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REDE/734: "Berliner Rede" von Bundespräsident Horst Köhler, 24.03.2009 (BPA)


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"Berliner Rede" von Bundespräsident Horst Köhler am 24. März 2009 in Berlin:

"Die Glaubwürdigkeit der Freiheit"


Ich will Ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten.

Es war in Prag, im September 2000. Ich war neu im Amt als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. Mein Ziel war es, den IWF zum Exzellenzzentrum für die Stabilität des internationalen Finanzsystems zu machen.

Die Entwicklung auf den Finanzmärkten bereitete mir Sorgen. Ich konnte die gigantischen Finanzierungsvolumen und überkomplexen Finanzprodukte nicht mehr einordnen. Ich begann, kapitalmarktpolitische Expertise im IWF aufzubauen. Das sahen nicht alle gern. Und ich wunderte mich, dass sich die G7-Staaten nur zögerlich einer Überprüfung ihrer Finanzsektoren unterziehen wollten; solche Überprüfungen waren von den Mitgliedstaaten des Internationalen Währungsfonds 1999 als Lehre aus der Asienkrise beschlossen worden.

Viele, die sich auskannten, warnten vor dem wachsenden Risiko einer Systemkrise. Doch in den Hauptstädten der Industriestaaten wurden die Warnungen nicht aufgegriffen: Es fehlte der Wille, das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen.

Jetzt sind die großen Räder gebrochen, und wir erleben eine Krise, deren Ausgang das 21. Jahrhundert prägen kann. Ich meine: zum Guten, wenn wir aus Schaden klug werden.

Noch aber entfaltet die Rezession sich weiter. Jeder Kontinent ist erfasst. Die Finanzkrise hat blitzschnell durchgeschlagen auf die reale Wirtschaft. Gestern war Deutschland noch Exportweltmeister. Ein stolzer Titel fällt uns heute vor die Füße. Aufträge brechen weg, mit nie dagewesener Geschwindigkeit.

Es ist ein gutes Zeichen, dass die meisten Unternehmen in Deutschland versuchen, Entlassungen zu vermeiden. Sie wissen, dass sie ihre hoch motivierten und gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dringend brauchen, wenn sie die Krise überwinden wollen. Wir müssen aber auch ehrlich sein: Viele Unternehmen werden ihr Überleben und damit zugleich Arbeitsplätze nur sichern können, wenn sie sich auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen. Wir müssen uns darauf einstellen: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland wird sich wieder deutlich erhöhen.

Manche fragen: Können wir nicht einfach aussteigen aus der Globalisierung? Aber eine Volkswirtschaft, in der vom Brot bis zum Hemd, vom Computer bis zum Auto alles im eigenen Land hergestellt werden müsste, ist nicht mehr denkbar. Der Ausstieg aus den Weltmärkten würde unseren Wohlstand in kürzester Zeit vernichten.

Stellen wir uns also der Verantwortung. Sie deckt sich mit unserem Interesse. Wir verkaufen die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung ins Ausland. Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal. Deshalb müssen wir unser Gewicht jetzt aktiv und konstruktiv in die internationale Zusammenarbeit zur Überwindung der Krise einbringen.

Die große Chance der Krise besteht darin, dass jetzt alle erkennen können: Keiner kann mehr dauerhaft Vorteil nur für sich schaffen. Die Menschheit sitzt in einem Boot. Und die in einem Boot sitzen, sollen sich helfen. Eigennutz im 21. Jahrhundert heißt: sich umeinander kümmern.

Vor allem wir im Norden müssen umdenken. Auf unserer Erde leben derzeit etwa sechseinhalb Milliarden Menschen. Nur rund 15 Prozent von ihnen leben in Umständen wie wir. Weit über zwei Milliarden Menschen müssen mit zwei Dollar pro Tag auskommen, eine Milliarde sogar nur mit einem Dollar. Wir sollten uns nicht länger einreden, das sei gerecht so. Sicherheit, Wohlstand und Frieden wird es auch in den Industrieländern dauerhaft nur geben, wenn mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt. Wir brauchen eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten. Das heißt: Die Industrieländer - auch Deutschland - müssen sich fragen, was sich auch bei ihnen verändern muss, um der Welt eine gute Zukunft zu sichern.

Bundesregierung und Bundestag haben in den vergangenen Monaten Handlungsfähigkeit bewiesen und kurzatmigen Aktionismus vermieden. Ihr Wort hat Gewicht auch im europäischen und internationalen Krisenmanagement.

In Deutschland steht unsere Regierung vor schwierigsten Abwägungen und Entscheidungen. Sie betreffen das Wohl und Wehe vieler Menschen. Niemand hat fertige Rezepte. Wir können über unsere konkreten Schritte und die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, keine Sicherheit haben. Aber wir können darauf vertrauen: Die eingeschlagene Richtung stimmt.

Jeder ernsthafte Vorschlag muss ernsthaft gewogen werden. Das Ringen um die beste Lösung gehört zur Demokratie. Auch im Vorfeld einer Bundestagswahl gibt es aber keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung. Die Bevölkerung hat gerade in der Krise den Anspruch darauf, dass ihre Regierung geschlossen handelt und Lösungen entwickelt, die auch übermorgen noch tragfähig sind. Die Krise ist keine Kulisse für Schaukämpfe. Sie ist eine Bewährungsprobe für die Demokratie insgesamt.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind verunsichert. Sie fragen, was uns bevorsteht und was nun getan werden soll. Sie sehen die Einkommen der Banker, die Verluste der Anleger, die Krise vieler Betriebe und die riesigen Hilfsprogramme der Staaten. Und viele beginnen, am Wert und am Fortbestand des marktwirtschaftlichen Systems zu zweifeln.

Die Menschen brauchen mehr Information und Erklärung über das, was abläuft. Sie wollen wissen, wie sie sich selbst einbringen können, mit ihren eigenen Ideen und Vorstellungen. Parlamente und Regierungen im Bund und in den Ländern sind bei der Bewältigung der Krise auf die Unterstützung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Es geht darum, gemeinsam neue Wege zu finden.

Am Anfang steht die Frage: Wie konnte es zu dieser Krise kommen?

Noch kennen wir nicht alle Ursachen. Aber vieles ist inzwischen klar. Zu viele Leute mit viel zu wenig eigenem Geld konnten riesige Finanzhebel in Bewegung setzen. Viele Jahre lang gelang es, den Menschen weiszumachen, Schulden seien schon für sich genommen ein Wert; man müsse sie nur handelbar machen. Die Banken kauften und verkauften immer mehr Papiere, deren Wirkung sie selbst nicht mehr verstanden. Im Vordergrund stand die kurzfristige Maximierung der Rendite.

Auch angesehene deutsche Bankinstitute haben beim Umgang mit Risiko zunehmend Durchblick und Weitsicht verloren. Das konnte nur geschehen, weil sie den Bezug zu ihrer eigenen Kultur aufgaben: zu dem, was diese Häuser überhaupt erst zu Größe und Bedeutung geführt hatte - Sinn für Geldwertstabilität, Respekt vor dem Sparer und langfristiges Denken. Auch Banken können nur dauerhaft Wertschöpfung erbringen, wenn sie sich als Teil der ganzen Gesellschaft sehen und von ihr getragen werden. Wenn sie den Grundsatz unserer Verfassung achten: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll auch dem Allgemeinwohl dienen.

Doch das Auftürmen von Finanzpyramiden wurde für viele zum Selbstzweck, insbesondere für sogenannte Investmentbanken. Damit haben sie sich nicht nur von der Realwirtschaft abgekoppelt, sondern von der Gesellschaft insgesamt. Dabei geht es auch um Fragen der Verantwortung und des Anstands. Was vielen abhanden gekommen ist, das ist die Haltung: So etwas tut man nicht. Bis heute warten wir auf eine angemessene Selbstkritik der Verantwortlichen. Von einer angemessenen Selbstbeteiligung für den angerichteten Schaden ganz zu schweigen.

Derweil stockt das Blut in den Adern des internationalen Finanzwesens. Das hat überall Folgen, auch bei uns: Für Investitionen brauchen Unternehmen Kredite, und dafür müssen die Banken zusammenarbeiten. Aber sie misstrauen einander immer noch. Sie halten ihr restliches Geld fest. Die Finanzkrise stiftet Unsicherheit und lähmt weltweit den Unternehmungsgeist.

Wir erleben das Ergebnis fehlender Transparenz, Laxheit, unzureichender Aufsicht und von Risikoentscheidungen ohne persönliche Haftung. Wir erleben das Ergebnis von Freiheit ohne Verantwortung.

Aber Schuldzuweisungen und kurzfristige Reparaturen reichen nicht aus, wenn wir die tiefere Lehre aus der Krise ziehen wollen. Denn es gibt einen Punkt, der geht uns alle an. Obwohl der Wohlstand in der westlichen Welt, in Europa und auch in Deutschland seit den 70er Jahren beständig zunahm, ist auch die Staatsverschuldung kontinuierlich angestiegen. Man stellte Wechsel auf die Zukunft aus und versprach, sie einzulösen. Das ist bis heute nicht geschehen. Denn wir scheuten uns vor den Anstrengungen, die mit jedem Schuldenabbau verbunden sind. Wir haben die Wechsel an unsere Kinder und Enkel weitergereicht und uns damit beruhigt, das Wirtschaftswachstum werde ihnen die Einlösung dieser Wechsel erleichtern. Jetzt führt uns die Krise vor Augen: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.

Die Krise ging von den Industriestaaten aus - von denen, die sich bislang am stärksten fühlten. Und sie wirft ein Schlaglicht auf die Widersprüche, in die sich die industrialisierte Welt in den vergangenen Jahrzehnten verstrickt hat. Wir haben diese Welt selbst mitgestaltet. Aber wir finden uns immer weniger darin zurecht. So wuchs die Kluft zwischen den neuen Anforderungen der Wirklichkeit und unserem Anspruch, alles möge beim Alten bleiben.

Und wir haben uns eingeredet, es gebe einen Königsweg, diese Widersprüche aufzulösen: Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen. Solange das Bruttoinlandsprodukt wächst, so die Logik, können wir alle Ansprüche finanzieren, die uns so sehr ans Herz gewachsen sind - und zugleich die Kosten dafür aufbringen, dass wir uns auf eine neue Welt einstellen müssen.

Die Finanzmärkte waren Wachstumsmaschinen. Sie liefen lange gut. Deshalb haben wir sie in Ruhe gelassen. Das Ergebnis waren Entgrenzung und Bindungslosigkeit. Jetzt erleben wir, dass es der Markt allein nicht richtet. Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt. Denn Marktwirtschaft lebt vom Wettbewerb und von der Begrenzung wirtschaftlicher Macht. Sie lebt von Verantwortung und persönlicher Haftung für das eigene Tun; sie braucht Transparenz und Rechtstreue. Auf all das müssen die Menschen vertrauen können.

Dieses Vertrauen ist jetzt erschüttert. Den Finanzmärkten fehlte eine ordnende Kraft. Sie haben sich den Staaten entzogen. Die Krise zeigt uns: Schrankenlose Freiheit birgt Zerstörung. Der Markt braucht Regeln und Moral.

Und noch etwas müssen wir wissen: Freiheit ist ein Gut, das stark macht. Aber es darf nicht zum Recht des Stärkeren werden. Denn das ist der Haken an der Freiheit: Sie kann in denjenigen, die durch sie satt und stark geworden sind, den Keim der Selbstüberhebung legen. Und die Vorstellung, Freiheit sei auch ohne Verantwortung zu haben.

Freiheit ist kein Vorrecht, die besten Plätze für sich selbst zu reservieren. Wir wollen lernen, Freiheit nicht nur für uns zu nehmen, sondern sie auch anderen zu ermöglichen. Die Glaubwürdigkeit der Freiheit ist messbar: in unserer Fähigkeit, Chancen zu teilen. Nach innen. Und nach außen. Und in unserer Bereitschaft zur Verantwortung für den Nächsten und das Wohl des Ganzen. Wenn wir das schaffen, dann holen wir das Beste aus uns Menschen heraus, was in uns steckt.

Deshalb: Gerade die Krise bestätigt den Wert der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung. Sie vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Gegen diese Kultur wurde verstoßen. Lassen Sie uns die kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Es steht allen, insbesondere den Akteuren auf den Finanzmärkten, gut an, daraus auch Bescheidenheit abzuleiten und zu lernen.

Die Krise entfaltet aber auch schon ihr Gutes: Was zum Beispiel Barack Obama für die Wirtschaft und Gesellschaft der Vereinigten Staaten anstrebt, das ähnelt in Grundzügen unserem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Das zeigt auch: Die Deutschen haben etwas anzubieten beim Aufarbeiten der Krise.

Unsere Regierung und unsere Parlamentarier stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie müssen eine doppelte Gestaltungsaufgabe bewältigen: Zum einen geht es darum, eine sich selbst verstärkende Spirale nach unten zu verhindern. Und gleichzeitig müssen sie die Grundlagen für Stabilität und Wohlstand in einer Welt schaffen, die einen tiefgreifenden Wandel durchmacht.

Unmittelbar gilt es, den Geldkreislauf wieder in Gang zu bringen. Wir sprechen von der Lebensader der Wirtschaft. Sie muss versorgt sein, damit Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, auch morgen noch Arbeit haben. Es geht zugleich darum, einer länger anhaltenden, weltweiten Rezession entgegenzuwirken. Und die internationalen Finanzmärkte brauchen eine neue Ordnung durch bessere Regeln, effektive Aufsicht und wirksame Haftung.

An allen drei Aufgaben wird gearbeitet. Die Politik hat schnell und entschlossen reagiert. Die Banken werden mit Kapital und Garantien versorgt, damit der Geldkreislauf nicht völlig zum Stehen kommt. Die Konjunkturprogramme schaffen Nachfrage und helfen den Betrieben, durch die Krise zu kommen. Die staatlichen Hilfen für Banken und Betriebe kosten viel Geld. Dafür muss jetzt auch eine höhere Staatsverschuldung in Kauf genommen werden. Aber sie ist nur zu rechtfertigen, wenn das Geld klug eingesetzt wird. Für uns in Deutschland bedeutet kluger Einsatz:

Wir sind uns bewusst, die globale Krise verlangt eine globale Antwort. Das verlangt eine neue Qualität der internationalen Zusammenarbeit. Deutschland als größter Volkswirtschaft in der Europäischen Union kommt eine Führungsrolle zu. Es geht darum, der Krise die volle Wucht einer gemeinsamen Kraftanstrengung von 500 Millionen Menschen entgegenzusetzen. Nutzen wir die Krise, um der Einheit Europas ein neues Momentum zu geben.

Wir wirken mit Nachdruck darauf hin, den internationalen Finanzmärkten eine neue Ordnung zu geben. Grundsätzliche Orientierungen hierfür sollten sein: Die Banken müssen mit einem deutlich höheren Anteil an Eigenkapital arbeiten. Das schärft ihr Risikobewusstsein. Der Finanzmarkt braucht mehr Verbraucherschutz. Banker sollten nicht für Umsatz bezahlt werden. Sondern für Kundenzufriedenheit über den Tag hinaus. Es darf keine unregulierten Finanzräume, Finanzinstitute und Finanzprodukte mehr geben. Und: Die großen Finanzinstitute werden international unter eine einheitliche Aufsicht gestellt.

Wir verschenken das Geld nicht an die Banken. Wir fordern Gegenleistungen in Gestalt von Mitsprache, Zinsen und Mitarbeit bei der Krisenbewältigung. Die Steuerzahler haften mit gewaltigen Summen. Der Staat steht deshalb in der Verantwortung. Auch vorübergehende staatliche Beteiligungen können nicht ausgeschlossen werden. Der Schutz des Privateigentums, das konstitutiv ist für Freiheit und Wohlstand, wird dadurch nicht berührt.

Bei alledem gilt: Die Finanzkraft des Staates hat Grenzen. Auch Staaten können ihre Kreditwürdigkeit verlieren. Das dürfen wir nicht riskieren. Darum verpflichten wir uns schon jetzt verbindlich, die Staatsschulden wieder zurückzuführen, sobald die Krise überstanden ist. Denn wir dürfen die Frage der Generationengerechtigkeit nicht auf die lange Bank schieben. Wir stehen vor einem Glaubwürdigkeitstest für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Als Land in der Mitte Europas und als Exportnation sind wir auf freien Handel und möglichst viele Nationen angewiesen, die daran teilnehmen. Daraus ergibt sich für uns ein weiterer Handlungsauftrag:

Wir Deutsche sollten besonders engagiert eintreten für den raschen Abschluss der laufenden Verhandlungen über entwicklungsfreundliche Handelserleichterungen. Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy, hat mir berichtet: 80 Prozent der Streitfragen sind ausgeräumt. Es braucht eine letzte Anstrengung, Vernunft und politischen Entscheidungswillen, damit der Welthandel und so die weltweite Vertrauensbildung einen Schub bekommen. Die Europäische Union sollte Flagge zeigen. Auch ihre Zukunft hängt von offenen Weltmärkten ab. Und wir müssen auch im europäischen Binnenmarkt energisch allen protektionistischen Tendenzen entgegentreten.

Wir erleben Spannungen in der Eurozone. Und einige unserer Partner in Mittel- und Osteuropa stecken in der Klemme. Hier rächen sich Wachstumseuphorie und Reformversäumnisse. Dennoch sollte die Europäische Union zu Hilfe bereit sein. Aber sie muss auf der Bereitschaft unserer Partner zu Disziplin und Eigenverantwortung aufbauen können.

Auch in Asien, Lateinamerika und Afrika geraten immer mehr Länder in Schwierigkeiten. Und wir stellen fest: Die Weltwirtschaft ist deutlich unterversichert; die Mittel für solche Notlagen, für die vor Jahrzehnten Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gegründet wurden, sind nicht ausreichend. Es scheint sich ein Konsens zu entwickeln, die Finanzierungsmittel des IWF zu verdoppeln. Das ist gut. Mehr wäre besser.

Ich bleibe bei meinem Vorschlag, ein Bretton Woods II unter dem Dach der Vereinten Nationen zu organisieren, um eine grundsätzliche Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung voranzutreiben. Wir brauchen ein neues, durchdachtes Weltwährungssystem und ein politisches Verfahren für den Umgang mit globalen Ungleichgewichten.

Die Europäische Union kann einen großen Anstoß zur Reform der internationalen Finanzinstitutionen geben, wenn sich die Mitgliedstaaten darauf einigen, ihre Interessen im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank in einem Sitz zu bündeln. Schon mit dem Euro hat Europa mehr Kraft und Schutz gewonnen. Freiheit gewinnen durch Bündelung von Souveränität: Die Europäische Union sollte die Chance nutzen, dieses Friedensprinzip in eine neue Ära der kooperativen Weltpolitik einzubringen. Wir wollen dabei aber weiter sorgsam darauf achten: Was die Menschen vor Ort selbst besser entscheiden können, das bleibt ihnen auch in Zukunft überlassen.

Es ist eine Zeit gekommen, in der wir uns auf gemeinsame Menschheitsaufgaben verständigen und uns an sie binden können. Jetzt erkennen alle: Wir brauchen Ordnung in der Globalisierung, anerkannte Regeln und effektive Institutionen. Diese Ordnung muss dafür sorgen, dass globale öffentliche Güter wie internationale Finanzstabilität, Begrenzung der Erderwärmung und die Gewährleistung freien, fairen Handels gemeinsam definiert und bereitgestellt werden.

Es geht um unsere Verantwortung für globale Solidarität. Es geht um die unveräußerliche Würde aller Menschen. Es geht um eine Weltwirtschaft, in der Kapital den Menschen dient und nicht Herrscher über die Menschen werden kann.

Begreifen wir den Kampf gegen Armut und Klimawandel als strategische Aufgaben für alle. Die Industriestaaten tragen als Hauptverursacher des Klimawandels die Verantwortung dafür, dass die Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten davon getroffen sind. Der Kampf gegen die Armut und der Kampf gegen den Klimawandel müssen gemeinsam gekämpft werden.

Heute stellt die Welt uns die Globale Soziale Frage. Es ist unsere Pflicht, darauf Antworten zu finden. Es ist auch unsere große Chance. Zeigen wir: Der Norden lässt den Süden nicht im Stich. Die nötige Veränderung muss von überall her kommen.

Wir brauchen als Weltgemeinschaft ein gemeinsames, verbindendes Ethos. Wir müssen uns auf Werte verständigen, die wir alle teilen und deren Missachtung die Gemeinschaft nicht dulden wird. Das Grundprinzip lautet: Wir wollen andere in Zukunft nur so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen.

Deshalb müssen wir künftig auch Doppelstandards schärfer ins Visier nehmen. Das tut unserer Glaubwürdigkeit gut.

Ein Beispiel: Mit jahrzehntelangem, industriellem Fischfang hat auch die Europäische Union dazu beigetragen, dass die Küsten vor Westafrika inzwischen stark überfischt sind. Die Fischer Westafrikas können mit ihren Booten vom Fischfang heute immer schlechter leben. Da darf es uns nicht wundern, dass die Fischerboote immer mehr dazu benutzt werden, Flüchtlinge nach Europa zu transportieren. Wie viel effektiver, nachhaltiger und auch billiger wäre es doch gewesen, frühzeitig eine echte Partnerschaft mit den westafrikanischen Ländern einzugehen; gemeinsam Überwachungsmechanismen gegen Überfischung zu schaffen; gemeinsam dazu beizutragen, dass der Reichtum ihrer Fischgründe vor allem ihnen zugute kommt.

Ich stehe dazu: Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas.

Und wir wissen heute: Es wäre ein geringeres Risiko gewesen, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika zu bauen, als in eine angesehene New Yorker Investmentbank zu investieren.

Machen wir was aus unseren neu gewonnenen Erkenntnissen. Überprüfen wir unsere alten Gewissheiten und überwinden wir unsere Angst vor dem Unbekannten. Dann können wir die Freude entdecken, die in der schöpferischen Aufgabe liegt, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Mir ist nicht bange darum, dass wir es schaffen.

Denn wir haben damit schon lange angefangen. Mir macht es Mut zu sehen, wie immer mehr Menschen in Deutschland erkennen: Wenn die ganze Menschheit schon heute so leben wollte wie wir, dann bräuchten wir schon jetzt mehr als eine Erde. Aber wir haben nur die eine. Sie ist uns anvertraut. Immer mehr ziehen daraus persönliche Schlussfolgerungen und ändern ihre Lebensgewohnheiten. Sie haben erkannt: Jeder kann etwas beitragen.

Der Klimawandel zeigt: Die Erde wird ungeduldig. Wir brauchen eine neue Balance zwischen unseren Wünschen und dem, was der Planet bereit ist zu geben. Das geht auch die Staatengemeinschaft an. Denn dazu müssen die armen und die reichen Nationen aufeinander zustreben. Die reichen, indem sie Energie und Ressourcen einsparen und die Technik dafür liefern. Die armen, indem sie von vornherein ihr Wirtschaften auf das Prinzip der Nachhaltigkeit ausrichten und unsere Fehler vermeiden. Es geht um ein Wohlstandsmodell, das Gerechtigkeit überall möglich macht.

Wir wollen gemeinsam beschließen, nicht mehr auf Kosten anderer zu leben.

Die Klimaforscher sagen mir: Die Erde braucht ein weltweites System zum Handel mit Verschmutzungsrechten. Und sie sagen mir auch: Das gelingt umso besser, je mehr die Regeln der Marktwirtschaft zur Anwendung kommen. Durch Märkte und Regeln kann die Vergiftung der Umwelt überall und so schnell wie möglich zurückgeführt werden. Genauso wichtig ist es, in den Preis einer jeden Sache und Dienstleistung einzurechnen, was sie die Allgemeinheit kosten - an sauberer Luft, an endlichen Rohstoffen, an Abfall, an Lärm und Staus.

Ich bin überzeugt: Kostentransparenz und das Bemühen um möglichst umweltschonendes Wirtschaften werden ein Wettrennen in Forschung und Wissenschaft auslösen. Da bieten sich gerade uns Deutschen große Chancen. Wir sind schon jetzt weltweit führend in Umweltwirtschaft und Umwelttechnik. Fast zwei Millionen Menschen arbeiten da schon, Tendenz steigend.

Ernst Ulrich von Weizsäcker, der Träger des Deutschen Umweltpreises, hat schon vor Jahren die Vision von "Faktor vier" beschrieben. Das bedeutet die Verdoppelung des Wohlstands bei halbem Naturverbrauch. Machen wir uns klar, welcher Quantensprung bei Energie- und Ressourcenproduktivität möglich ist.

Nehmen wir uns deshalb die nächste industrielle Revolution bewusst vor: diesmal die ökologische industrielle Revolution. Dafür gute Voraussetzungen zu schaffen, verlangt ein intelligentes Zusammenwirken von Markt und Staat. Und die Verbraucher können wach und kritisch sein. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima der Innovationsfreude und ein starkes ökologisches Bewusstsein.

Das ist nicht nur eine Aufgabe der Wirtschaft. Es ist eine kulturelle Herausforderung. Der Mensch lebt nicht vom Brot alleine. So sah es auch Ludwig Erhard. Wohlstand war für ihn nicht Selbstzweck. Wohlstand war und ist auch heute Grundlage für ein Leben, das darüber hinausweist.

Machen wir aus Erhards Erkenntnis eine Frage an uns selbst: Wie viel ist genug? In der Welt nach der Krise wird es auch um Antworten auf diese Frage gehen. Wir haben allen Anlass, dankbar dafür zu sein, dass wir uns in freier Selbstbestimmung auf die Suche danach machen können. Dabei sollten wir wissen: Wir können uns nicht mehr hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum als Problemlöser und Friedensstifter in unseren Gesellschaften verlassen.

Was ist das: Glück? Ich finde, wir sollten uns neue Ziele setzen auf unserer Suche nach Erfüllung. Ja, unser Lebensstil wird berührt werden. Und: Unsere Lebensqualität kann steigen. Sparsamkeit soll ein Ausdruck von Anstand werden - nicht aus Pfennigfuchserei, sondern aus Achtsamkeit für unsere Mitmenschen und für die Welt, in der wir leben. Demokratie ist mehr als die Sicherstellung materieller Zuwächse. Wir wollen nicht nur gute Demokraten sein, solange sichergestellt wird, dass wir reich genug dafür sind.

Wir wollen Zufriedenheit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht länger nur von einem quantitativen "Immer Mehr" abhängig machen. Was in unserem Land wachsen muss, sind vor allem das Wissen und die Intelligenz, mit der wir unser Leben besser gestalten können.

Wir bauen die besten Autos der Welt. Das reicht aber nicht. Wir müssen die besten Autos der Zukunft der Welt bauen. Der Verband der Automobilhersteller sagt, das Null-Emissions-Auto kommt in 15 Jahren. Ich denke, das kann sogar schneller gehen. Ich habe großes Vertrauen in die Ingenieurskunst unserer Autobauer. Da gibt es zurzeit einen deutschen Hersteller, der in besonderen Schwierigkeiten steckt. Auch seine Ingenieure sind gut. Mir wird gesagt, sie haben weit in die Zukunft gearbeitet. Darin möchte ich Hoffnung für Opel sehen. Und in der Bereitschaft von Arbeitnehmern und Vorstand zum vertrauensvollen Miteinander jenseits aller Schablonen auch.

Das nötige Wachstum an Wissen und Können macht uns auch wach für unsere Versäumnisse bei Bildung und Integration. Wir können es uns nicht leisten, junge Menschen verloren zu geben. Jeder Einzelne von den rund 70.000 wird gebraucht, die Jahr für Jahr in Deutschland die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Wir müssen mehr tun für die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft. Das ist nicht nur gut für die Durchgelassenen. Das stärkt die Dynamik und Kreativität der Gemeinschaft insgesamt. Dünkel macht uns lahm. Genau wie das Verharren in Lebensumständen, in die wir hineingeboren werden.

Wir wollen auch den Wert und die Würde der Arbeit neu entdecken, die Menschen für Menschen leisten. Denn machen wir uns nichts vor: Unsere Fabriken werden sich weiter von Menschen entleeren. Die Maschine übernimmt weiter, was sie besser kann als wir. Aber das, was uns ausmacht als Menschen, das übernimmt sie nicht. Was ist der Wert der Arbeit einer Krankenschwester, die nachts einem Patienten in Not hilft und ihm Mitmenschlichkeit schenkt? Warum haben wir die Pflege alter Menschen zu Hause oder die Versorgung kleiner Kinder so lange in die Schwarzarbeit gedrängt? Ich bin sicher: In der Arbeitswelt der Zukunft werden Menschen wieder mehr mit Menschen zu tun haben. Denn da sind wir unersetzlich.

Schaffen wir mehr Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Zuwendung füreinander in diese Welt. In unsere eigene und in die der anderen. Wir haben alles Recht und allen Grund, uns stärker einzubringen. Denn wir tragen Mitverantwortung. Ich bin sicher: Sie zu schultern, das bringt uns neue Chancen und neue Antworten auf die Frage nach Sinn.

Wir können werben für die Art, mit der wir durch die vergangenen 60 Jahre unserer Geschichte gegangen sind. Wir sind froh über unser seit 20 Jahren wiedervereinigtes Deutschland. Die Deutschen haben sich die Fähigkeit zur Selbstkritik bewahrt. Wir sind als Nation bescheiden geblieben, auch als wir stärker wurden. Wir blicken ohne Zynismus, mit Offenheit und dem Angebot zur Partnerschaft auf die anderen. Wir bilden eine Gemeinschaft, die mit Friedfertigkeit auf ihre Nachbarn zugeht und dabei trotzdem zielstrebig ist. Helmut Schmidt hat recht: Wir sollten uns nicht größer machen, als wir sind.

Aber eben auch nicht kleiner.

Die Soziale Marktwirtschaft hat uns gezeigt: Solidarität ist nicht Mitleid. Solidarität ist Selbsthilfe. Wenn das Band zwischen Oben und Unten Halt gibt, dann kommt Kraft in eine Gesellschaft. Und mit ihr die Fähigkeit, auch scheinbar unlösbare Aufgaben zu bewältigen. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte. Arbeit, Kapital und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Bei uns. Und überall.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die kommenden Monate werden sehr hart. Auch für uns in Deutschland. Wir werden geprüft werden. Wir werden weiter Namen hören und uns wünschen, der Zusammenhang wäre ein anderer: Märklin, Schiesser, Rosenthal.

Wir werden Ohnmacht empfinden, und Hilflosigkeit und Zorn. Aber es gab auch noch nie eine Zeit, in der unser Schicksal so sehr in unseren eigenen Händen lag wie heute. Wir haben die Chance, Freiheit und Verantwortung in unserer Zeit nachhaltig aneinander zu binden. Die Verantwortung ist groß. Das liegt daran, dass unsere Freiheit so groß ist. Gehen wir sorgsam mit ihr um. Zeigen wir Demut vor der Freiheit. Vor unserer. Und vor der der anderen.

Schauen Sie sich um in dieser Kirche. Sie spricht zu uns bis heute über das Werk der Zerstörung, das Menschen anrichten können. Aber sie sagt auch: Wir können immer einen neuen Anfang schaffen. Es liegt an uns.


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Quelle:
Bulletin Nr. 37-1 vom 24.03.2009
"Berliner Rede" von Bundespräsident Horst Köhler am 24. März 2009 in Berlin:
"Die Glaubwürdigkeit der Freiheit"
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009