Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


PARTEIEN/146: Debatte - Die SPD muss sich wieder auf ihre innere Stärke besinnen... Links und frei (spw)


spw - Ausgabe 4/2015 - Heft 209
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Debatte: Nach vorn geht der Blick, nicht zu den falschen Antworten von gestern
Die SPD muss sich wieder auf ihre innere Stärke besinnen: Links und frei!

von Klaus Mindrup und Jan Stöß


Manche Botschaften, die in den letzten Monaten von der SPD zu hören waren, haben uns nicht genutzt. Dass ein Ministerpräsident gemeint hat, die CDU-Chefin mache als Kanzlerin einen ausgezeichneten Job, ist wohl auch ein Symptom dafür, dass man sich mit der der großen Koalition ganz gut arrangiert hat. Manche Botschaften bereiten eine Bewerbung vor: Als Juniorpartnerin einer großen Koalition 2017. Doch wer sich um diesen Posten bewirbt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht mehr gebraucht und in der Opposition landen. Umso ärgerlicher, dass das verstolperte Sommertheater den Blick verstellt hat auf das, was jetzt tatsächlich ansteht: Die Kursbestimmungen der Partei und ihre programmatische Aufstellung für 2017. Die Frage, wie die Sozialdemokratie wieder Mehrheiten für ihre Politik gewinnen kann.

Wenn man oberflächlich hinsieht, steht Deutschland im Augenblick anscheinend gut da. Diese Selbstzufriedenheit ist aber relativ - sie speist sich zuweilen aus dem Vergleich mit unseren europäischen Nachbar- und Partnerländern, in der viele Millionen Menschen mit ihrer ökonomischen Situation kaum zufrieden sein können. Auf den zweiten Blick stellt sich die Lage aber auch bei uns anders dar. Ohne die außergewöhnlich kräftig sprudelnden Steuereinnahmen und die historisch niedrigen Zinsen sähe die Bilanz der öffentlichen Haushalte völlig anders aus. Die nicht vorhandene Durchlässigkeit der Gesellschaft und die skandalös große Armut in unserem Land kann man zwar verdrängen, es gibt sie aber trotzdem. Und sie verlangen nach sozialdemokratischen Antworten.

In der großen Koalition hat sich die SPD auf den Weg gemacht, Fehler der Agenda 2010 zu korrigieren. Mindestlohn, Mietpreisbremse, Elterngeld Plus, der frühere Rentenzugang, die Verbesserungen der Pflege. Dies alles ist hart erkämpft und nötig, um ArbeitnehmerInnen wieder mehr soziale Sicherheit zu geben. All das reicht aber - wie die Umfragen zeigen - nicht aus, um zukünftig wieder Wahlen zu gewinnen. Wichtiger noch als die Frage, in welcher Parteienkoalition wir nach der Wahl eine Regierungsmehrheit für die SPD erreichen können, ist dabei entscheidend, welche Koalition von Wählerinnen und Wählern wir zusammenbringen um eine fortschrittliche Politik in unserem Land möglich zu machen. Diese Koalition muss breiter werden, als sie es 2013 war.

Den Anspruch, insbesondere die WählerInnen aus dem "Wartesaal" der Nichtwähler abzuholen, konnten wir nicht einlösen. Gerade die von der früheren Politik Enttäuschten haben nämlich weiterhin Zweifel, ob der Kurs von Dauer ist. Ihr Vertrauen ist zur Halbzeit der Groko jedenfalls nicht gewachsen. Vielfach gehen diese Menschen nicht mehr zur Wahl. Andere orientieren sich in Richtung konkurrierender Parteien. So ist es zum Beispiel bemerkenswert, dass wir in den großen Städten zwar eindrucksvoll Wahlen gewinnen können - nur nicht bei einer Bundestagswahl. Die sprichwörtlichen Stadtmenschen, die wachsende Zahl der MigrantInnen, die bürgerschaftlich Engagierten, die Kreativen, die Alleinerziehenden, die Patchwork- und Regenbogenfamilien, die, die mehr Beteiligung einfordern - (auch) sie müssen Teil der sozialdemokratischen Wahlkoalition sein. Und hierfür müssen wir unser Profil als moderne progressive Partei, als Partei der BürgerInnenrechte, bei den Themen digitale Gesellschaft, Gleichstellungspolitik, ökologische Modernisierung, humane Flüchtlingspolitik und einem Freihandel mit sozialen, kulturellen und ökologischen Standards schärfen - und das aus unseren Grundwerten herleiten:

Eine sozial-ökologische Marktwirtschaft braucht Regeln, die von demokratisch gewählten und legitimierten Parlamenten aufgestellt werden. Auch wenn die Regelung internationalen Handels wichtig ist: wenn das Primat der Demokratie bedroht ist, kann man diesen Vereinbarungen nur die Zustimmung verweigern. Schatten-Schiedsstellen, die über Milliarden entscheiden, sind mit unserem Grundgesetz und unserem Gestaltungsanspruch an Politik nicht vereinbar. Dies verstehen die Menschen in unserem Land - Buchhändler, Verbraucherschützer, Umweltschützer, Gewerkschaften und auch die Kirchen. Deshalb darf der Konventbeschluss zu den sozialen, ökonomischen und ökologischen Standards für die Freihandelsabkommen TTIP und CETA nicht relativiert werden. Nur durch klare Regeln entstehen neue Märkte, wie zahlreiche Beispiele zeigen, hier sind nur zwei genannt: Unsere Büchervielfalt - undenkbar ohne die Buchpreisbindung, die Energiewende - undenkbar ohne das EEG. Ohne klare Regeln zum Arbeitsschutz und zur Mitbestimmung gibt es keinen fairen Wettbewerb, sondern Dumping zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der fair arbeitenden Unternehmen.

Sinnvolle Regeln sind daher gut für das gemeinsame Zusammenleben, auch wenn uns Neoliberale über mehr als ein Jahrzehnt das Gegenteil verkauft haben. Der Verzicht auf Regulierung ist nichts anderes als eine Bremse für den sozialen und ökologischen Fortschritt. Im Übrigen zeigt der aktuelle Beschluss des EU-Parlamentes zu den Kriterien für TTIP und CETA, dass die aus der SPD-Linken entwickelte Kritik inzwischen in Europa breit geteilt wird.

In der Flüchtlingspolitik wünschen sich nicht nur die vielen solidarisch Engagierten eine lautere Kritik an konservativen und rechtspopulistischen Haltungen. Diese Themen sind im Alltag präsent wie schon lange nicht mehr. Sie mobilisieren wichtige MultiplikatorInnen des Alltags, die im linken politischen Lager das Bild von der politischen Arena und der SPD vor allem in den modernen Medien mit prägen.

Eine grundlegende Perspektivdebatte um "starke Ideen" ist in dieser Situation nur zu begrüßen. Sie muss aber zum Inhalt haben, dass wir damit den Herausforderungen wachsender sozialer Spaltung, der wachsenden Ungleichheit, der ökonomischen und sozialen Krise in Europa, der Krise des alten Wachstumsparadigmas und der Legitimationskrise der Politik gerecht werden.

Man kann es nur als absurd bezeichnen, dass wir unseren Weg als Export-Nation anderen Ländern als "Blaupause" empfehlen. Wie soll es möglich sein, dass alle Länder Handelsüberschüsse erwirtschaften? Helmut Schmidt hat dazu in seiner Rede am 4. Dezember 2011 vor dem SPD Bundesparteitag alles Notwendige gesagt, beklatscht und vergessen, könnte man sagen.

Genauso absurde Züge trägt die deutsche Griechenland-Politik der letzten Jahre. Deutschland hat in der Krise Konjunktur-Programme aufgelegt, auf die Privatisierung der Deutschen Bahn AG verzichtet und das Land Berlin ist dabei, die natürlichen Monopole zu rekommunalisieren; bei den Wasserbetrieben ist dies schon gelungen.

Bei der ersten Griechenland-Abstimmung hat sich die SPD Bundestagsfraktion - seinerzeit noch in der Opposition - wegen des Fehlens von konjunkturellen Impulsen in der verordneten "Therapie" enthalten. Seitdem gibt es eine Notoperation nach der nächsten, der man sich nicht verweigern konnte. Umso wichtiger ist jetzt, dass zusammen mit der EU konkrete Programme der Hilfe zur Selbsthilfe auf den Weg gebracht werden, z.B. die Förderung von dezentralen Projekten zum Einsatz Erneuerbarer Energien in der Hand von Kommunen und Kooperativen. Dies ist ein viel besserer Weg als die verordneten Privatisierungen von natürlichen Monopolen, die aber wieder zum Paket gehören und damit die Zustimmung so schwer gemacht haben.

Unsere Debatte war in den letzten Jahren nach den Erfahrungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und dem Wahldesaster 2009 schon etwas weiter. Jedoch sollte die Parteilinke nicht nur diesen Stand verteidigen. Sie sollte für einen sozial-ökologischen, einen sozialdemokratischeren Pfad eintreten. Eine Sozialdemokratie, die sich als bessere Managerin des immer noch tonangebenden ökonomischen Deutungsrahmens neoliberaler Marktwirtschaft mit sozialen Zugeständnissen präsentiert, wird ihre WählerInnenmilieus nicht begeistern, kaum Bündnisse mit Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und linken Parteien schmieden und nicht mehrheitsfähig sein können.

Die SPD sollte klug genug sein, die Binnenwirtschaft im Auge zu behalten. Das geht nicht ohne massive Investitionen in Infrastruktur und deren ökologische Modernisierung, soziale Dienste und Bildung. Insofern ist die Debatte um die Auflösung des gewaltigen Investitionsstaus richtig. Sie darf aber nicht als Einfallstor für teurere Privatisierungen durch die Hintertür dienen.

Über die Rolle des Staates, der auf diesem Wege auch Innovationen anstoßen kann, könnten auch Formen solidarischer Ökonomie forciert und gefördert werden, wie z.B. Genossenschaften, die schon heute einen unschätzbar wichtigen Beitrag für eine soziale Energiewende und die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraumes leisten. Gerade die Energiewende braucht verlässliche Rahmenbedingungen, vor allem für die Ausbreitung der notwendigen dezentralen Lösungen, die gemeinsam von innovativen Stadtwerken und Genossenschaften bereits heute praktiziert werden. Statt allein auf die Strombörse sollte die SPD auf Mieterstrom in Quartieren setzen, dies ist sozialer, ökologischer und volkswirtschaftlich sinnvoller.

Mit langfristigen, konjunkturunabhängigen Investitionspfaden könnten die dringenden Aufgaben im öffentlichen Sektor angegangen werden, vor allem in den Kommunen. Zwar hat die SPD-Bundestagsfraktion die Mittel für die Kommunen erheblich aufgestockt, notwendig sind aber strukturelle Lösungen, die erstens die Kommunen dauerhaft von den nicht durch sie verursachten Kosten entlasten und zweitens ein gerechteres Steuersystem.

Wichtig ist auch eine kluge Wirtschaftspolitik, die aus den wirklichen Ursachen der Krise von 2007 lernt: Wo bleibt die Börsenumsatzsteuer? Wo bleibt die gerechte Besteuerung von Großkonzernen, die ihre Gewinne aus Deutschland in Steueroasen überführen? Wo bleibt die europäische Rating-Agentur, um auch auf diesem Feld unsere Abhängigkeit zu reduzieren? Wo bleibt das Verbot des Handels mit gefährlichen "Finanzmarktprodukten"? Wo bleibt die Stärkung der Real- statt der Finanzwirtschaft?

Anstatt solche offenkundigen Optionen zuziehen, gelten in einer Regierung mit der Union das Zusammenspiel von schwarzer Null, Schuldenbremse und dem Verzicht auf Steuererhöhungen als sakrosankt. Damit bleibt es im Kern bei der neoliberalen Mechanik, dass bei der nächsten Krise, die sicher kommen wird, leere Kassen die Handlungsfähigkeit des öffentlichen Sektors untergraben und ihm und seiner Finanzierung die Legitimation entziehen.

Ein zeitgemäßes, solidarisches Verständnis der Gesellschaft und unserer WählerInnen ist eine unbedingte Voraussetzung der Debatte darüber, wie wir künftig leben und arbeiten wollen. Das Konzept des "Dritten Weges" aus den neunziger Jahren fokussierte sich im Kern darauf, einen Unterschied von linker und rechter Politik zu negieren und die soziale Frage nach der gerechten Verteilung von Vermögen und Einkommen - und der gerechten Verteilung von Teilhabechancen - nicht mehr zu stellen. Dies hat viele unserer WählerInnen von der Sozialdemokratie entfremdet und in vielen Fällen politisch heimatlos gemacht. Wir sollten diesen Fehler besser nicht wiederholen.

Wir brauchen Politikentwürfe und Erzählungen, die Gerechtigkeit und Leistung zusammen denken. Wir wollendemokratische Öffnung, einnachhaltigeres Wirtschaften, eine selbstbestimmtere Biographie, Chancengleichheit in der Bildung, eine sichere gerecht entlohnte Arbeit mit Mitgestaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten sowie eine den neuen und flexibilisierten Biographien angepasste soziale Sicherung, die auch im Alter den erarbeiteten Lebensstandard sichert. Kurz: Eine demokratischere und nachhaltige Gesellschaft, die wieder soziale Chancen öffnet. Deshalb brauchen wir auskömmlich und gerecht finanzierte Sozial- und Bildungsdienstleistungen.

Moderne Lebensformen brauchen Zeit. Die neuen Arbeitnehmer fordern daher nicht zuletzt mehr Zeitsouveränität für Familie, Freunde und gesellschaftliches Engagement ein. Sonst macht Arbeit oft krank. Es ist ein wichtiger Schritt, dass die SPD die Belastungen für die mittlere Generation benannt hat und abbauen will. Sie vertritt ihre WählerInnen, wenn sie sich die geschlechtergerechte Verteilung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit zu Eigen macht. Überlegungen wie die Familienarbeitszeit bieten Anknüpfungspunkte für die politische Umsetzung einer neuen emanzipatorischen Zeitpolitik.

Wir müssen entschieden gegen Diskriminierung eintreten. Die SPD sollte mit der klaren Botschaft in den nächsten Bundestagswahlkampf gehen, dass es eine Regierungsbeteiligung von ihr nur mit der Öffnung der "Ehe für alle" geben wird.

Es bedarf einer klar angelegten Strategie, die auch von der Parteilinken erst noch erarbeitet werden muss. Die Partei sollte den Mut zur großen Sache, zu einem Kurswechsel und der Arbeit an den entsprechenden Mehrheiten haben. Und dabei geht es dann doch auch wieder um die Parteienkoalition: Wer rot-rot-grün faktisch ausschließt, schließt damit praktisch auch rot-grüne Mehrheiten aus, weil man nur mit einer klaren Machtperspektive die eigenen AnhängerInnen mobilisieren kann.

Es wäre viel gewonnen, wenn wir unsere zentralen Forderungen auch in Konflikten durchhalten, auch bei Gegenwind. Das schafft wieder Vertrauen. Und Selbstvertrauen. Und damit sind wieder Mehrheiten für die SPD möglich, wie die Erfolge auf kommunaler und Landesebene zeigen.


Klaus Mindrup ist SPD-Bundestagsabgeordneter und in der Genossenschafts- und Umweltbewegung aktiv. Er lebt in Berlin.

Dr. Jan Stöß ist Landesvorsitzender der SPD Berlin und Vorsitzender des Forums Metropolenpolitik beim SPD-Parteivorstand.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2015, Heft 209, Seite 10-14
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Straße 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Europa Euro 49,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang