen. Die Bundesregierung wirbt in New York nachdrücklich für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Wir wollen die Geldflüsse in das System Gaddafi, soweit irgend möglich, stoppen. Wir wollen dem Regime die Grundlage seines Handelns und seines Krieges gegen das e igene Volk entziehen.

Die Bilder und die Nachrichten von vorrückenden Truppen Gaddafis, von blutiger Gewalt und von gefallenen Städten in Ostlibyen bedrücken uns. Aber die vermeintlich einfache Lösung einer Flugverbotszone wirft mehr Fragen und Probleme auf, als sie zu lösen verspricht. Die Flugverbotszone - darüber kann auch das Wort nicht hinwegtäuschen - ist eine militärische Intervention, bei der nicht einmal klar ist, dass sie in einem Land wie Libyen wirkungsvoll sein kann. Ich darf darauf aufmerksam machen, dass Libyen ein Land ist, das etwa viermal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.

Am Ende darf nicht genau das Gegenteil dessen stehen, was wir politisch erreichen wollen. Am Ende darf unser Handeln nicht zu mehr Gewalt - statt zu mehr Freiheit und zu Frieden - führen. Ein solches Ergebnis würde die demokratischen Bewegungen in ganz Nordafrika schwächen und nicht stärken. Jeder Schritt muss auch vor dem Hintergrund bewertet werden, welche Folgen er für die Staaten in Nordafrika hätte, die sich seit der Jasmin-Revolution in Richtung Demokratie, in Richtung von mehr Freiheit auf den Weg gemacht haben.

Die Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur Libyen betreffen, sondern in die gesamte nordafrikanische Region und in die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Wir verstehen, dass alle Möglichkeiten geprüft werden. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone aber ist eine militärische Intervention. Niemand soll sich der Illusion hingeben, es gehe lediglich um das Aufstellen eines Verkehrsschildes. Um ein Flugverbot durchzusetzen, müsste zunächst die libysche Flugabwehr militärisch ausgeschaltet werden. Die Bundesregierung betrachtet deshalb ein militärisches Eingreifen in Form einer Flugverbotszone mit großer Skepsis. Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden. Wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind.

Aber was geschieht, wenn die Angriffe am Boden weitergehen? Müssen wir Gaddafis Panzer dann aus der Luft bekämpfen? Und wenn das nicht reicht, müssen wir dann Bodentruppen schicken? Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit, sondern sind gezielte Sanktionen, die den Druck auf Gaddafi erhöhen. In den vergangenen Tagen haben wir zudem erste Kontakte mit dem Nationalen Übergangsrat geknüpft. Wir sehen in ihm einen wichtigen politischen Ansprechpartner.

Die Entscheidung über den richtigen Weg im Angesicht menschenverachtender Gewalt ist alles andere als einfach. Als Mitglied des Sicherheitsrates trägt Deutschland in dieser schwierigen Lage besondere Verantwortung für die internationale Sicherheit. Wir respektieren und begrüßen den Beschluss der Arabischen Liga vom vergangenen Wochenende. Aber wir sehen die Verantwortung für das weitere Handeln der internationalen Staatengemeinschaft zuerst bei den Staaten der Region. Dies wird auch unsere Haltung bei den Beratungen in New York bestimmen.

Eine stabile Demokratie entsteht nicht über Nacht. Ein solcher Prozess kann Jahre, manchmal Jahrzehnte dauern. Wir wollen die Länder Nordafrikas dabei unterstützen, eine feste, tragfähige Demokratie in einer starken Zivilgesellschaft zu verankern. Wir stehen in der arabischen Welt vor einem Neubeginn voller Chancen. Aber nicht nur die Völker der Region, sondern auch wir brauchen einen langen Atem. Dieser arabische Frühling ist eine historische Chance für Frieden und Wohlstand in der gesamten Region mit positiven Folgen weltweit. Deutschland und Europa stehen als Partner bereit, damit der demokratische Aufbruch in Nordafrika und anderen Teilen der arabischen Welt tatsächlich gelingen kann.

Der Umbruch in Tunesien und Ägypten ging von der Mitte der Gesellschaft aus, und er wurde von ihr getragen. Wir haben größten Respekt vor dem Mut all jener, die friedlich und ohne Waffen auf die Straße gegangen sind, um sich den Herrschenden in ihren Ländern entgegenzustellen. In den Straßen von Tunis können die jungen Frauen und Männer vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben völlig frei reden. Sie haben vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, ihre eigene Zukunft in den Händen zu halten. Sie spüren, dass sie selber entscheiden können, wie sie leben wollen.

Was sich die Menschen in Tunesien wünschen, was sie sich erträumen, ist unseren Wünschen und unseren Träumen sehr nah. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Würde und Gerechtigkeit verbindet uns über das Mittelmeer und über alle Grenzen hinweg. Gleichzeitig erreichen uns die Bilder von Flüchtlingsbooten vor Lampedusa. Klar ist: Wir können nicht alle Menschen aus Nordafrika in Europa aufnehmen. Wir wollen vielmehr dabei helfen, dass die Menschen im eigenen Land eine gute Zukunft für sich sehen. Jetzt zu handeln, jetzt vor Ort zu helfen, ist die beste Politik, um Flüchtlingsströme einzudämmen.

Der Aufbruch, dessen Zeuge wir sind, ist eine große Chance für beide Seiten. Es ist die Chance auf ein neues, produktives Miteinander der Länder nördlich und südlich des Mittelmeers. Er ist auch eine Chance für Deutschland. Wenn diese Gesellschaften in neuer Freiheit ihre ganze Kreativität und ihre Talente entfalten, können neue Mittelschichten in Nordafrika unsere kommenden Partner - auch Wirtschaftspartner - werden. Umgekehrt können wir durch Investitionen und Handelsaustausch die wirtschaftlichen Chancen für die Menschen und gerade auch für die jungen Menschen dort verbessern.

Es bleibt ein unvergessliches Erlebnis, das ich auf dem Tahrir-Platz gewissermaßen stellvertretend für Sie und für viele andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hatte, als auf dem Tahrir-Platz in Kairo Hunderte spontan zusammenkamen, weil sie erfuhren, dass eine deutsche Delegation dort ist, und sie riefen: Es lebe Ägypten, es lebe Deutschland! - Das war Ausdruck des hohen Ansehens, das wir uns in Ägypten erworben haben. Es zeigt, dass unsere Politik der Parteinahme für den demokratischen Aufbruch, ohne dabei die ägyptische Souveränität dieses stolzen Volkes infrage zu stellen, richtig war. Es war aber auch Ausdruck der enormen Erwartungen gerade der ägyptischen Jugend an unser Land.

Wir haben Tunesien und Ägypten sehr früh eine Transformationspartnerschaft angeboten, weil wir den Aufbruch zu Demokratie von Beginn an nach besten Kräften unterstützen wollten. Das jetzt beschlossene Konzept der Europäischen Union für eine Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand trägt in weiten Teilen die Handschrift der Bundesregierung.

Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund:

Erstens. Die europäische Nachbarschaftspolitik muss neu ausgerichtet werden. Ihre strategischen Ziele und Grundsätze bleiben gültig. Aber mehr als bisher werden wir die Unterstützung der Europäischen Union an klare Erwartungen knüpfen. Am vergangenen Freitag hat der Europäische Rat beschlossen, dass wir Leistungen an unsere Mittelmeerpartner an sichtbare Fortschritte bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, in Richtung unabhängiger Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung knüpfen werden. Gerade die Zeichnung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen, wie sie die tunesische Regierung nach dem Sturz Ben Alis auf die Tagesordnung der ersten Kabinettsitzung setzte, dokumentiert diesen Willen zum Neuanfang.

Zweitens stärken wir den Auf- und Ausbau der Zivilgesellschaft. Träger des Aufbruchs sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte, die noch am Anfang stehen. Sie sind kaum organisiert, und sie brauchen unsere Unterstützung; ich denke etwa an die eindrucksvolle Begegnung mit dem Vorsitzenden der tunesischen Menschenrechtsliga. Dafür wollen wir die etablierten Kontakte unserer Botschaften nutzen, aber auch die Netzwerke von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Parlamentariergruppen.

Eine besondere Rolle kommt den politischen Stiftungen zu, mit denen wir uns in Tunis wie in Kairo getroffen haben und von denen es in Europa kaum ihresgleichen gibt. Sie verfügen über ein enges Netzwerk an Ansprechpartnern, von denen viele aktiv an den Freiheitsbewegungen beteiligt waren. Ihre langjährige Erfahrung wollen wir verstärkt nutzen und unseren neuen Partnern anbieten.

Drittens fördern wir eine umfassende Demokratisierung. Die Regierungen in Tunis und Kairo sind Übergangsregierungen, die in Zeiten des Umbruchs entstanden sind. Heute stehen teilweise schon andere Personen an ihrer Spitze als bei meinem Besuch vor wenigen Wochen. Ihnen fehlt noch die demokratische Legitimation. Für den Umbau der Gesellschaft brauchen die Regierungen aber den Rückhalt der Mehrheit im Volk. Die Zeit für die Organisation der freien politischen Willensbildung ist knapp, Erfahrungen darin noch knapper. Wir haben deshalb angeboten, bei allen Fragen der Vorbereitung und Durchführung freier und fairer Wahlen zu helfen.

Viertens wird es für das Gelingen des Aufbruchs in der arabischen Welt entscheidend sein, dass die Menschen die Früchte ihres Aufbegehrens auch im täglichen Leben spüren. Arme und ausgegrenzte junge Frauen und Männer haben ebenso wie die gut Ausgebildeten aus der Mitte der Gesellschaft nicht allein für Freiheit, sondern auch für ihre Lebenschancen demonstriert. Damit der politische Aufbruch Erfolg hat, müssen politische Entwicklungen und wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Hand in Hand gehen. Wenn uns an ihrem Erfolg liegt, dann müssen wir rasch und gezielt auch wirtschaftlich helfen. Damit meine ich vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.

Die Tourismuswirtschaft spielt eine große Rolle, aber wir müssen auch mehr Handel zulassen und unsere Märkte in Europa öffnen. Auch über Agrarexporte, die für diese Länder eine wichtige Rolle spielen, werden wir in Brüssel sprechen müssen.

Zugleich wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass noch mehr als die beispielsweise 270 deutschen Unternehmen allein in Tunesien, die dort investieren, in der Region tätig werden. Die Rechtssicherheit in diesen Ländern muss gestärkt werden, sonst können private Investitionen kaum in großem Umfang fließen. Unser Angebot ist ein Nord-Süd-Pakt, der umfassend und auf Dauer angelegt ist.

Mittel- und langfristig entscheidet aber vor allem ein Thema über die Zukunft dieser Länder und Gesellschaften: die Bildung. Sie ist das Kapital der Zukunft bei uns - das wissen wir - genauso wie in Nordafrika. Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag bitten, in den kommenden zwei Jahren insgesamt 100 Millionen Euro für Partnerschaften mit Nordafrika und dem Nahen Osten bereitzustellen. Das Kabinett hat heute Morgen einen entsprechenden Beschluss gefasst. 40 Millionen Euro davon wollen wir für ein Stipendienprogramm und für Bildungspartnerschaften mit den Schulen und Hochschulen dieser Länder nutzen.

Die Vernetzung junger Menschen, der Transfer unseres Knowhows und unserer gesellschaftlichen Werte und Maßstäbe sollen unseren Gesellschaften wechselseitig zugutekommen. Gemeinsam mit den Bundesministern Annette Schavan, Dirk Niebel und Rainer Brüderle werden wir zusätzliche Angebote für die Bildung, insbesondere die berufliche Bildung, entwickeln - eine der großen Stärken unseres deutschen Bildungssystems.

Wir müssen uns auch mit einer weiteren bedeutenden Frage befassen: Welche Folgen hat der Umbruch in der arabischen Welt für unseren Partner Israel? Die historischen Veränderungen in der Region dürfen nicht zu einem Weniger an Sicherheit für Israel führen. Darauf wird Deutschland besonders achten. Wir setzen uns dafür ein, dass die Zukunft Israels in einer stabileren und demokratischeren Nachbarschaft abgesichert werden kann. Auch deshalb machen die Umbrüche in der gesamten Region eine Lösung des Nahostkonfliktes durch eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung umso dringlicher. Mut und Weitblick, nicht Zaudern und Zögern, sind jetzt gefragt, damit der Stillstand bei den Friedensgesprächen endlich überwunden werden kann.

Die Unterstützung des Umbruchs in der arabischen Welt entspricht unseren Werten wie unseren Interessen gleichermaßen. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass jedes Land selbst über sein Schicksal zu entscheiden hat. Jeder Mensch schuldet jedem Menschen Respekt, und jedes Land schuldet jedem Land Respekt. Jede Bevormundung verbietet sich. Nur wenn die Reformen von den Gesellschaften Nordafrikas selbst getragen werden, werden sie von Dauer sein.

Wir haben unsere Angebote gemacht: bei der Reform politischer Institutionen, beim Umbau der Verwaltung, bei der Verankerung und Stärkung von Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit und beim Ausbau der Bildung. Es geht uns dabei um rasche, aber nicht allein um kurzfristige Hilfe. Wir arbeiten für eine langfristig angelegte Partnerschaft, eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Niemand kann heute mit Sicherheit vorhersagen, wie es in Nordafrika und der arabischen Welt weitergehen wird. Es wäre vorschnell, anzunehmen, der Wandel wäre einfach oder die Freiheit hätte bereits gesiegt.

Die Demokratiebewegung muss sich vielerorts stabilisieren, muss teils auch erst richtig beginnen, sich zu organisieren. Noch sind die alten Kräfte vielerorts fest im Sattel, noch verfügen sie über Geld und Einfluss. Die nächsten sechs Monate werden für die politische Entwicklung entscheidend sein, aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.

Ich bin zuversichtlich, dass der Aufbruch am Ende erfolgreich sein wird. Der Impuls der Demokratiebewegungen kommt nicht von außen. Er kommt in jedem Land aus der Mitte der Gesellschaft. Die Umbrüche sind nicht vom Westen gestartet worden. Sie werden auch nicht vom Westen gesteuert. Das ist allein die Propaganda derer, die vieles im Sinn haben, nur nicht die Freiheit ihrer Völker.

Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, jede Gesellschaft ihren eigenen Weg gehen. Mit Rat und Tat wollen wir helfen, aber auch mit Respekt und Anerkennung für den großen Mut der Menschen.

Die Völker der arabischen Welt nehmen in diesen Monaten ihre Zukunft selbst in die Hand. Den Fahrplan zur Freiheit bestimmen sie selbst, aber wir Deutsche, wir Europäer stehen ihnen zur Seite.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich danke dafür, dass trotz der schrecklichen Bilder aus Japan, die wir sehen, und trotz der vielen Fragen, die uns beschäftigen, sich so viele von Ihnen die Zeit genommen haben, an dieser Debatte im Deutschen Bundestag über die Entwicklung in Nordafrika teilzunehmen. Ich glaube, allein schon das ist ein wichtiges Zeichen der Unterstützung an die gesamte Zivilgesellschaft in der arabischen Welt und in Nordafrika.


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Quelle:
Bulletin Nr. 26-1 vom 17.03.2011
Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle,
zum Umbruch in der Arabischen Welt vor dem Deutschen Bundestag
am 16. März 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2011