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PARTEIEN/138: Die SPD-Linke - Beispiele für ihre Funktion als Transmissionsriemen ... (spw)


spw - Ausgabe 6/2014 - Heft 205
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Die SPD-Linke - Beispiele für ihre Funktion als Transmissionsriemen progressiver sozialer Milieus nach 1945

von Max Reinhardt



Einleitung

Die SPD-Linke gibt es nicht. Das ist wohl die Lehre aus der Geschichte der SPD. Dennoch hat es immer wieder, auch erfolgreiche, Versuche gegeben, die SPD-Linke zu koordinieren, um einen linken Reformismus bis hin zu sozialistischen Transformationsvorstellungen zu repräsentieren. Der folgende Beitrag zeigt auf, dass die SPD-Linke nach 1945 vor allem von unten getragen und die SPD durch den gesellschaftlichen Druck von außen und innen modernisiert wurde. Gesellschaftliche und innerparteiliche Modernisierungen verliefen vielfach synchron, wie die Vorgeschichte und Geschichte zur Gründung des Frankfurter Kreises und des Leverkusener Kreises zeigen. Am Wandel des SPD-Bezirks Hannover lässt sich aufzeigen, wie komplex ein Machtwechsel ist und dass er durch gesellschaftliche Modernisierungen bedingt ist. Das Beispiel zeigt aber auch, wie notwendig innerparteiliche Modernisierungsprozesse sind, um sich modernisierten, kritischen Generationen zu öffnen.


SPD-Linke nach 1945

Die SPD-Linke war nach 1945 nur wenig organisiert (vgl. Seifert 1976: 236). Eine "programmatische und nicht interessenbedingte Opposition" war "in der Partei kaum in den Ansätzen vorhanden" (Petry [1] 1954: 665). Zwar wurden beispielsweise auf dem Berliner Parteitag 1954 einige Beschlüsse des SPD-Vorstandes abgeschwächt. Die hierfür u.a. verantwortlichen SPD-Funktionäre wie der Bezirksvorsitzende Südhessen Willi Birkelbach [2] und der Bezirksvorsitzende Mittelrhein Heinz Kühn [3] sah Petry jedoch nicht als wirkliche SPD-Linke. Selbst der Vorsitzende des Bezirks Hannover Franke, dessen autoritärer Politikstil in diesem Artikel noch näher beschrieben werden wird, versuchte auf dem Parteitag 1954 sich als "'linker Oppositioneller'" wieder in den SPD-Vorstand hineinwählen zu lassen, nachdem er zwei Jahre zuvor aus dem SPD-Vorstand abgewählt worden war (ebd.).

Die sozialistische SPD-Linke um Personen wie Wolfgang Abendroth oder Peter von Oertzen organisierte sich in den 1950er Jahren vor allem in Zeitschriftsredaktionen wie der 1954 gegründeten Sozialistischen Politik, nahm aber wenig Einfluss auf die SPD-Politik (vgl. Kritidis 2008). Schon Leo Kofler hatte den Verlust des Marxismus als Leitmotiv für die praktische Arbeit der Funktionäre konstatiert, für die der Marxismus nur noch ethische Maßstäbe hatte, in ihrer praktischen Arbeit aber kaum noch eine Rolle spielte (Kofler 1955: 68). Die programmatische Herabstufung des Marxismus zu einer Weltanschauung konnte die sozialistische SPD-Linke nicht verhindern. Die Herabstufung wurde dann auf dem Godesberger Parteitag 1959 nach jahrelanger Vorbereitung mit eindeutiger Mehrheit und nur 16 Gegenstimmen zementiert (vgl. Kritidis 2008, S. 431-441).

Die SPD-Führung reagierte nach Godesberg mit einem Ende ihrer "relative(n) Toleranz" und agierte in erster Linie restriktiv gegenüber linksoppositionellen Entwicklungen (Höhne 1975: 210). So wurde im Unvereinbarkeitsbeschluss von 1961 eine gleichzeitige Mitgliedschaft in SPD und im Förderverein für den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) untersagt. Der SDS war von linken Professoren gegründet worden, um den sich nach links und kritisch entwickelten SDS nach der fehlenden finanziellen Unterstützung durch die SPD finanziell und ideell zu unterstützen. Der in den ersten Jahren nach 1945 noch parteikonforme SDS wurde gemeinsam mit anderen kritischen Studentenverbänden zu einem wichtigen Akteur der Außerparlamentarischen Opposition (zum SDS vgl. Fichter/Lönnendonker 2007; zum Wandel der Verbände vgl. Richert 1969: 88-114).

Bereits vor dem Godesberger Parteitag trafen sich um die 30 linke Sozialdemokraten 1959 in Elze, südlich von Hannover. Ihre Treffen waren nicht öffentlich, um Restriktionen durch die SPD-Führung wegen Fraktionsbildung zu vermeiden (Wettig 2009, S. 20; zum Elzer Kreis vgl. auch Fichter/Lönnendonker 2007 [1977], S. 92; zusammenfassend vgl. Reinhardt 2014: 35). Der Elzer Kreis löste sich 1962 wieder auf, zumal sich die Meinungen zum SDS- Unvereinbarkeitsbeschluss deutlich unterschieden (Kritidis 2008: 496).

Ein anderer Arbeitszusammenhang linker Sozialdemokraten war der "'Arbeitskreis IV' der Gesellschaft für Forschung unter internationaler Kooperation auf dem Gebiet der Publizistik e. V." (GfP), der in Frankfurt am Main tagte und die Zeitschrift express international herausgab, die sich mit linken Bewegungen weltweit solidarisierte, die SPD-Führung für ihren autoritären Stil kritisierte und die SPD als Partei der Arbeiter und Arbeitnehmer verstand (zum Arbeitskreis IV vgl. Müller-Rommel 1982, S. 70; zu den Themen der Zeitschrift siehe Reinhardt 2014: 58 f.).

Die Jungsozialisten modernisierten sich seit Mitte der 1965er Jahre und entwickelten sich zu einem kritischen Verband. Die linken Jungsozialisten mit den Stamokaps, den Antirevisionisten und den Reformsozialisten rekurrierten auf Traditionen der Sozialdemokratie, die spätestens mit dem Godesberger Programm 1959 überholt zu sein schienen, und speisten sich wie vor allem die Antirevsionisten in Hannover und Göttingen aus Ideen der Außerparlamentarischen Opposition (vgl. Stephan 1979: 34-38).

Mit der Linkswende der Jungsozialisten seit Ende der 1960er Jahre wurde eine Organisation der SPD-Linken wieder aktuell. So traf sich SPD-Linke in Frankfurt am Main, um programmatisch und personalpolitisch Einfluss zu nehmen (Müller-Rommel 1982: 74). Sie kritisierten "die weitgehend konzessionsbereite Politik der SPD gegenüber der CDU/CSU", das Primat der Regierungspolitik gegenüber der Partei, den Umgang mit den verlorenen Landtagswahlen, die Abwendung der SPD von ihrem sozialistischen Selbstverständnis und die verklärende Umweltpolitik (Müller-Rommel 1982: 70 f.; zu den Positionen vgl. auch SPIEGEL 1967: 28; zusammenfassend Reinhardt 2014: 51). Die SPD-Linke vertrat einen staatlichen Interventionismus bis hin zu einer sozialistischen Transformation, während die SPD-Rechte Anhängerin einer Sozialen Marktwirtschaft war (vgl. Gebauer 2005: 134-138).

Die SPD-Linke konnte bereits auf dem Saarbrückener Parteitag 1970 Anträge entscheidend mitbestimmen und mehr Teilhabe und Mitbestimmung sowie mit der gemeinsamen Erarbeitung des Orientierungsrahmens '85 eine Diskussion über das Grundsatzprogramm der SPD erreichen (Müller-Rommel 1982: 76). Besonders erfolgreich waren auf dem Parteitag in Hannover 1973 die programmatischen Abstimmungen, so zum Beispiel die Abschwächung der Berufsverbote in der Praxis, und die Wahl von SPD-Linken, insbesondere von linken Gewerkschaftern wie Werner Vitt und Hans Matthöfer in den Vorstand (vgl. Reinhardt 2014: 54 f.).

Auch die neue Generation von Bundestagsabgeordneten unterschied sich von den vorherigen Generationen. Die Fraktionslinke organisierte sich 1969 vor allem aus jüngeren Bundestagsabgeordneten in der Gruppe der 16. Etage und seit 1972 im Leverkusener Kreis. Viele der jüngeren Bundestagsabgeordneten waren in Berufen des Erziehungswesens mit einem hohen Grad an Autonomie als Maßstab für das berufliche Leben tätig und wollten keine "parlamentarische(r) Erfüllungsgehilfe[n] der Exekutive" sein. (Müller-Rommel 1982: 149 f.; zusammenfassend siehe auch Reinhardt 2014: 53; zum Autonomieverständnis der sozialen und kulturellen Dienste vgl. Müller 1998).

Die SPD-Flügel rangen um die programmatischen und personalpolitischen Erfolge. Sie bemühten sich in diesen Jahren um einen Konsens, so zum Beispiel zum Mannheimer Parteitag 1975. Der neue Faktionskorporatismus führte zu programmatischen Teilmodernisierungen in der Klimapolitik und der Frauenpolitik (&sect, 218, Lohnpolitik) (zum Faktionskorporatismus siehe Müller-Rommel 1982, S. 86; zu den Themen siehe Glotz 1976: 11; zu beidem zusammenfassend siehe auch Reinhardt 2014: 60 f.). Eine kritische Gruppe um Karl-Heinz Hansen, Norbert Gansel und Erich Meinike wollte verhindern, dass auch die SPD-Linken zu einer theorielosen, an Wahlen orientierten Karriereseilschaft und damit für Neue Soziale Bewegungen (NSB) und Gewerkschafter immer weniger erkennbar wird (zu der kritischen Gruppe siehe Müller-Rommel 1982, S. 87, zu den Gefahren der Entwicklung der SPD-Linken vgl. Raschke 1993 [1974], S. 53 f.). Die SPD-Linke wurde zunehmend dominiert und "jede Kritik in der Fraktion [...] zum potenziellen Kanzlersturz hochstilisiert" (Schöler 1992, S. 55). Die SPD verlor, trotz Öffnungsversuchen durch Erhard Eppler und andere, zunehmend die neuen, alternativ-ökologisch und emanzipativ eingestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den sozialen und kulturellen Berufen, seit 1979/80 vor allem an die Grünen (vgl. von Oertzen 2004; Müller 1998).

Bei ihrem Treffen 1977 im westfälischen Oer-Erkenschwick zeigte die Fraktionslinke mit etwa 100 Mitgliedern, wie stark sie geworden war (vgl. Ristock 1977). Sie repräsentierte zunehmend auch die neuen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und warf dem Bundeskanzler Schmidt vor, "als Gewährsträger herrschender Machtstrukturen zu fungieren " (Gebauer 2005, S. 145). Ein entscheidender programmatischer Durchbruch gegen eine Raketenstationierung (Revision des Natodoppelbeschlusses) und zum Ausstieg aus der Kernenergie gelang erst nach dem Regierungswechsel in der Oppositionszeit. Auch das neue Grundsatzprogramm, das Berliner Programm, trug mit den Forderungen nach einer ökologischen Erneuerung und einer Neuordnung von Wirtschaft und Kapitalismus die Handschrift der SPD-Linken um Peter von Oertzen und Erhard Eppler (vgl. Reinhardt 2014: 60-75).

Der Frankfurter Kreis war "eine Koordinierungsstelle der Linken, keine 'Zentrale', keine 'Fraktion' im Sinne einer verbindlich-disziplinierten Einflussgruppe", so der langjähriger Sprecher Horst Peter. "'Der Frankfurter Kreis ist zumindest in den 80er Jahren in der inhaltlichen Arbeit bewusst offen gewesen'" und hat "'immer nach dem Konsens-Prinzip gearbeitet, da hat es nie Abstimmungen gegeben'" (Leif/Raschke 1994: 131). Sicherlich auch deshalb war eine Öffnung der SPD für die Themen der Neuen Sozialen Bewegungen zumindest thematisch und partiell durch einzelne Akteure auch personell gelungen. Die SPD, auch weite Teile der SPD-Linken, blieben dennoch den NSB gegenüber distanziert, so dass dieses Bündnis eher brüchig war (vgl. ebd.: 137).

Die nachholende Demokratisierung der Gesellschaft seit Ende der 1960er Jahre in Fragen der Erziehung, Bildung, des Polizeiwesens der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie der Teilhabe im Betrieb und in den staatlichen Institutionen ging einher mit der nachholenden Demokratisierung der SPD. "Die Auswahl von Funktions- und Mandatsträgern" wurde, so der frühere linke stv. Juso-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Norbert Gansel, durch die Arbeit der Jungsozialisten (Anm. des Verf.: zumindest zeitweise und bei einigen Wahlen) "losgelöst von Verwandtschaften und persönlichen Beziehungen" (Voigt/Gansel/Roth 1990: 35). Das Blockwahlsystem wurde, so der frühere linke Juso-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt, in der SPD abgeschafft und die geheime Wahl eingeführt (Voigt/Gansel/Roth 1990: 40).


Der SPD-Bezirk Hannover: Linkswende Konsensorientierung

Auch im SPD-Bezirk Hannover hatte "das politische Klima der SPD" das um den Vorsitzenden Egon Franke etablierte "System von Machtkonzentration und Machtaufteilung, Personenblockade und Personenpatronage" befördert (Wettig 1989: 136). Franke war als Vorsitzender des größten SPD-Bezirks gleichzeitig auch Vorsitzender des Landesausschusses der Partei. Der Geschäftsführer des SPD-Bezirks Hans Striefler war gleichzeitig auch Geschäftsführer des Landesausschusses und des Fraktionsvorstandes. Die niedersächsische SPD war vor allem in den Städten erfolgreich und auf dem Lande vergleichsweise schwach, was mit zur Zentralisierung der SPD in Hannover beitrug. "Erst ab Mitte der sechziger Jahre" änderte sich diese "Selbständigkeit von der Zentrale" der SPD durch bessere Wahlergebnisse und wachsende Mitgliederzahlen in den Regionen (ebd.). Die SPD änderte sich auch in Niedersachsen durch die neuen Mitglieder und modernisierte sich in den 1960er Jahren. Kritik wurde punktuell formuliert, so 1965 an der von der SPD-Bezirksführung mitgetragenen Konkordatspolitik des Landes Niedersachsens mit der Katholischen Kirche und an der Personalpolitik im Rahmen der Bildung der Großen Koalition nach dem Bruch der Koalition von Union und FDP. Die SPD-Bezirksführung reagierte autoritär und wies die Kritiker harsch zurecht (ebd.: 137).

Es bildete sich eine flügelübergreifende Gruppe von "Kritiker(n) in der Landtagsfraktion [...] um die Landtagsabgeordneten (Richard) Lehners, (Helmut) Greulich, (Hans) Bartel, (Klaus-Peter) Bruns und (Ernst-Georg) Hüper" heraus, die "eine Neuverteilung der Positionen, vor allem aber mehr Unabhängigkeit vom Landesausschuss" wollten. "Peter von Oertzen wurde sehr bald als der politische Kopf der Gruppe akzeptiert, während Greulich und Hüper die Organisatoren und Motoren waren" (ebd.:). Sehr kritisch waren die Jungsozialisten, der Sozialdemokratische Hochschulbund und die IG Chemie - Papier - Keramik, die entgegen der einstimmigen Mehrheit des Landesausschusses der SPD eine Fortsetzung der Großen Koalition nach der Landtagswahl 1967 verhindern wollten (ebd.: 138).

Auf dem Bezirksparteitag im Februar 1968 trat Peter von Oertzen zwar noch nicht für den Vorsitz an, aber personalpolitisch hatte die Oppositionsgruppe erste Erfolge. Der Parteitag zeigte zudem bereits einen Kulturwandel, auch befördert von der "diskussionsfreudiger(en)" "Delegierten-Generation". Er war "mit den früheren Appell-Parteitagen" nicht mehr vergleichbar. Reformen der Satzung des SPD-Bezirks auf dem außerordentlichen Bezirksparteitag 1969 verbesserten u.a. die Teilhabemöglichkeiten der Jungsozialisten vor allem in den großen Ortsvereinen durch "eine annähernd gleiche Vertretung der Mitglieder" bei den Delegiertenzahlen (ebd.: 141).

Peter von Oertzen wollte 1970 für den Vorsitz des SPD-Bezirks Hannover gegen Franke und mit Klaus Wettig, dem Vorsitzenden der Jungsozialisten im Bezirk der SPD Hannover, als Wahlkampfkoordinator kandidieren. Von Oertzen wurde über Wettig von den Jungsozialisten, über Greulich und Hüper von den Landtagsabgeordneten in den Unterbezirken und über Greulich vom DGB, IG Metall und IG Chemie unterstützt. Allerdings verlief die Auseinandersetzung zwischen Franke und von Oertzen weitgehend "verdeckt", auch weil Restriktionen durch die Franke-Gruppe befürchtet wurden, falls von Oertzen nicht gewinnen sollte. Er erreichte aber einen deutlichen Sieg mit 149 gegen 107 Stimmen, vor allem auch weil viele Jungsozialisten Delegiertenmandate hatten erringen können. Auch Bruns und der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag Helmut Kasimier setzten sich gegen Franke-Anhänger durch.

Die Gruppe um von Oertzen, Greulich und Hüper war flügelübergreifend. Die von Oertzen-Anhänger erreichten bei der Wahl zum Bezirksvorstand 1970 noch keine Mehrheit, was eine linke und progressive Regierungs- und Parteiarbeit erheblich erschwerte (ebd.: 143). 1972 änderten sich die Mehrheiten im Bezirksvorstand zu Gunsten der linken Sozialdemokraten um Peter von Oertzen. Der SPD-Rechte Hüper wurde nicht wieder in den Vorstand gewählt. Bis zum Ausscheiden von Peter von Oertzen aus dem Vorstand 1983 erzielten die von Oertzen-Anhänger im Bezirksvorstand immer wieder die Mehrheit (ebd.: 144).

Von Oertzen agierte integrativ und legte großen Wert auf die Einhaltung demokratischer Abläufe, um Chancengleichheit für die Kandidaten der unterschiedlichen Gruppen und Flügel zu wahren. Er setzte seine Personalpolitik nicht autoritär durch, so dass insbesondere in der Gruppe der Bundestagsabgeordneten die Kritiker blieben. Peter von Oertzen unterstützte Jungsozialisten und Gewerkschafter dabei, Funktionen und Ämter zu erreichen, so zum Beispiel Herbert Schmalstieg bei seiner erfolgreichen Wahl zum Oberbürgermeister 1972 sowie die IG-Chemie-Gewerkschafter Hermann Rappe und Wolfgang Schultze bei ihrer Wahl zu Parlamentariern (ebd. 146).

In der Zeit Peter von Oertzens als Bezirksvorsitzender wurde ein offener Diskussionsstil gepflegt und Ausgrenzungen beispielsweise der antirevisionistisch eingestellten Jungsozialisten vermieden, die in der Tradition der Neuen Linken für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft durch Bündnisse mit außerparlamentarischen Bewegungen eintraten (vgl. Stephan 1979, S. 39-42).

Mit dem Wandel der demokratischen Kultur ging auch der Aufbau einer politischen Bildungsarbeit und der Vertrauensarbeit einher, die aber nicht flächendeckend umgesetzt wurde (Wettig 1989: 147). Auch der Wahlkampfstil, vor allem zur Landtagswahl 1970 in Niedersachsen, war, mit Unterstützung der Jungsozialisten, sehr modern und kreativ (ebd.: 145).


Rollback

Die SPD-Linke war, zumindest partiell Trägerin und Repräsentantin gesellschaftlicher Modernisierungen und modernisierter sozialer Milieus, vor allem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mit der zunehmenden Neoliberalisierung der Politik seit den 1980er Jahren, in der Sozialdemokratie vor allem seit den 1990er Jahren wurden Solidaritätszusammenhänge geschwächt. Der Aufstieg der Politikmanager verlief parallel zum Aufstieg der Neue Manager in der New Economy. Die SPD entfremdete sich nun auch zunehmend von ihrer Mitte, den etatistischen Sozialstaatslinken und den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (vgl. Reinhardt/Stache 2014; zu den Neuen Managern vgl. Vester 2001 u.a.: 39).

Im Grunde hat die SPD ihre Öffnungs- und Modernisierungsprozesse nur unzureichend fortgesetzt, ja in den 1990er Jahren und folgende sogar partiell nur noch zur Professionalisierung von Wahlkampagnen genutzt. Die SPD-Linke hatte zwar ihren Anteil am Erfolg bei der Bundestagswahl 1998, zumal Oskar Lafontaine ihr Repräsentant geworden war. Nach seinem Rücktritt als Vorsitzender und Finanzminister jedoch führte sie im Grunde genommen nur noch Abwehrkämpfe und hatte meist keinen Erfolg. Erst nach der deutlichen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2009 mit einem Kandidaten aus dem Netzwerk um Gerhard Schröder konnte die SPD-Linke sich wieder verstärkt einbringen und das intellektuelle Vakuum der SPD-Rechten programmatisch ausfüllen. Die SPD-Linke war für das Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 maßgeblich verantwortlich. Allerdings verlor die SPD die Bundestagswahl 2013 wieder mit einem SPD-Rechten als Kanzlerkandidaten (Peer Steinbrück).

In linken sozialdemokratischen Zusammenhängen wie dem Forum Demokratische Linke 21, dem Kasseler Kreis, bei den Jungsozialisten, bei der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, bei der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen und anderen sozialdemokratischen AGs, in einigen Untergliederungen der SPD sowie in der spw engagieren sich Mitglieder, weil sie Raum für Teilhabe bekommen und ihre progressiv-solidarischen gesellschaftspolitischen Vorstellungen einbringen können. Ein moderner, teilhabeorientierter Politikstil entspricht den Einstellungen moderner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die oftmals der traditionellen Parteipolitik und neoliberalen Managementvorstellungen gegenüber skeptisch bis ablehnend eingestellt sind und unkonventionelle, basisdemokatische Beteilungsformen bevorzugen (zu den politischen Einstellungen vgl. Vester 2001 u.a.: 61-64).


Ausblick

Eine Koordinierung aller linken Strömungen kann nur dann funktionieren, wenn sie als eine offene Teilhabeplattform organisiert ist, an der sich linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beteiligen. Eine SPD-Linke von oben jedenfalls kann es zwar geben, wird aber kaum Anerkennung finden und deshalb nur von geringer Lebensdauer sein. Die Wählerinnen und Wähler, die die SPD-Linke programmatisch repräsentieren könnte, erwarten Teilhabemöglichkeiten und wollen die Programmatik mitbestimmen. Der einige Jahre andauernde Aufstieg der Piraten und das zeitweise Erstarken der Grünen im Zuge von Stuttgart 21 und Fukushima haben diesen Bedarf erneut nachgewiesen. Eine SPD-Linke muss offen sein für neue gesellschaftspolitische Konflikte und neue Solidaritätsformen, aber auch alte Traditionslinien erkennen, wo sie weiterbestehen. Dann könnte ein Bündnis von Gewerkschaften und NSB gelingen (vgl. Reinhardt/Stache 2014).


Dr. Max Reinhardt promovierte an der Universität Hannover mit einer Arbeit über die SPD-Flügel seit 1945 und zwei Generationen von sozialdemokratischen Repräsentanten. Er ist Mitherausgeber und Mitautor des 2014 erschienen Buches "Progressive Mehrheiten mit der SPD? Für eine linke Politik jenseits der Neuen Mitte".


Endnoten

[1] Richard Petry ist ein Synonym für Peter von Oertzen. Einige Artikel linker Autoren wurden mit Synonym veröffentlicht, weil sie sehr kritisch waren und die Autoren Restriktionen durch den SPD-Vorstand fürchteten, wenn sie mit ihrem Namen publiziert hätten.

[2] Ähnlich kritisch schätzte auch Wolfgang Abendroth Birkelbach in einem Brief am 01.09.1954 ein (vgl. Kritidis 2008: 125).

[3] Heinz Kühn meinte in einem Interview im SPIEGEL 1973, er "halte nicht viel von den Definitionen rechts oder links". Kühn hatte ein positives Verhältnis zur Bundeswehr und zur Kirche und trat für die SPD als "eine linke Volkspartei" ein (SPIEGEL 1973: 32).


Literaturverzeichnis

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2014, Heft 205, Seite 28-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2015


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