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MILITÄR/964: Testmobilmachung gen Osten - Teil 3 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 23. Januar 2020
german-foreign-policy.com

Testmobilmachung gen Osten (III)

US-Großmanöver Defender Europe 20:
Erste Truppenverlegungen durch Deutschland beginnen heute


BERLIN/WASHINGTON - Entgegen allen bisherigen Ankündigungen beginnt das gegen Russland gerichtete US-Großmanöver Defender Europe 20 bereits am heutigen Donnerstag mit ersten Truppenverlegungen der U.S. Army quer durch Deutschland. Damit starten die Truppenbewegungen in Richtung Osten, die laut Angaben der Bundeswehr bis Mai andauern sollen, schon ein knappes Vierteljahr vor dem offiziellen Beginn der Hauptphase des Manövers - einen Monat früher, als die US-Streitkräfte es zuvor angegeben hatten. Bei dem größten Manöver der Vereinigten Staaten in Europa seit über 25 Jahren probt die Bundeswehr laut eigenen Angaben "vor allem die möglichst schnelle Verlegung großer militärischer Einheiten in potenzielle Konfliktgebiete". Dabei üben die NATO-Staaten nicht nur die Truppenverlegung an die Front im Osten, sondern auch den heißen Krieg gegen Russland: Sieben weitere Militärübungen werden in Defender Europe 20 eingegliedert, um im Rahmen eines umfassenden Konfliktszenarios in Osteuropa ein "Schlachtfeldnetzwerk" zu errichten. Das Szenario spielt laut US-Angaben im Jahr 2028.

Erste Truppenverlegungen

Nach offiziellen Angaben der U.S. Army Europe liegt die Hauptphase von Defender Europe 20 in den Monaten April und Mai, wobei mit Truppenbewegungen schon ab Februar und bis Juli zu rechnen sei.[1] Auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche gaben NATO und Bundeswehr nun aber abweichend bekannt, dass schon ab dem heutigen 23. Januar bis zum Sonntag (26. Januar) die ersten Transporte stattfinden werden. Sie sollen jeweils zwischen 22 Uhr und 6 Uhr abgewickelt werden - aus Bremerhaven kommend zum einen über die A24, die A10 (Nordring) und die A11 ins polnische Szczecin, zum anderen über Hannover und die A2, die A10 (Südring) sowie die A12 in Richtung Frankfurt an der Oder. Dass, anders als bisher angekündigt, erste Verlegungen schon im Januar stattfindenden, lässt daran zweifeln, dass die Truppenbewegungen tatsächlich im Juli abgeschlossen sein werden.

Die NATO auf Kriegskurs

Kern der militärischen Großübung ist das Verlegen einer Division der U.S. Army über den Atlantik in größtmögliche Nähe zur russischen Grenze. Auf zwölf unterschiedlichen Routen, die Land- (Straße und Schiene), Luft- und Wasserwege (Meer und Fluss) umfassen (german-foreign-policy.com berichtete [2]), werden die US-Soldaten, begleitet von europäischen Militärs, gen Osten ziehen und dabei große Mengen an Fahrzeugen und Gerät mitführen. Vor allem in Polen und im Baltikum werden sie dann in einem "Schlachtfeldnetzwerk" [3] den Krieg gegen Russland proben, bevor sie wieder zurückverlegen - ein klares Zeichen Richtung Moskau.

Vom Konflikt zur Konfrontation

Kritik an den aggressiven Zuspitzungen der NATO-Ostpolitik kommt inzwischen sogar von prinzipiellen Befürwortern der NATO-Osterweiterung. Mit der Osterweiterung waren die westlichen Staaten bereits in den 1990er Jahren auf Konfrontationskurs mit Moskau gegangen. Die kontinuierliche Ausdehnung des NATO-Gebiets in Richtung Osten hatte dabei die Kräfteverhältnisse in Europa grundlegend verschoben; am Horizont der Expansionspolitik stand von Beginn an die direkte Konfrontation mit Russland. Die Bemühungen des westlichen Kriegsbündnisses, auch die Ukraine einzugliedern - der NATO-Beitritt hat seit vergangenem Jahr in der Ukraine Verfassungsrang -, nennt August Pradetto, Professor für internationale Beziehungen an der Hamburger Bundeswehr-Universität, eine "völlig verfehlte Politik": Es sei "ein Desaster gewesen, diese Politik der Osterweiterung 2014 auf die Tagesordnung zu setzen", urteilte Pradetto vergangene Woche in Hamburg.[4] Russlands Verhalten in der Krim-Krise sei eine völlig "absehbare Reaktion" auf die Politik der NATO gewesen. Das Kriegsbündnis hat nun allerdings genau diese Reaktion noch im Jahr 2014 zum Anlass genommen, eine neue Eskalation seiner Ostpolitik einzuleiten - in Fortsetzung seiner seit den 1990er Jahren im Wesentlichen unveränderten Bestrebungen, möglichst große Teile Osteuropas aus dem russischen Einflussbereich herauszubrechen und sie in seinen eigenen Einflussbereich einzugliedern.

Ausbau der Nachschubtruppen

Um die neu gewonnenen Gebiete unter Kontrolle zu nehmen, hat der NATO-Machtblock im Laufe der vergangenen sechs Jahre begonnen, seine militärische Infrastruktur in Osteuropa auszubauen. Mit der Stationierung von NATO-Truppen in Polen und den baltischen Staaten und mit dem Aufbau einer Art Mini-Hauptquartiere (NATO Force Integration Units, NFIU, german-foreign-policy.com berichtete [5]) ging als weiterer wesentlicher Bestandteil des Militarisierungsprozesses [6] ein kontinuierliches Aufstocken der Nachschubtruppen einher. Auf dem NATO-Gipfel im September 2014 in Wales wurde zunächst beschlossen, die NATO Response Force (NRF) - die Schnelle Eingreiftruppe der NATO - auf 40.000 Soldaten und damit auf mehr als das Dreifache ihrer vorherigen Größe aufzustocken. Außerdem wurde innerhalb der NRF eine neue Unterstruktur eingeführt: die NATO-"Speerspitze" (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF), die noch schneller einsetzbar sein soll als die NRF, nämlich innerhalb von nur 48 Stunden.

Der erste Testlauf

Auf ihrem Gipfel im Juli 2018 in Brüssel rief die NATO dann noch zusätzlich die "Initiative Reaktionsfähigkeit", auch "4x30" genannt, ins Leben: 30 Flugzeugstaffeln, 30 Kriegsschiffe und 30 Infanterie-Bataillone (bis zu 36.000 Soldaten) zuzüglich Unterstützungskräfte will das Militärbündnis bis 2020 in eine Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen oder weniger versetzen; sie sollen damit in der Lage sein, relativ kurzfristig die NATO-"Speerspitze" in einem etwaigen Kampfeinsatz zu unterstützen. Dabei decken sich die Größenordnungen der neuen Stärke der NRF von 40.000 und die voraussichtliche Gesamtzahl von 37.000 beteiligten Soldaten bei Defender Europe 20. Das aktuelle Großmanöver, das de facto am heutigen Donnerstag beginnen soll, ist der erste Testlauf für die neuen NATO-Strukturen.


Anmerkungen:

[1] DEFENDER-Europe 20 Fact Sheet. eur.army.mil.

[2] S. dazu Testmobilmachung gen Osten (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/news/detail/8141/

[3] From the Baltic to Black Seas, Defender Exercise Goes Big, With Hefty Price Tag. breakingdefence.com 16.12.2019.

[4] Professor August Pradetto in einer Vorlesung an der Universität Hamburg am 16.01.2020.

[5] S. dazu Die deutsch-polnische Militärkooperation
https://www.german-foreign-policy.com/news/news/detail/7351/

[6] S. auch Die Militarisierung der Nordsee
https://www.german-foreign-policy.com/news/news/detail/8110/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2020

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